Iwan Pasuchin: Das „Nein“-Konzept
Als mein Sohn 15 wurde – übrigens echt ein süßes Alter, vor allem, wenn es sich um Monate und nicht um Jahre handelt –, fing er an zu verstehen, dass Dinge Namen haben, und zu versuchen, sie entsprechend zu bezeichnen. Der Ball hieß „ba“ und wenn er das zu mir sagte, dann bedeutete es, dass er mit mir Ball spielen wollte. Statt Buch rief er „bu“ und drückte damit seinen Wunsch aus, ich solle ihm vorlesen. Genauso wie alles, was er zu mir sagte, zum Ziel hatte,(mehr) Aufmerksamkeit von mir zu erlangen. Bei der Erfassung des Benennungskonzeptes gab es jedoch eine Tatsache, die ihn zunächst etwas verwirrte: Die meisten Dinge hießen unterschiedlich, aber es gab auch zahlreiche, die den gleichen Namen trugen. Darunter fielen so gegensätzliche Gegenstände, wie Messer, Elektrogeräte, Weingläser, brennende Kerzen etc. All diese Objekte trugen eine einzige Bezeichnung, die immer sehr deutlich und um einiges lauter artikuliert wurde, als die der anderen. Dieses ganz spezielle Wort, dessen Ausrufen zumeist mehrmals hintereinander und mit steigender Heftigkeit erfolgte sowie von seltsamen Grimassen der Erwachsenen begleitet wurde und womit außerdem verbunden war, dass jene, die es aussprachen, sofort aufsprangen und zu meinem Sohn liefen, lautete – wie unschwer zu erraten – „NEIN!“
Das anfängliche Erschrecken, welches meine Reaktion in solchen Fällen bei meinem Sohn auslöste, verflog schnell. Immer öfter griff er gezielt nach Gegenständen, die davor das Nein-Etikett erhalten hatten und allmählich überkam mich das Gefühl, dass er es richtig genoss, meinen Aufschrei zu hören und erst recht, all das Theater mitzuerleben, welches ich dabei für ihn darbot. Die Ahnung avancierte zu einer Gewissheit, als der Kleine anfing, jedes Mal, wenn er mich sah, entsprechende Objekte laut lachend anzusteuern und dabei „Nei! Nei!! Nei!!!“ zu brüllen. Offensichtlich hatte er von seinen Beobachtungen ausgehend ein eigenes „Nein-Konzept“ entwickelt, demzufolge „Nein“-Dinge nicht nur außerordentlich unterhaltungsversprechend wären, sondern vor allem die Chance bieten würden, besonders intensiv und in allerkürzester Zeit Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Denn während seine Aufforderung bzgl. „ba“ und „bu“ nicht immer und erst recht in den seltensten Fällen sofort die erwünschte Wirkung zeigte, war ich augenblicklich zur Stelle, sobald ich nur das „na…“ vernahm. Die (medien-) pädagogische Moral dieser kleinen Geschichte ist unschwer zu erkennen. Ich spreche gar nicht davon, dass sie die alte Vermutung meiner Wegbereiterinnen und Wegbereiter bestätigt, alles Verbotene wäre für Kinder und Jugendliche ausnehmend spannend und dass Untersagungen deswegen zumeist wenig von der erwünschten Wirkung zeigen würden. Um das zu verstehen, hätte ich nicht Vater werden brauchen. Sie legt jedoch eine weitere These nahe: Heranwachsende machen „Nein“-Dinge nicht trotzdem, sondern gerade weil sie Sanktionen von Seiten der Erwachsenen erwarten. Denn auf diese Weise erlangen sie etwas von der Aufmerksamkeit, nach der zu dürsten offenbar ihr zentrales biologisches Programm bildet. Ich stelle mir vor, wie mein Sohn, wenn er 15 ist (ich meine jetzt Jahre), mit Tonnen von Piercings im Gesicht und einer halbvollen Ginflasche in der einen Hand, mit der anderen mit Hilfe irgendeines virtuellen Metzgerwerkzeugs gerade heftig in 4D kopulierende Mutter Theresa und Vater Obama genüsslich tranchiert und denke mir, dass ich mir seine „ba“ und „bu“-Aufforderungen doch etwas mehr zu Herzen nehmen sollte – jetzt und mindestens in den nächsten vierzehn Jahren.
Zurück