Gefällt mir nicht!
Manchmal wache ich nachts schweißgebadet auf, taste panisch meine Gliedmaßen ab und durchwühle hektisch die Post, gefasst auf Freundschafts- Kündigungen, Morddrohungen und horrende Rechnungen, die meinen finanziellen Ruin bedeuten. „Ewiges Pech! Ewiges Pech!“ hämmert es dann in meinem Kopf. Ein altes Trauma bahnt sich den Weg in mein Bewusstsein: Der Fluch der Kettenbriefe, die ich furchtlos ignoriert habe. Mittlerweile ist es ruhig geworden um die Angst und Schrecken verbreitende Post, doch es gab eine Zeit, als kein Briefkasten und E-Mail-Postfach davor sicher war. Wer sie öffnete wurde genötigt, Gummibärchen, Lieblingsrezepte oder lustige bis schmalzige Geschichten durch die Welt zu schicken. Wer mitmachte und seine Mitmenschen mit Soßen-Tipps und rührigen Lebensweisheiten erfreute, dem winkten nicht nur selbst tonnenweise Briefe, sondern zudem Geldsegen, beruf licher Erfolg und endlose Liebesgeständnisse von Nachbarn, Kollegen und Hollywood-Stars. Wer sich aber weigerte und die Kette unterbrach, nahm drakonische Gefahren in Kauf, setzte sein Liebes- und Lebensglück aufs Spiel und musste fürchten, von seinen Mitmenschen geächtet zu werden, weil er ihnen seine Käsekuchen-Geheimtipps vorenthielt.
Solche Zeiten sind vorbei, keiner wird mehr an Leib und Leben bedroht, wenn er sein Rezeptbuch nicht schnell genug öffnet. Keiner sitzt mehr eingeschüchtert zu Hause, paust Geschichten zehnmal durch und schneidet sich beim Briefmarken-Kleben die Zunge auf, um seinen guten Ruf zu retten. Und online verirrt sich nur noch ab und zu eine eingeschüchterte Drohung in mein Postfach. Freunde, Freundesfreunde und Freundesfreundesfreunde versorge ich heute nur noch freiwillig mit Lustigem, Spannendem, Lebenswichtigem und zwar digital per posting. Dieses Video etwa, The Hero (http://en.tackf ilm.se), das ein findiger facebook-Kontakt kürzlich auf seiner Pinnwand hatte: Mit einem Klick hatte ich auch mein Foto eingefügt und konnte mich selbst bestaunen, wie ich von frenetischen Menschenmassen als Weltenretterin gefeiert wurde und völlig fremde Menschen ob meines Konterfeis hemmungslos Tränen der Rührung vergossen. Herrlich! Das musste gleich weitergeschickt werden! Ich kenne mindestens zehn Leute, die das ebenso witzig finden. Dann habe ich noch etwas Schlaues gepostet: Eine Verlinkung auf eine Schlagzeile zur Tagespolitik. Es soll ja nicht so aussehen, als hätte ich nichts Vernünftiges im Sinn. Ach ja – und dann war da noch dieser Aufruf, eine Diplom-Arbeits-Umfrage zu unterstützen. Den Diplomanden kannte ich nicht, war wohl der Freund eines Freundes. Aber gepostet habe ich den Link natürlich trotzdem – wäre doch gemein sonst! Ein bisschen schade war es schon, dass nur eine Freundin mein lustiges Video weitergepostet hat. Die meisten kannten es wohl schon. Und bei der Schlagzeile haben nur zwei Kontakte ‚gefällt mir’ angeklickt und nur ein einziger wollte sie kommentieren.
Vielleicht suche ich mir demnächst lieber eine Kultur-Schlagzeile aus? Und sollte ich einmal selbst nach lustigen Videos suchen, die noch keiner kennt? Dann häufen sich bestimmt die ‚Gefällt mir’-Daumen darunter, die Kommentare und die Re-Posts? Ein wenig Angst habe ich schon, dass wieder keiner reagiert – und just da fällt mir mein letzter Traum ein: Ich poste und poste, Lustiges, Schlaues, Nachdenkliches, Persönliches, Fröhliches, Trauriges – doch das Kommentarfeld bleibt leer! Kein ‚gefällt mir’. Kein Kommentar. Kein Re-Post! „Gefällt mir nicht! Gefällt mir nicht!“ hämmert es unaufhörlich in meinem Kopf. Als ich schweißgebadet aufwache und mit zitternden Fingern den Computer hochfahre, versuche ich hektisch, mich an meine letzten Posts zu erinnern, durchwühle meine Gehirnwindungen nach kreativeren Ideen, um meinen Ruf in der Social-Network-Welt nicht zu verlieren. Bei all dem Psycho-Terror fällt mir aber wenigstens ein Gutes ein, das facebook & Co. mir gebracht haben: Meinen Kettenbriefe-Traum bin ich wohl ein für allemal los!
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