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Andreas Lange: Beobachten, anerkennen und unterstützen

Zur Debatte um Medien in deprivierten Lebenslagen

Schlör, Katrin (2016). Medienkulturen in Familien in belasteten Lebenslagen. Eine Langzeitstudie zu medienbezogenem Doing Family als Bewältigungsressource. München: kopaed. 375 S., 22,80 €.

Derzeit ist an mehreren Adressen des sozialwissenschaftlichen Theoretisierens und der empirischen Arbeit der Vormarsch im weitesten Sinne praxeologischer bzw. praxistheoretischer Ansätze zu vermerken. Diese richten sich zum einen gegen einseitig kausalitätsorientierte Forschungsphilosophien und andererseits kritisieren sie hermeneutische und phänomenologische Ansätze wegen deren vermeintlichen Bedeutungslastigkeit und der Vernachlässigung des konkreten Tuns, nicht zuletzt auch im Medium des Körpers. Im Feld der Medien- und Kommunikationswissenschaften sind diese Ansätze ebenfalls angekommen. An diesen Theoriediskurs setzt die Arbeit von Katrin Schlör konzeptionell an. Insbesondere greift sie eine Reihe von Thesen und Operationalisierungen des Konstrukts des „Doing Family“ auf, die am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München entwickelt wurden.

Thematisch betrachtet reiht sie sich ein in eine länger werdende Kette von Arbeiten, die den Medienumgang von Individuen und Familien von im weitesten Sinn deprivierten Milieus beschreiben. Während diese Auseinandersetzungen oftmals mit dem Gestus von Belehrung und unreflektierter normativer „Mittelschichtkulturtheorie“ (Stichwort „Unterschichtenfernsehen“) geschehen, geht die Autorin den mühsameren Weg einer akribischen Auseinandersetzung mit den Medienkulturen in solchen familialen Konstellationen. Weitere theoretische Leitplanken, entlang derer Schlör ihre empirischen Sondierungen und Analysen fährt, sind unter anderem Bourdieus Habitus-und Kapitalientheorie sowie sozialwissenschaftliche und psychologische Coping- und Bewältigungstheorien. Wissenschaftstheorie tische Basis ihrer Ausführungen ist eine nicht dogmatische und zielführende Orientierung an der Grounded Theory und eine explizit reflexive Haltung zum eigenen Vorgehen. „Die geforderte Reflexion der Forschung wirft einen Metablick auf das eigene Denken und Wirken der Wissenschaftler“ (S. 39).

Ebenfalls kennzeichnend für das empirische Vorgehen ist, dass sehr viel Wert auf die Schaffung von Zugängen zu sozial benachteiligten Familien gelegt wurde. Damit wird die Monographie auch relevant für Diskurse um niedrigschwellige Familienbildung in der Sozialen Arbeit. In die Felderschließung wurde viel Zeit und Gedankenarbeit investiert, was sich letztlich auch in der Tiefe der Forschungsergebnisse widerspiegelt, die nur durch ein vertrauensvolles Klima in den Feldzugängen ermöglicht werden konnten. Das gesamte Forschungsprocedere wird luzide, regelrecht zur Nachahmung anregend, dargestellt und umfasst alle Phasen des Forschungsprozesses bis hin zu den Details der Kodierung. Kernstück der Arbeit sind sowohl subtile Fallanalysen der medialen Praktiken von Familien in belasteten Lebenslagen als auch die Ableitung von Dimensionen des Familienumgangs mit Medien. Als eine Haupterkenntnis in diesem Sinne kann dabei gelten, dass jenseits einer Vielzahl von spezifischen Funktionen, die Medien bezogen auf Individuen und Familien potenziell einnehmen können, als wichtigste Meta-Funktion gewissermaßen, die Alltags- und Lebensbewältigung in und durch Medien herausgearbeitet wird (vgl. S. 239 ff.).

Einbezogen sind dabei ausdrücklich auch Formen der Bewältigung krisenhafter Arrangements und Situationen. Und hier sind es insbesondere die Auseinandersetzung und Moderation mit innerfamilialen sozialen Belastungen, in denen Medien eine gewichtige Rolle einnehmen können. In diesem Zusammenhang erweist sich das Fotografieren und gemeinschaftliche Betrachten der Fotos via unterschiedlicher Medien als identitäts- und gemeinschaftsstiftend (vgl. S. 249). Heuristisch weiterführend sind weitere Einzelbefunde zu medienbezogenen Doing Family-Praktiken wie die Unterscheidung in segregative und exklusive Spielarten des Medienbezugs, die Ausdruck von Familiendynamiken und Autonomiebestrebungen der Kinder darstellen. Die Autorin belässt es nicht bei einer medienwissenschaftlichen Anwendung der praxeologischen Familienkonzeption, sondern entwickelt diese in doppelter Weise weiter: zum einen durch eine Ausdifferenzierung und Verfeinerung der analytischen Dimensionen und Prozesse des Doing Family, zum anderen durch eine Synthese und Integration dieser praxeologischen Sichtweise in und mit weiteren Ansätzen hin zu einer Theorie einer familialen Medienkultur.

Schließlich leitet die Autorin eine Reihe von Impulsen für die lebenslagesensible Bildungsarbeit mit Familien ab: Erwähnt seien hier die Forderung nach mehr intergenerationeller Medienbildungsarbeit; die Forderung nach verstärkt handlungsorientierten und produktiven Methoden; das Plädoyer für die verstärkte Akzeptanz unterschiedlicher familialer Medienkulturen – weil es eben nicht mehr argumentativ begründbar ist, ideale, anderen an den eigenen Normen orientierte Gebrauchsweisen vorzuschreiben.All diese wohl durchdachten Impulse können aber nur greifen, wenn der Familienbildung insgesamt mehr Ressourcen zeitlicher und finanzieller Art zur Verfügung gestellt werden. Eine auf abstrakte Werte abzielende Rhetorik und nicht erreichbare Idealbilder von Familie wirken demgegenüber für die familiale Alltagsbewältigung in schwierigen Lebenslagen, nicht nur was deren Medienumgang betrifft, demotivierend und stigmatisierend zugleich.


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