Elisabeth Jäcklein-Kreis: Verschläge, Erdlöcher, Kleiderschränke
Geschichten vom Verstecken
Sie liegen in Scheunen, auf Dachböden, in Verschlägen über dem Stall oder unter der Treppe oder in Bunkern. Manchmal auf Dörfern, manchmal mitten in der Stadt. Manchmal haben sie einen Decknamen und können sich im ganzen Dorf bewegen, weil alle dicht halten, manchmal dürfen sie aber auch nur nachts aus ihrem Verschlag spitzen, damit niemand Verdacht schöpft. Bisweilen sind sie in netten Familien, die sich liebevoll kümmern, bisweilen bei geldgierigen Menschen, die sie wie Sklaven behandeln, hungern lassen und vielleicht sogar ausliefern. Manchmal sind sie alleine, manchmal mit ihren Familien zusammen ... Die Rede ist hier nicht von Spionen oder Gangstern – sondern von Kindern und Jugendlichen, die alle das gleich Schicksal teilen: Sie gerieten während des zweiten Weltkrieges ins Visier der Nazis und mussten sich versteckt halten. Versteckt wie ihre berühmteste Leidensgenossin, Anne Frank.
23 Geschichten von jüdischen Mädchen und Jungen, die während des zweiten Weltkrieges in den Niederlanden untertauchten, um dem sicheren Tod zu entkommen, haben Marcel Prins und Peter Henk Steenhuis gesammelt, haben mit den Menschen gesprochen und ihre Lebenswege aufgezeichnet und alles in dem Buch Andere Achterhuizen. verhalen van Joodse onderduikers gesammelt und veröffentlicht. Daraus entstand später die gleichnamige, niederländische Homepage und seit Kurzem gibt es die bewegenden Geschichten auch auf Deutsch, Dank der Übersetzung von Sybille Krumpl und einer Förderung durch die Botschaft des Königreichs der Niederlande und das Anne Frank Zentrum in Berlin: I>www.verstecktwieannefrank.de. Die Seite kommt schlicht daher: Eine schwarze Linie kennzeichnet die geografischen Umrisse der Niederlande, darin sind einige Punkte verstreut, darüber nur drei Links: „Inhaltsverzeichnis“, „Das Buch“ und „Über diese Seite“. Fährt man mit der Maus über die Karte, werden die Punkte bunt, gestrichelte Linien dazwischen erscheinen und kleine Strichzeichnungen tauchen neben den Punkten auf. Sie markieren wichtige Stationen im Leben der 23 vorgestellten Personen. Per Klick gerät man dann jeweils zu den Lebensgeschichten: Die sind in Form von Gedächtnisprotokollen mit vielen Zitaten und einigen Erklärungen dazwischen aufgeschrieben und werden von Fotos der zitierten Personen veranschaulicht. Einige zentrale Erlebnisse oder Momente jeder Geschichte werden audiovisuell präsentiert: als kleine Animationsfilme, die auf Strichzeichnungen basieren. Zu den schlichten bewegten Bildern werden die Geschichten vorgelesen – im niederländischen Original von den tatsächlichen Zeitzeugen, in der deutschen Version von Synchronsprechern. Das ist alles nicht sehr spektakulär, es gibt keine Effekte, keine aufwändigen Filme, keine auf die Tränendrüse drückende Musik und keine Mitleid heischenden Texte. Stattdessen aufs Wesentliche reduzierte Strichzeichnungen und unaufgeregt vorgelesene Gedächtnisprotokolle. Dennoch, oder aber gerade deshalb, sind die Geschichten authentisch und berührend. Die ehrlichen kleinen Geschichten sind so persönlich erzählt, dass man sich tatsächlich auf den Teppich vor einen Schaukelstuhl versetzt fühlt und andächtig lauscht, die auf das Wichtigste beschränkten Zeichnungen, die auf alle stören-den Elemente verzichten, bisweilen nur mit Umrissen und Andeutungen arbeiten, lassen genügend Raum, sich selbst in die Situationen zu versetzen – und zeichnen dennoch, gerade in ihrer klaren, unbeschönigenden schwarz-weiß Optik die Drastik der Situationen.
So entführt die Seite auf sehr nüchterne und sachliche Art und doch sehr ergreifend und aufwühlend in eine Zeit und ein Leben, das heute – zum Glück – für viele unvorstellbar ist. In geheime Kammern, in denen man mit angehaltenem Atem sitzen und hoffen muss. Auf dunkle Straßen, durch die man sich mit allem Hab und Gut unterm Arm schleichen muss. In ungewisse Stunden, die man zwischen Hoffen und Bangen ertragen muss. Das nimmt mit und führt die schrecklichen Ereignisse des zweiten Weltkrieges mit ganz neuer, da sehr persönlicher und sehr authentischer Heftigkeit vor Augen, ohne vordergründig moralisierend oder erzieherisch sein zu wollen. Es gibt aber auch viel Grund zum Lächeln und Aufatmen, weil es zugleich die andere Seite zeigt: Die vielen Menschen, die sich nicht vereinnahmen ließen von Ideologien, sondern sich widersetzten und auf ihre je eigene Art gegen das Regime kämpften, indem sie Kinder und Familien aufnahmen, ihnen zur Flucht verhalfen oder sich Untergrundbewegungen anschlossen. So ist die Seite durch ihre behutsame Aufmachung schon für jüngere Kinder – hier natürlich in Begleitung eines Erwachsenen, denn die Inhalte bleiben schwer verdaulich –, aber auch für alle anderen Altersgruppen ein wahres Juwel, mit dem man sich diesem oft überstrapazierten Thema auf erfrischend besonnene Art und doch ganz intensiv nähern kann. Wer bereits gut informiert ist, wird hier eine ganz neue Facette des Themas entdecken können, wer erst beginnt, sich damit auseinander zu setzen, kann die Seite dank vieler Links in den Texten auch gut als Startpunkt nutzen. Zwar führen auch die Links natürlich auf niederländische Seiten (in englischer Sprache), bieten aber trotzdem viel Interessantes. Die übersichtliche Aufbereitung hilft zudem, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und macht es einfach, sich ganz intuitiv zurecht zu finden. Hier können nicht nur Erwachsene sondern auch Kinder und Jugendliche, Projektgruppen und Schulklassen eintauchen in eine spannende Welt voller berührender Geschichten – aus der man gar nicht so leicht wieder auftaucht.
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