Ingo Bosse: Anschluss statt Ausschluss – Forschungsprojekt zur Medienbildung für Alle!
Die Konzentration im Raum ist fast mit den Händen zu greifen. Zwei Stunden arbeiten Martin und Elke, beide Mitte zwanzig, jetzt schon daran, mit Word zu schreiben und zu gestalten. Von der ursprünglichen Idee, Geburtstagseinladungen zu schreiben, sind sie abgekommen. Jetzt geht es um Wichtigeres – Liebesbriefe. Eigentlich nichts Ungewöhnliches für zwei junge Erwachsene, die beide zu der Generation der Digital Natives gehören, würde Martin nicht das Etikett psychisch krank anhaften. Auch für Elke ist die Situation eine besondere. So intensiven Kontakt zu der Zielgruppe bekommt die Studentin der Rehabilitationswissenschaften sonst nur selten – und das auf Augenhöhe.
Seminar- und Kursgestaltung – Grundannahmen
Selbstverständlich findet das Leben von Menschen mit psychischen Erkrankungen auch außerhalb solcher Kurse in Bezug auf Medien statt. Martin, ein Bewohner eines Bethel Regional Wohnheims für Erwachsene mit hohem Hilfebedarf, kann aber auf Grund seiner besonderen Biografie auf weniger bzw. andere Erfahrungen zurückgreifen als die Studentin Elke. Ihm bieten sich wesentlich weniger Möglichkeiten, seine Medienkompetenz gezielt auszubauen. Nicht vorhandene Teilhabemöglichkeiten können zu negativen Zuschreibungen führen und somit das ohnehin vorhandene Risiko des sozialen Ausschlusses verstärken. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist es daher von hoher Bedeutung, Teile ihrer Freizeit mit der Nutzung der Neuen Medien zu verbringen, um an neuen Entwicklungen gleichwertig teilhaben und diese auch selbst beeinflussen zu können (vgl. Benke 2008).Doch gerade für Menschen mit psychischen Erkrankungen existieren bisher kaum tragfähige Konzepte der Erwachsenenbildung, dies gilt ebenso für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen.Daher hat das Lehrgebiet motorische Entwicklung und frühe Hilfen an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund ein eigenes Konzept entwickelt. Dabei wurde ein Verständnis von Medienkompetenz zu Grunde gelegt, welches deutlich über die Bedienung technischer Apparaturen hinausgeht: Es ging um den Erwerb von technischen, sozialen, kulturellen und reflexiven Kompetenzen (vgl. Bosse 2011).
Methode
Grundlegend war die Methode der leicht zurückweisbaren Angebote. Sie stellt eine der wenigen Ansätze in der Medienarbeit mit kognitiv beeinträchtigten Teilnehmerinnen und Teilnehmern dar, die wissenschaftlich begleitet und dokumentiert wurde (vgl. Schaumburg 2010). Sie ist dem medienpädagogischen Modell der integrativen Medienarbeit zuzuordnen. Dieser Begriff wurde 2001 von Graf geprägt, „um einen theoretischen Raum für die wachsende Aufmerksamkeit in der Behindertenpädagogik gegenüber (technischen) Medien zu eröffnen“ (Gekeler/Graf 2004, S. 173). Zentrale Idee ist die Gestaltung integrativer Lernsituationen.„Sie vereint die Möglichkeit einer respektvollen Unterstützung im konkreten Gestaltungsprozess mit einer längerfristigen Vermittlung von Fähigkeiten. In einem ständigen Kommunikationsprozess versucht der Experte die Idee des Nutzers zu erfassen, um ihm entsprechende Angebote zur Umsetzung der Idee zu machen. Diese Angebote sollten aber immer auch alternative Vorschläge beinhalten und es sollte aufgezeigt werden, wie diese technisch umsetzbar sind.“ (Schaumburg2010, S. 11).
Daran beteiligt sind idealtypisch- Nutzerinnen und Nutzer mit Beeinträchtigungen,- Assistentinnen und Assistenten, die wie die Nutzerinnen und Nutzer Lernende sind und ihnen assistieren sowie- Expertinnen und Experten als Fachleute.Für Assistierende bedeutet dies eine besondere Situation: Lernen durch Lehren. Die Teilnehmenden sollen unterstützt, aber nicht bevormundet werden (vgl. Gekeler/Graf 2004). Durch die Assistenz dürfen keine Abhängigkeiten entstehen. So sollen sich die Kursteilnehmenden ihre Assistentinnen und Assistenten frei wählen. Gerade bei der Herstellung von Produkten sollen die Kursteilnehmenden nicht bevormundet werden, auch wenn das persönliche ästhetische Empfinden der Assistentinnen und Assistenten ein anderes ist.Allgemeine Grundprinzipien der Erwachsenenbildung galt es ebenso zu beachten. Dazu gehören etwa erwachsenengemäße Ansprache, partnerschaftliche Vorgehensweise, Freiwilligkeit, Selbst- und Mitbestimmung, Lebensnähe, Einbeziehung des Umfeldes, Regelmäßigkeit (vgl. Bosse 2012; Schaumburg 2010, S. 8 f.). Selbstverständlich ist es, dass die Lernangebote aufeinander aufbauen und inhaltlich abgestimmt sind.
Kursinhalte
Für die Aufgaben und Übungen wurde auf vorhandene Computerkurse für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen zurückgegriffen. Diese wurden zum Teil modifiziert und spezifischer auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausgerichtet. Hauptbezugspunkte bildeten die Portale Comedison des Bildungsservers Rheinland Pfalz (vgl. Schaub 2010) und Atempo des gleichnamigen Vereins aus Österreich (siehe www.atempo.at). Der Kurs sprach im Wesentlichen fünf Bereiche an:
Evaluation
Die Evaluation fand unter Nutzung unterschiedlicher Methoden der qualitativen Sozialforschung statt. Kernstück war die teilnehmende Beobachtung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wohneinrichtungen und Studierende. Des Weiteren wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mündlich und schriftlich zu den Kursen befragt. Am Ende der drei Kurse fand ein gemeinsames Auswertungsgespräch aller Beteiligten statt. Dabei wurde nochmals deutlich, dass sich zum Teil zwischen Assistentinnen oder Assistenten und Kursteilnehmenden intensive soziale Beziehungen gebildet hatten. Auf Seiten der Bewohnerinnen und Bewohner war neben Fortschritten in der Medienkompetenz auch eine Stärkung von Autonomie, Selbstbestimmungsfähigkeit und Selbstlernkapazität erkennbar. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wohnheime zeigten sich sehr erstaunt, welche Konzentrationsspannen die Bewohnerinnen und Bewohner aufbringen konnten. Die Kursteilnehmenden äußersten sich vor allem positiv darüber, dass ihnen eine informations- und kommunikationstechnische Grundbildung zugetraut wurde.
Im Rahmen der Evaluation haben sich folgende Hauptpunkte als besonders bedeutsam herausgestellt:- Eine ausreichende Schulung der Assistentinnen und Assistenten in der Methode der leicht zurückweisbaren Angebote und den Grundprinzipien der Erwachsenenbildung- Klare Einhaltung der Rollen innerhalb der Methode- Ein zeitlich ausreichender Rahmen für die Kurse- Ein intensives Kennenlernen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor Beginn- Großzügige Raumkapazitäten- Zusammenarbeit mit den Wohnheimmitarbeiterinnen und -mitarbeitern- Bereitstellung von Technik und Programmen mit ausreichender VorlaufzeitInsgesamt wurde das Kursangebot von allen Beteiligten sehr positiv bewertet. Lernprozesse haben auf beiden Seiten stattgefunden. So lautete der Name des Forschungsprojekts ursprünglich Medienbildung für Menschen mit Behinderung. Einige der Bewohner wiesen darauf hin, dass dies ja wieder eine Etikettierung darstellen würde, die dem Gedanken integrativer Medienarbeit ja nicht entspräche: Es geht um Medienbildung für Alle!
Literatur:
Atempo (2010). Fit am Computer. www.kursraum.atempo.at/extras/ersteschritte/bildung/internet1.php [Zugriff: 01.12.11].
Benke, Karlheinz (2008). Digital ungleich. In: Ottinger, Gerda, Soziale Ungleichheiten in der Informationsgesellschaft: Das Phänomen der ‚digitalen Kluft‘ und die Bedeutung für die Sozialarbeit. Duisburg: Wiku, Vorwort.
Bosse, Ingo (2011). Medienbildung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung - in Universität und Schule. In: Schulz-Zander, Renate/Eickelmann, Birgit/Moser, Heinz/Niesyto, Horst/Grell, Petra (Hrsg.). Jahrbuch Medienpädagogik 9. Qualitätsentwicklung in der Schule und medienpädagogische Professionalisierung. Wiesbaden: VS Verlag.
Bosse, Ingo (2012). Anschluss statt Ausschluss. Computerkurse für Menschen mit hohem Hilfebedarf. In: Frey, Hermann/Wertgen, Alexander (Hrsg.). Pädagogik bei Krankheit konkret. Beiträge zur Praxis des Unterrichts an Schulen für Kranke. Berlin, Münster, Wien, Zürich, London: Lit Verlag (in Druck).
Gekeler, Gert/Graf, Thomas (2004). Integrative Medienarbeit. Studieren ohne Handicap. Geistige Behinderung, 2, S. 167-179.
Schaub, Angelika (Hrsg.) (2010). Comedison. Förderung mit neuen Medien. In: www.comedison.sonderpaedagogik.bildung-rp.de/gehezu/startseite.html [Zugriff: 01.12.11].
Schaumburg, Melanie (2010). Medienpädagogische Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung. Eine methodische Anleitung für die Praxis. Heilpädagogik-online, 1, S. 5-19. In: www.heilpaedagogik-online.com/2010/ [21.06.2011].
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