Günther Anfang/Kathrin Demmler/Klaus Lutz: Editorial. Und sie tun es doch: Kleinkinder nutzen Medien, aber wie?
Mitte November 2023 sorgte die Forderung eines Moratoriums (Aufschubs) der Digitalisierung in Kitas und Schulen1 für Verunsicherung in Teilen der Bildungslandschaft. An diesem Ereignis wird deutlich, wie aktuell in Deutschland Themen der Bildung und insbesondere der frühen Bildung diskutiert werden. 40 Wissenschaftler*innen hatten sich zusammengetan, um eine Technologiefolgenabschätzung zu fordern, „bevor weitere Versuche an schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen mit ungewissem Ausgang vorgenommen werden.“ Besonders erstaunlich ist dabei, dass das Ende von Medienbildungsangeboten in Kita und Schule mit der vermeintlich schädlichen Wirkung von konsumtiver Nutzung von Medien im Familienalltag begründet wird. Was soll sich für Kinder und Jugendliche verbessern, wenn sie mit ihrer Mediennutzung von den Bildungsinstitutionen allein gelassen werden? All jenen, die sich sehr ernsthaft und reflektiert und dem Wohl der Kinder zugewandt mit Fragen der frühen Bildung mit Medien befassen, danken ganz herzlich für diese populistsche Herangehensweise an das Thema. Ebenso sehen Wissenschaftler*innen, die sich differenziert und faktenbasiert mit der Medienaneignung von Kindern befassen, ein Moratorium als nicht zielführend. Leider wird hier erneut deutlich, dass markige Aussagen in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich mehr fruchten, als es Potenziale und Gefahren abwägende, differenzierende Publikationen können.
Wir wollen mit der vorliegenden Ausgabe zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen und all jene mit Hintergrundinformationen und praktischen Tipps unterstützen, die sich tagtäglich für ein gutes Aufwachsen von Kindern einsetzen. Statt programmatischer Forderungen geht es schließlich darum, die Allerkleinsten im Prozess des Aufwachsens mit besonderer Sorgfalt zu begleiten und ihre Kompetenzen im Umgang mit Medien zu stärken. Die explodierende Medienwelt sorgt zu Recht für große Verunsicherung, da die Wirkung von Medien auf Kinder schwer einschätzbar ist. Andererseits müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass sich Zweijähre im familiären Umfeld selbstverständlich die Geräte aneignen und neugierig auf diese bunte, lustige Bilderwelt sind. Vor allem die selbstständige Nutzung von Medien wie zum Beispiel interaktiven Kinderbüchern, YouTube-Hits oder Hörspielen auf Spotify hat eine neue Dimension erreicht, deren Auswirkungen kritisch beleuchtet werden müssen. So ermöglicht es die Sprachsteuerung schon sehr kleinen Kindern, sich selbstständig im Internet zu bewegen, was nicht frei von Risiken und Gefahren ist. An dieser Stelle halten wir es in der aktuellen Diskussion für nötig, klarzustellen: Dies sind die Fakten alltäglichen Medienhandelns in Familien und nicht unsere Wunschvorstellungen. In der familiären Alltagswelt sind nämlich viele unterschiedliche Medien in Gebrauch und so in das Familienleben integriert, dass die Medien den Alltag in der Familie zu einem maßgeblichen Teil auch mitbestimmen.
Im Mittelpunkt dieses Hefts steht somit die Frage, wie sich Medien auf die Entwicklung der Allerkleinsten im Alter von ein bis drei Jahren auswirken und wie eine sinnvolle Befassung mit den Medienerfahrungen aussehen kann, im Kontext der Familiensituation, der Bedingungen in Einrichtungen der frühen Bildung sowie unter den gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
Ausgehend von den Medienerfahrungen der Allerkleinsten beleuchtet im einleitenden Artikel Sonja DiVetta das Medienangebot für die Ein- bis Dreijährigen. Durchschnittlich mit einem Jahr kommen Kinder das erste Mal mit digitalen Medien in Kontakt. Für diese Zielgruppe gibt es bereits einen großen Bereich an medialen Angeboten wie Apps, Spiele und weitere Gadgets. Im Mittelpunkt des Beitrags steht dabei die Frage, welche Angebote in den Familien und Bildungseinrichtungen sinnvoll und nachhaltig eingesetzt werden können.
Auf eine Entdeckungsreise, wie wir die Jüngsten beim Erkunden der Medienwelt unterstützen können, begibt sich Karolina Böhm in ihrem Beitrag. Ihrer Meinung nach wirft die Mediennutzung von Kindern unter drei Jahren viele Fragen und Sorgen auf. Familien und pädagogische Fachkräfte benötigen ein vielfältiges Wissen, um Angebote für die Jüngsten alters- und alltagsgerecht aufzubereiten. Es zahlt sich ihrer Meinung nach jedoch aus, für Kinder und Erwachsene, den gemeinsamen Weg zu einem kreativen und aktiven Medienumgang bereits früh zu begehen.
Einen Überblick über den wissenschaftlchen Stand der internationalen Forschung zur frühkindlichen Mediennutzung gibt der Artikel von Stefan Aufenanger. Er zeigt auf, dass in fast allen Ländern der Medienkonsum der Null- bis Dreijährigen in den letzten Jahren angestiegen ist, die daraus gezogenen Konsequenzen aber unterschiedlich sind.
Was das Umfeld den Kindern bietet, zeigen die folgenden Interviews, in denen Eltern einen Einblick in die Mediennutzung verschiedener Familien in Deutschland gewähren, sowie exemplarische Erfahrungsberichte über frühkindliche Medienbildung in anderen europäischen Ländern.
Eine Studie des DJI zu digitalen Bilderbüchern rundet den Thementeil im Heft ab und geht der Frage nach, ob die Unterscheidung zwischen digital und analog überhaupt Sinn macht.
Begleitend zum Heft werden außerdem online beispielhafte Modellprojekte zur frühen Medienbildung vorgestellt, wie die Kampagne Startchance kita.digital aus Bayern, das Projekt medienBunt aus Rheinland-Pfalz sowie die landesweite Qualifizierungsinitiative KiM – Kindgerechte Medienbildung in Niedersachsen.
Ergänzend zum Überblick über die frühe Bildschirmnutzung im internationalen Kontext von Stefan Aufenanger wirft Susanne Eggert einen Blick hinter die Zahlen. In einer Studie des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis wurden Familien mit Kindern im Kleinkindalter dreieinhalb Jahre lang begleitet. Dabei zeigte sich, dass eine frühe Bildschirmnutzung je nach der familiären Situation sehr unterschiedlich sein kann.
Wir wünschen eine anregende Lektüre und hoffen, damit die Diskussion um die Digitalisierung in Kitas ein Stück weiter zu bringen, weg von Verboten, hin zu aktiver Gestaltung und sinnvoller Medienerziehung im frühkindlichen Bereich.
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