Andreas Lange und Dagmar Hoffmann: Editorial
Populärkultur und Medien. Ein sozialisatorisches „Konglomerat“
Spielt man rhetorisch Kultur auf der einen Seite und Geld bzw. Ökonomie auf der anderen Seite gegeneinander aus, dann ist das gegenwärtig eine fast so sichere Strategie, Beifall beim geneigten Publikum zu erheischen wie der unsägliche Rekurs auf „die Werte“. Hinter dieser Zusammenhangsvermutung, nach der „das Geld“ „die Kultur“ korrumpiert und insbesondere ökonomische Faktoren eigentlich zu einem massiven Verfall von Kreativität und Authentizität bei den Produzenten von Kinderkulturprodukten und zu passiver und eskapistischer Rezeption beim Publikum führen müssen, steht erstens eine wirkungsmächtige sozialwissenschaftliche Denkrichtung – die kritische Theorie der Frankfurter Schule, die in der „Kulturindustrie“ vor allem auch einen Apparat zur Unterdrückung der arbeitenden Klassen sah.
Auf der anderen Seite wurzelt die Gleichsetzung von ökonomischen Aspekten von Kultur mit Qualitätsverlust in einer mittlerweile überholten Sicht der Rolle medialer und künstlerischer Prozesse für die Entwicklung westlicher Gesellschaften. In Form der Kreativwirtschaft sind diese nämlich längst von einem ‚Sahnehäubchen‘ zu einem wichtigen und lukrativen Feld des Produzierens geworden. Erwerbsmotivation, betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten sowie Marktgesetzlichkeiten können, müssen aber nicht per se zu materiellen wie immateriellen Produkten führen, die den Heranwachsenden wenig eigene Spielräume zur Aneignung lassen oder die sie einseitig beeinflussen und mit schädlichen Verhaltenshabitualisierungen einhergehen. Das Spannende und Herausfordernde an der auch, aber nicht nur von makroökonomischen Verflechtungen mitbestimmten Wechselwirkung zwischen wirtschaftlicher Dynamik im Feld der Populärkultur, gerade derjenigen, die auf Kinder und Jugendliche zielt, und den künstlerischen sowie deutenden Prozessen der Interpretation und Nutzung der Produkte in und für die alltägliche Lebensführung, sind aus unserer Sicht die jeweiligen konkreten Anteile von Kommerzialisierung, Ökonomisierung, Standardisierung versus Eigensinnigkeit, Vielfalt und Nützlichkeit für die individuelle Subjektbildung und Alltagsgestaltung.
Vor dieser Folie geht das vorliegende Themenheft in ausgewählten Ausschnitten dem „Konglomerat“ von Populärkultur und Medien nach. „Konglomerationen“ ist ein Konzept, das von den Innsbrucker Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern Maria Wolf, Bernhard Rathmayr und Helga Peskoller in die zeitdiagnostische Debatte geworfen worden ist. Es umschreibt ein Gefüge der von Individuen erlebten Erfahrungen in spätmodernen Gesellschaften, die trotz ihrer partiellen Widersprüchlichkeit und des vielfältigen Drucks im Alltagsleben so angeeignet werden, dass eine Handlungsfähigkeit im Alltag und Formen der Identität bewerkstelligt werden können „die nicht mehr aus dem Granit traditionaler Rollenbilder gefügt sind, sich aber auch nicht im Geröll moderner Beliebigkeit verlieren, sondern Vielfältiges zu temporären und alltäglichen Festigkeiten zusammenfügen“ (Wolf/Rathmayr/Peskoller 2009).
Im einführenden Beitrag geben Andreas Lange und Dagmar Hoffmann einen Überblick zu wesentlichen Linien des Diskurses um das Spannungsverhältnis von Populärkultur und Medien. Neben Überlegungen zur sozialisatorischen Bedeutsamkeit des „Konglomerats“ befasst sich der Artikel mit den möglicherweise sozialstrukturell bedingten Formen der Aneignung populärkultureller Produkte, die dann entweder zu einer souveränen oder zu einer instrumentalisierenden Subjektivierung sowie zu unterschiedlichen Bildungserfolgen von Kindern und Jugendlichen führen können.
Klaus-Dieter Altmeppen erörtert in seinem Artikel die ökonomischen Mechanismen der modernen Kulturindustrie am Beispiel des Fernsehens. Er expliziert die Strukturen von organisationalen Handlungsfeldern der Unterhaltungsproduktion und klärt darüber auf, unter welchen ökonomischen und kommunikationsstrategischen Voraussetzungen Unterhaltung heute „beschafft“ wird. Aus seiner Sicht werden die Marktmechanismen in sozialwissenschaftlichen Kontexten und in Modellen der Mediensozialisation zu wenig berücksichtigt. Seiner Ansicht nach sollten die häufig subtilen Programmstrategien sowie die damit verbundenen komplexen Marketingaktionen bei der Entwicklung von Mediensozialisationstheorien stärker problematisiert werden. Medienaneignung und Medienproduktion sind für Altmeppen rekursive Prozesse, deren Verständnis als aufeinander bezogenes Medienhandeln nicht allein Marketingfachleuten überlassen werden sollte.
Burkhard Fuhs möchte den Unterhaltungsmarkt differenziert betrachtet wissen. Er plädiert dafür, eine weniger wertende Perspektive auf populäre Kultur einzunehmen, da es den Individuen freigestellt ist, Phänomene populärer Kultur in ihre Lebensführung einzubauen. Eine Akteursperspektive, die nach dem Doing Culture fragt und die die performative Aneignung und Umdeutung massenkultureller Muster in konkreten sozialen Situationen in den Blick nimmt, kann am ehesten die konkrete Sozialisationsrelevanz populärer Kulturphänomene erfassen. „Kinderkultur“ entsteht heute im Spannungsfeld von industriellem Markt, eigenständigen kindlichen Interessen in der Peerkultur und elterlichen (pädagogischen) Bildungs- und Erziehungsnormen. Ziel sollte es sein, eben dieses Spannungsverhältnis von industriellem Markt der Dinge, öffentlicher Diskussion um die Kindheit, elterlichen Bildungs- und Erziehungsnormen und die individuelle sowie peerbezogene Gestaltung der Kindheit durch Kinder selbst in den Blick zu nehmen.
Die Ambivalenzen des Populärkulturellen werden im Beitrag von Anna Seidel sehr deutlich, die sich mit den Potenzialen nicht-kommerzieller Medienproduktionen und deren Aneignung beschäftigt. Sie stellt die im Jahre 2008 gegründete ‚alternative‘ Frauenzeitschrift Missy Magazine vor, die „Popkultur für Frauen“ darstellen und vor allem mit einer emanzipierten Haltung und feministischen Orientierung verbinden möchte. Im Missy Magazine wird über Themenbereiche wie Medien, Mode, Sexualität und Politik in einer Art und Weise berichtet, die es erlaubt, die Ideologien, Diktate und Normvorgaben konventioneller Frauenzeitschriften zu dekonstruieren.
Das Missy Magazine ist als gegenöffentliches Angebot auf dem bestehenden Zeitschriftenmarkt zu betrachten. Welche Potenziale, welche Reichweiten und kulturelle Einflüsse widerständige, gegenöffentliche Angebote haben bzw. haben können, werden im Interview mit einer der Herausgeberinnen des Missy Magazines, Chris Köver, veranschaulicht. Wie diese komplexen Einsichten und Positionen zum Konglomerat Populärkultur und Medien ohne den pädagogischen Zeigefinger zu überdehnen umgesetzt werden können, skizziert Sabine Sonnenschein anhand des Onlinemagazins für junge Medienkritik des Projekts Spinxx. Hier wird eine bemerkenswerte Kombination aus kritisch-analytischer, auch auf medienökonomische Fakten eingehender Medienarbeit und produktiver Medienarbeit praktiziert.
Zudem realisiert das Projekt eine Maxime der neueren Kindheitsforschung beispielhaft – die Perspektiven der Kinder durch unterschiedlichste Beteiligungsmodelle ‚sprechen‘ zu lassen.
Rathmayr, Bernhard/Peskoller, Helga/Wolf, Maria (2009). Theoretische Konturen alltagspraktischer Absicherung: Das Konzept der Konglomerationen. In: dies. (Hrsg.). Konglomerationen – Produktion von Sicherheit im Alltag. Bielefeld, transcript: S. 7-31.
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