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"Ein Bewusstsein dafür bekommen, wie politisch das Private ist"

Ein Interview mit Mareice Kaiser, www.kaiserinnenreich.de

Seit 2014 betreibt die Journalistin Mareice Kaiser das Blog „Kaiserinnenreich", auf dem sie über ihr Leben als Mutter von zwei Töchtern, mit und ohne Behinderung, über Inklusion sowie nunmehr auch über Trauer und Trauerbewältigung berichtet. Das inklusive Familienblog wurde 2016 bei den „Goldenen Bloggern“ als Bestes Tagebuch-Blog ausgezeichnet. Im Gespräch mit Dagmar Hoffmann berichtet Mareice Kaiser über ihre Erfahrungen, über Ansprüche an ein kreatives und ansprechendes Blog sowie über allgegenwärtige strukturelle Diskriminierungen.

merz: Du hast deinen Blog vor zwei Jahren eingerichtet mit dem Titel ‚Das inklusive Familienblog‘. Was genau war deine Intention?

Kaiser: Ich glaube, es hieß damals Kaiserinnenreich: Unser Leben zwischen Krankenhaus und Kita. Ich hatte nämlich noch gar nicht auf dem Schirm, was Inklusion eigentlich bedeutet und was wir als Familie damit eigentlichzu tun haben. Das ist irgendwann später entstanden, macht aber gut anschaulich, was in der Zwischenzeit mit mir passiert ist.

 

merz: Welches Ereignis hat dazu geführt, dass du irgendwann entschieden hast, dass es für dich ein inklusives Familienblog ist?

Kaiser: Ich bin mir gar nicht sicher, ob es das über¬haupt ist. Mittlerweile bin ich noch einen Schritt weiter und denke: Nur weil ich eine behinderte Tochter hatte, habe ich noch lange nicht das Recht, das Wort Inklusion für mich gepachtet zu haben. Aber ich glaube, die Umbenennung in ein ‚inklusives Familienblog‘ war in dem Moment, als ich so eine Ahnung hatte, wie eine inklusive Gesellschaft aussehen kann und wie viele unterschiedliche Menschen davon profitieren können. Unter anderem auch wir, als Familie mit einem behinderten Kind. Ich bin einfach Fan von dem Wort Inklusion und vor allem von seinem Wortsinn geworden – und fand es schön, es als Blickfang auf meinem Blog zu haben.

 

merz: Weißt du etwas über die Leserinnen und Leser deines Blogs?

Kaiser: Es gibt viele Menschen, die Blogs gründen, damit ein Marketingziel verfolgen und ganz genau wissen, woher die Leserschaft kommt. Das ist bei mir anders. Ich schaue ungefähr alle zwei Monate mal, wie viele Leute meine Texte gelesen haben und freue mich darüber. Ich bekomme Kommentare auf Blog-Artikel und viele Mails – übrigens von viel mehr Frauen als Männern. Am Anfang dachte ich, dass sich viele Eltern behinderter Kinder mel-den. Das passiert auch, aber in der Relation nicht viel mehr als andere Menschen, die bisher keinen Kontakt zu behinderten Menschen in ihrem Leben hatten und für die mein Blog eine Horizonterweiterung war. Auch Menschen, die mit behinderten Kindern oder behinderten Menschen arbeiten, haben mir zurückgemeldet, dass sie einen ganz neuen Blick auf ihre Arbeit bekommen haben. Und dann melden sich Frauen, die schwanger sind bzw. werden wollen. Sie haben mir viele Rückmeldungen gegeben, dass meine Texte sie dazu bewegt haben, neu über Pränataldiagnostik nachzudenken. Oder ein konkretes Beispiel, was mich sehr bewegt hat: Eine Frau, die ein Kind bekommen hatte, welches nur zehn Wochen gelebt hat. Sie wusste nicht, wie lange es leben würde – und in den zehn Wochen musste sie sich damit auseinandersetzen, vielleicht mit einem schwerbehinderten Kind zu leben. Mein Blog hat ihr geholfen, mit dieser Vorstellung zu leben. Es gibt noch andere Beispiele – und genau die waren für mich immer ein Grund weiterzuschreiben, auch wenn ich zwischendurch daran gezweifelt habe.

 

merz: Du kommst aus dem journalistischen Bereich und hast schon viele Kompetenzen mitgebracht. Was denkst du muss man für Eigenschaften haben, um einen Blog zu führen und wie aufwändig ist die Gestaltung?

Kaiser: Je nachdem wie perfektionistisch man veranlagt ist, kann man es mit ganz einfachen Mitteln machen. Es gibt unterschiedliche Systeme zum Bloggen, so dass man auch mit wenig Technikwissen selbst einen Blog starten kann. Als meine nicht-behinderte Tochter geboren wurde, hatte ich mich mehr mit Elternblogs beschäftigt und mich mit den Themen, die ich mit ihr hatte, wiedergefunden. Aber nicht mit den Themen, die ich dann noch extra mit meiner behinderten Tochter hatte. Die Blogs, die ich dafür gefunden hatte, waren mir zu sehr auf das Thema Behinderung spezialisiert. Und sie sahen leider für mich auch ganz oft so aus, wie sich viele Menschen Behinderung vorstellen: uncool. Ich wollte einfach gerne, dass mein Blog das widerspiegelt, was ich im Alltag mit meiner behinderten Tochter erlebt habe. Wenn ich von ihr erzählt oder ihre Diagnosen aufgezählt habe, dann waren immer alle total geschockt. Wenn sie aber meine Tochter gesehen haben, haben sie gesagt „die ist total süß und hübsch und so liebenswert“ – was natürlich überhaupt nicht im Gegensatz zu einer Behinderung steht. Ich wollte auf meinem Blog zeigen, dass auch ein behindertes Kind cool ist und auch der Blog von einer Mutter eines behinderten Kindes cool sein kann. Von daher hatte ich an mich selbst hohe Ansprüche, als ich mein Blog gestartet habe. Die resultierten auch daraus, dass ich schon vorher als Social Media-Redakteurin gearbeitet und andere Blogs konzipiert habe – und jetzt nicht irgendwas starten wollte. Natürlich ist es gut, wenn man dann bekannter werden möchte, wenn man auch auf anderen Social Media-Kanälen unterwegs ist. Das bin ich sowieso schon gewesen, weil ich indirekt seit 2001 online publiziere. Ich glaube aber, das Einzige, was man mitbringen muss, ist sowas wie ein Sendungsbewusstsein und ein Thema. Das habe ich eben mit meiner behinderten Tochter quasi in den Schoß gelegt bekommen. Seitdem sie tot ist, habe ich gar nicht mehr das große Bedürfnis noch weiter zu erzählen. Für mich persönlich reicht jetzt dieses ‚normale‘ – in Anführungszeichen – Familienleben nicht mehr zum Schreiben aus. Ich finde es spannend, über Trauer und Tod im Internet zu lesen und vielleicht ab und zu mal was dazu zu schreiben. Aber das eigentliche, für mich auch politische Thema, das bleibt – ich habe bloß aus dem Alltag nicht mehr so viel dazu zu erzählen. Da muss ich jetzt gerade gucken, in welche Richtung es gehen kann.

 

merz: Gab es andere Bloggerinnen und Blogger, die deine Arbeit beeinflusst haben?

Kaiser: Ich hab mich immer so eher als Außenstehende (im besten Sinne) von zwei digitalen Filterblasen gefühlt: Auf der einen Seite die Familienblogger, auf der anderen Seite die Inklusionsblogger. Ich war bei den Inklusionsbloggern das Anhängsel, weil ich nicht selbst behindert bin, und hatte bei den Elternbloggern die Außenseiterrolle, weil ich eben eine behinderte Tochter habe – und dadurch natürlich auch ein paar extra Themen. Ich fand es aber schön, sowohl in der einen als auch der anderen Filterblase wirklich herzlich begrüßt zu werden und von vielen Menschen lernen zu können. Aber es gab nicht die Bloggerin oder den Blogger. Gleichzeitig lese ich unheimlich gerne Blogs, in denen es nicht um Familie oder Behinderung geht, sondern um Musik, Bücher, das Leben, Politik, Gesellschaft. Was für mich selbst eine Horizonterweiterung war, waren Blogs von behinderten Menschen, vor allem von behinderten Frauen, zu denen ich mittlerweile oft auch persönlichen Kontakt habe. Denn das ist spannend, wenn man vor jemandem sitzt, ungefähr im gleichen Alter. Eine Frau, die irgendwie so tickt wie ich selbst, einfach wie eine Freundin, und gleichzeitig bin ich aber eben die Mutter, die über ein behindertes Kind schreibt und sie selbst ist quasi das behinderte Kind und hat auch eine Beziehung zu ihrer Mutter ... Es gab da viele spannende, Horizont erweiternde Gespräche, vor allem mit Anastasia Umrik, die mittlerweile auch eine Freundin von mir geworden ist. Ich weiß nicht, ob ich eine solche Begegnung gehabt hätte, wenn ich meinen Blog nicht gestartet hätte, und letztendlich ist das dann auch eine schöne Rückmeldung, von so jemanden eine Wertschätzung zu erfahren.

 

merz: Was hat der digitale Austausch oder auch die Präsenz mit dir und deiner Familie gemacht?

Kaiser: Auf jeden Fall habe ich daraus ganz viel gelernt: Zum Beispiel, was Diskriminierung bedeutet. Durch den digitalen Austausch ist mir erst bewusst geworden, wie viel Diskriminierung wir erlebt haben als Familie mit einem behinderten Kind. Bewusst war mir das schon vorher, aber ich konnte es nicht so richtig artikulieren. Vor allem auch, was strukturelle Diskriminierung angeht. Durch Kontakte zu anderen Bloggerinnen und Bloggern – nicht nur aus dem Behindertenkontext – habe ich viel gelernt, beispielsweise aus Blogs über Rassismus. Einfach ein Bewusstsein dafür bekommen, wie politisch das Private ist. Also, dass es tatsächlich eine politische Relevanz hat, was wir erleben bzw. erlebt haben: rund um die Beantragung von Hilfsmitteln, dass Hilfsmittel für behinderte Menschen von der Krankenkasse abgelehnt werden und viele einfach gar nicht wissen, dass sie Widerspruch einlegen können. Wenn ich solche Sachen aufgeschrieben und darauf Reaktionen bekommen habe und gesehen habe, dass wir kein Einzelfall sind, sondern dass es mindestens jeder zweiten Familie mit einem behinderten Kind so geht, sind das so Momente, in denen man sich fragt: Okay, wo ist denn jetzt die Gesellschaft? Und genau an diesen Punkten zeigt sich, dass sie behinderte Menschen eigentlich nicht will und sie ausschließt. Das hätte ich ohne das Internet auch erlebt, aber sehr viel schwächer in der politischen Dimension.

 

merz: Gab es auch Reaktionen, die du auf gar keinen Fall veröffentlichen wolltest auf deinem Blog?

Kaiser: Die behindertenfeindlichen Teile der Gesellschaft sind auch im Internet. Ich habe auch einige verletzende und diskriminierende Kommentare bekommen. Die meisten habe ich nicht freigeschaltet. Ab und an habe ich mich dazu entschieden sie zu veröffentlichen und fand es dann schön zu sehen, dass die Leserschaft, die ich dann schon hatte, das quasi selbst geregelt hat. Letztendlich tut es dann auch nicht mehr so weh.

 

merz: Gab es Momente, in denen du das Schreibensein lassen oder abbrechen wolltest?

Kaiser: Immer wieder. Die positiven Momente überwiegen aber. Ich glaube, der deutlichste Moment war nach dem Tod meiner Tochter. Ich hatte auf meinem Blog veröffentlicht, dass sie gestorben ist und dann gab es eine sehr große Anteilnahme, auch über das Netz hinaus. Alles, was im Netz passiert ist, war für mich in Ordnung, aber als es die Grenzen des Internet überschritten hat und auf einmal eine dpa-Nachricht wurde, war es zu viel. Es wurde ohne meine Zustimmung ein Foto von meiner Tochter und mir veröffentlicht. Da war für mich die Grenze eindeutig überschritten. Ich hatte ein Gefühl von Kontrollverlust. Gleichzeitig – mit etwas Abstand – ist es natürlich auch die Quittung dafür, dass ich mit meinen Texten Nähe erzeuge. Wobei das das ekelhafte Verhalten inklusive Urheberrechtsverletzung der Zeitung natürlich nicht rechtfertigt. Das war aber wirklich der einzige Moment, wo ich dachte, ich mach nicht weiter. Ansonsten erzeugt Kritik bei mir eher Power nach vorne, à la ‚jetzt erst Recht‘.

 

merz: Du hast nach dem Tod deiner Tochter eine Zeit lang pausiert. Dann gab es große Resonanz und Freude, als du wieder präsent warst. Hast du dich verpflichtet gefühlt, dich wieder zu zeigen?

Kaiser: Ich wünsche mir, dass Tod und Trauer auch Themen sein können, über die wir miteinander sprechen, so dass ein Rückzug für mich eine falsche Reaktion gewesen wäre. Gleichzeitig ist aber Trauer auch keine Situation, in der man öffentliche Entscheidungen treffen möchte. Also war es schwierig – und ist es auch weiterhin schwierig für mich. Den genauen Weg für mich suche ich gerade noch.

 

merz: Der Tod eines geliebten Menschen ist immer schmerzlich. Ein Kind zu verlieren fordert nochmal ganz anders, nicht wahr?

Kaiser: Zum Leben gehört eben auch Tod dazu und bei einem Leben mit Behinderung ist das vielleicht ein noch präsenteres Thema – oft, nicht immer. Ich habe mich irgendwann dazu entschieden, dieses Thema öffentlich zu machen und wie es jetzt zukünftig weitergeht, weiß ich nicht bzw. weiß ich schon ein wenig, weil ich auch ein Buch geschrieben habe, das in diesem Jahr veröffentlich wird.

 

merz: Ein Buch über deinen Blog?

Kaiser: Über meinen Weg als Mutter einer behinderten Tochter, die arbeitet und weitere Themen um Inklusion und Feminismus entdeckt. Es gibt im Buch kleine Ausschnitte vom Blog, aber auf 256 Seiten erzähle ich natürlich anders als in Posts.

 

merz: Hast du eine Wunschvorstellung, wohin es mit dem Blog gehen soll?

Kaiser: Ich würde mir wünschen, dass es ein Ort ist, an dem Eltern behinderter Kinder und alle Interessierten eine Horizonterweiterung und einen Perspektivwechsel erfahren können. In einer Porträt-Reihe stelle ich andere Mütter behinderter Kinder vor. Als Journalistin setze ich gern Menschen in Szene und lasse sie erzählen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass das Kaiserinnenreich vielleicht in ein oder zwei Jahren eine Plattform ist, auf der Mütter behinderter Kinder aus ihrem Alltag berichten; dass es mehrstimmiger wird. Ich sehe mich nicht als Vorbild und meine nicht, dass andere Mütter behinderter Kinder es so machen sollen wie ich. Ich denke einfach, dass es wichtig ist, dass Mütter behinderter Kinder sprechen können und Gehör bekommen.

Mareice Kaiser, 1981 geboren, lebt als Journalistin und Autorin in Berlin. Sie schreibt über Inklusion, Geschlechtergerechtigkeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf unter anderem für das MISSY Magazine und die taz. Im November erscheint ihr erstes Buch Alles inklusive im S. Fischer Verlag.Das Interview führte Dagmar Hoffmann.


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