Bernd Schorb und Swenja Wütscher: Der Diskurs um Medien und Werte ist weiter zu fassen
Editorial
Die Debatte um Werte und Medien begleitet die Gesellschaft und speziell die Pädagogik seit dem Aufkommen der sogenannten Massenmedien. Im Mittelpunkt stand und steht noch immer die Annahme, dass problematische, insbesondere gewalthaltige Medieninhalte von Heranwachsenden angeeignet und als Orientierungen in das eigene Wertesystem übernommen werden. Da in demokratischen Industriegesellschaften Konsens herrscht, personale Gewalt zu ächten und diese – neben der Pornografie – als Unwert anzusehen, wurden Mittel und Wege gesucht, solche negativen Orientierungen, so sie durch Medien vermittelt werden, unschädlich zu machen bzw. ihre möglichen Wirkungen zu minimieren. Eine umfassende Zensur der Medien steht allerdings im Widerspruch zu demokratischen Grundprinzipien, daher wurde ein eigenes Instrument entwickelt: der Jugendmedienschutz, mit dem verhindert werden soll(te), negativ bewertete Medieninhalte Jugendlichen zugänglich zu machen. Dieses Instrument wurde im Prinzip bis heute erhalten.
Auch die öffentliche Auseinandersetzung über Medien und ihre Inhalte beschäftigt sich bis heute mit negativen über die Medien vermittelten Orientierungen. Bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts ließ sich das Instrument des Jugendmedienschutzes mit mehr oder minder großem Erfolg auch anwenden, denn die Produktion wie die Produzentinnen und Produzenten audiovisueller und gedruckter Medien waren überschaubar. Den Medienproduzierenden wurden inhaltliche Vorgaben gemacht, sie wurden kontrolliert, Verstöße wurden sanktioniert. Heute stehen wir vor einer neuen Situation. Die Medien sind nunmehr parziell Mittler vorproduzierter Information und Unterhaltung. Sie sind integrierter Bestandteil aller Lebensbereiche. So hat sich das Internet innerhalb von wenigen Dekaden zu einem alle Bereiche des Alltags bestimmenden Bestandteil des Lebens entwickelt und hat zugleich die klassischen Medien aufgesogen. Medien sind nicht mehr nur Massenkommunikation mit Inhalten, die von der bewusstseinsproduzierenden Industrie (vgl. Adorno 1996) für ein Massenpublikum hergestellt und distribuiert werden, sondern Bestandteil jedweder Kommunikation zwischen Menschen und Menschen, zwischen Menschen und Medien sowie zwischen Medien und Maschinen. Medien sind also nicht mehr einseitig ausgerichtet als Mittler an Menschen, sondern zentrale Vermittlungsinstanz zwischen Menschen. Als interaktives Medium vermittelt das Internet seine Daten an sie und erlaubt es ihnen zugleich, in vorgegebenen Rahmen selbst Daten zu generieren, Informationen zu schaffen und an andere weiterzuvermitteln, die zugleich selbst agieren und auf die gesendeten Informationen reagieren können. Medien vermitteln nicht mehr nur Werte, sondern erlauben es den Menschen selbst auch, Werte zu kommunizieren.
Wir sind nahe am einst geforderten Ideal, aus Medienkonsumentinnen und -konsumenten Medienproduzentinnen und -produzenten (vgl. Brecht 1976; Enzensberger 1976) zu machen und zugleich auf dem Weg zum globalen Dorf (vgl. McLuhan 1962) in dem jede bzw. jeder mit jedem in Kontakt treten kann. Mit der Globalität des Internets sind zugleich die nationalen Medienproduzentinnen und -produzentenin den Hintergrund gerückt worden. Das Internet wird beherrscht von einer internationalen Industrie, die inzwischen zur größten dieser Welt geworden ist. Da diese Industrie sich hauptsächlich durch Werbeeinnahmen finanziert, benötigt sie möglichst viele Informationen über ihre Nutzerinnen und Nutzer. Da sie zugleich potenziell Zugriff auf alle Daten des Netzes hat, kann sie die Kommunikation der Menschen im Netz erfassen und daraus virtuelle Abbilder derselben generieren. Zugleich kann sie die Inhalte, die im Netz verbreitet werden, nicht nur schaffen, sondern auch kontrollieren. Mit den Internetnutzerinnen und -nutzern tritt sie in ein Tauschverhältnis. Die Industrie offeriert den kostenfreien Gebrauch ihrer Dienste gegen die Erfassung und Verarbeitung der erwünschten persönlichen Daten. Dieser Tauschakt tangiert in besonderer Weise einen Wert, den sich die Menschheit beim Verlassen des Mittelalters erkämpft hatte, die Unverletzlichkeit der Persönlichkeit bzw. das vom Bundesverfassungsgericht so benannte Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Privatsphäre verschwindet, der Mensch wird gläsern. Da der offerierte Tauschhandel von einer großen Mehrheit der Mediennutzerinnen und -nutzer gegenüber dem Verlust der Privatsphäre als ‚wertvoller‘ empfunden wird, verschwindet der Wert der informationellen Selbstbestimmung, verliert seine gesellschaftliche Verbindlichkeit. Hier ist die Umwidmung eines Wertemusters eine unmittelbare Folge der Medienentwicklung.
Auch an einem zweiten Beispiel lässt sich das Verschwinden bzw. die Verschiebung von Wertemustern beobachten: Der Jugendmedienschutz, der über Jahrzehnte die Medienentwicklung begleitet und in einem gewissem Umfang auch reguliert hat, wird obsolet. Das liegt zum einen daran, dass mit der Zunahme von medialen Angeboten diese kaum noch überschaubar und damit kontrollierbar sind. Zum anderen ist die Medienindustrie zu einer solch ökonomischpolitischen Macht geworden, dass sie an der Realisierung jugendschützerischer Maßnahmen beteiligt wird. So werden die entsprechenden Gesetze und Vorschriften so komplex und zugleich umfänglich und dem juristischen Laien unverständlich formuliert, dass sie möglichst der technischen Vielfalt medialer Verbreitung und der Vielzahl der Verbreitenden gerecht werden. Das führt beispielsweise dazu, dass sich die zuständigen Bundesländer seit Jahren nicht auf eine Neufassung des Jugendmedienschutzstaatsvertrages einigen können. Und die Kontrolle über die medialen Inhalte – laut Grundgesetz eine Aufgabe des Staates – wird an die Medienanbieterinnen und -anbieter abgegeben. Mit dem Konstrukt der ‚regulierten Selbstregulierung‘ wird den Produzentinnen und Produzenten von Medieninhalten die Kontrolle über diese Inhalte übergeben – unter Aufsicht einer halbstaatlichen Kommission, die aber nicht in die Inhaltskontrolle eingreift. Die zu beaufsichtigenden Werte wie Unwerte können damit in ihrer inhaltlichen Valenz und Ausgestaltung von der Medienindustrie (mit-) bestimmt und gewandelt werden.
Schließlich erhalten die Medien einen entscheidenden Einfluss auf die Wertevermittlung. Sie sind zu einer bedeutenden Instanz der Sozialisation nicht nur der Heranwachsenden geworden. Die dominanten Sozialisatoren Elternhaus, Schule, Kirchen, Gewerkschaften et cetera haben bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts Normen und Werte bestimmt, an denen sich die Heranwachsenden direkt und die gesellschaftlichen Institutionen inklusive der Medien indirekt ausgerichtet haben. Die klare Normierung durch die klassischen Sozialisationsinstanzen ist verlorengegangen, an ihre Stelle ist ein Wertepluralismus getreten. Für die Menschen bedeutet dies, dass sie sich im Positiven wie Negativen nicht mehr an gesetzten Normen orientieren können, sondern sich ihre Orientierungen selbst suchen müssen. Hier bietet das Internet einen Raum, in dem alle Wertemuster auffindbar sind, nicht mehr hierarchisiert und allgemein verbindlich, sondern gleichwertig nebeneinander gestellt und in vielfarbigen Schattierungen. Es wird zur besonderen Leistung der Menschen, sich nicht mehr am Vorgegebenen durch Zustimmung oder Abgrenzung auszurichten, sondern die dargebotenen Wertemuster mit eigenem Handeln und Vorstellungen abzugleichen und mit den Normen, die in der sozialen Umwelt herrschen, zu vereinbaren. Welche Werte aus der Vielfalt des Angebotes gewählt, welche befolgt werden und welche sich gesellschaftlich durchsetzen, lässt sich von außen kaum absehen. Das in der Sozialpsychologie gebräuchliche Bild einer personalen Identität als Bricolage aus diversen Vorgaben der sozialen Umwelt fasst die Unbestimmbarkeit der Wertsetzungen. Insbesondere die Medien sind heute Träger der Vorgaben, aus denen sich die Menschen ihr eigenes für sie bestimmendes Wertemuster zusammentragen müssen.
Die beschriebenen Einflüsse der Medien auf die Wertedebatte in unserer Gesellschaft sind bislang eher unverbundene Beobachtungen. Die Frage nach den Verschiebungen der Wertemuster in der Gesellschaft lässt sich damit keineswegs beantworten. Lediglich Phänomene können gesehen und ihre Folgen herausgearbeitet werden. Dieser Diskurs über Werte, Medien, Subjekt bzw. Gesellschaft wird in der vorliegenden Ausgabe von merz angerissen. „Aus der Tatsache, dass Menschen einen bestimmten Wert akzeptieren, folgt nicht, dass er für alle Menschen gelten muss.“ Matthias Rath beschreibt die historische Genese von Werten und ihre Veränderung unter den Bedingungen einer mediatisierten Gesellschaft, indem er dem klassischen Konzept der Vermittlung eines festen Wertekanons die Vermittlung kritischerWerturteilskompetenz gegenüberstellt. Der Medienpädagogik wird damit die Aufgabe zuteil, mediale Handlungsorientierung zu beurteilen und die unterschiedlichen Wertangebotekompetent abzuwägen. Thomas Merz führt aus, dass sich diese ethische Reflexion keinesfalls auf einzelne Medienprodukte oder -inhalte beschränken darf. Vielmehr gehört ethische Kompetenz untrennbar zur Medienbildung. Er zeigt auf, wo ethische Reflexion in Bezug auf Medien in der Primarstufe und Sekundarstufe I notwendig ist und wie sie umgesetzt werden kann. Was beispielsweise müssen Jugendliche wissen, was können sie wissen und was sollten sie auf Social Media weiterverbreiten? Anja Hartung zeichnet nach, wie sich der Freundschaftsbegriff kulturhistorisch herausgebildet hat. Heute ist Freundschaft in den Social Networks zu sozialem Kapital geworden, mit dem im Identitätsprozess der Erwerb von Anerkennung verbunden ist.
Dass Freundschaft weiterhin einen von Jugendlichen angestrebten Wert hat, eröffnet einerseits Möglichkeiten der Förderung medienethisch kritischer Fähigkeiten und andererseits die Selbstbestimmung des Wertes von Freundschaft in einer vernetzten Welt. Bernd Schorb versucht im Gespräch mit Thomas Krüger die Bedeutung der Medien für eine Bestimmung politischer Werte und die Verortung der Menschen in diesem Prozess zu eruieren. Krüger macht deutlich, dass die Vermittlung von Werten eine zentrale Aufgabe politischer Bildung ist. Er kritisiert die Vernachlässigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und die Wertevermittlung von globalen Medienunternehmen. An Beispielen veranschaulicht er die Bedeutung medienpädagogischer Arbeit zur Vermittlung und Verankerung demokratischer Werte. Wie wichtig eigene moralische Orientierung für Jugendliche ist, zeigen Rudolf Kammerl, Michaela Hauenschild und Anja Schwedler mit ihrer Untersuchung von jugendlichen Onlinespielerinnen und -spielern. Mit Dilemma-Interviews haben sie erforscht, wie sich Entgrenzungsphänomene im Kontext der Nutzung von Online-Spielen darstellen, auf welche Weise Jugendliche sich diesen gegenüber verhalten und wie sie ihre Entscheidung begründen: von „Wenn’s ne langweilige Aufgabeist, spiel ich lieber was“ bis „Weil Real Life ist halt wichtiger“.
Abschließend stellen Kathrin Demmler, Christa Gebel, Mareike Schemmerling und Swenja Wütscher die enge Verbindung von Werte- und Medienkompetenz heraus. Anhand von Projektbeispielen wie ICH WIR IHR im Netz erläutern sie die Prinzipien und Potenziale medienpädagogischer Arbeit mit dem Ziel, das Wertebewusstsein von Heranwachsenden zu fördern. „Werte sind [...] nicht ein beliebiges Thema für die Medienpädagogik, sondern zentrale Aufgabe und Herausforderung für alle Fachkräfte.“ Die Trias Jugend – Werte – Medien hat Konjunktur. Angesichts der gesellschaftlichen und medienpädagogischen Diskussion um Wertevermittlung, -verschiebung und -verlust sowie der Verunsicherung über die Omnipräsenz und -potenz von Medien ist sie so aktuell wie nie. Gleichzeitig wird der Diskurs aber noch lange weiterzuführen sein, da die noch keineswegs abgeschlossene Entwicklung der Medien weitere zusätzlich zu beachtende Aspekte einbringen wird.
Literatur:
Adorno, Theodor W. (1996). Eingriffe. Neun kritische Modelle (1963). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Brecht, Bertolt (1976). Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. In: Prokop, Dieter (Hrsg.), Massenkommunikationsforschung. Band 1: Produktion. Frankfurt/M.:Fischer.
Enzensberger, Hans Magnus (1976) Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Prokop, Dieter (Hrsg.), Massenkommunikationsforschung. Band 2: Konsumtion. Frankfurt/M.:Fischer.
McLuhan, Marshall (1962). The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man. Toronto: University of TorontoPress.
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