Jens Dehn: Nordische Filmtage Lübeck
Skandinavischer Kinder- und Jugendfilm im Fokus
Zum 49. Mal fanden im vergangenen November die Nordischen Filmtage in Lübeck statt. Ein besonderer Schwerpunkt lag 2007 auf dem skandinavischen Kinder- und Jugendfilm. „Die skandinavische Kinder- und Jugendfilmkultur gilt weltweit als eine der lebendigsten“, stellte Linde Fröhlich, Künstlerische Leiterin der Filmtage, schon vor Beginn des Festivals fest. Und diesem Ruf wurden die Skandinavier auch diesmal wieder gerecht. Einer der Höhepunkte des Programms: Hoppet von Elling-Regisseur Petter Næss, der die Geschichte des zwölfjährigen kurdischen Flüchtlingsjungen Azad erzählt. Dieser wollte mit seiner Familie vor dem Krieg in seiner Heimat nach Deutschland fliehen, doch nachdem sie von Schleusern betrogen wurden, landen Azad und sein traumatisierter, stummer Bruder Tigris alleine mit einem ungeliebten Onkel und dessen Familie in Schweden. Hoppet gewann den Kinder- und Jugendfilmpreis der Nordischen Filminstitute. „Dass man an sich selbst nicht den Glauben verlieren darf und es sich lohnt für die eigenen Träume zu kämpfen, davon erzählt Hoppet emotional berührend“, hieß es in der Begründung der Jury. Zudem belegt der Film einmal mehr eine der ganz großen Stärken des skandinavischen Kinder- und Jugendkinos: die Gabe, politische und auch brisante Themen auf sehr einfühlsame Weise zu erzählen und sein junges Publikum dabei immer ernst zu nehmen. Neben dem vielfältigen Programm wurde in diesem Jahr auch abseits der Leinwand ein Schwerpunkt auf Kinder und Jugendliche gelegt. So gab es zum ersten Mal das Projekt Junge Journalisten, in dem Jugendliche unter fachlicher Anleitung die Filme des Kinder- und Jugendprogramms rezensieren und erste Erfahrungen als Reporterinnen bzw. Reporter und Filmkritikerinnen und Filmkritiker sammeln konnten. Daneben hatten Lübecker Schulklassen an zwei Vormittagen während des Festivals Gelegenheit, die Kinder- und Jugendprogramme anzuschauen. Kritisiert werden muss jedoch die Retrospektive, eigentlich heimliches Highlight jedes Festivals.
Bevor die Nordischen Filmtage zum 50-jährigen Jubiläum auf die großen Klassiker der skandinavischen Filmgeschichte zurückblickten, sollten 2007 auch hier die „Höhepunkte des skandinavischen Kinder- und Jugendfilms“ zu ihrem Recht kommen. Doch das Ergebnis war mager: Ganze sieben Filme umfasste die Retrospektive, die ihren Namen somit kaum verdient hatte. Ein Wiedersehen gab es immerhin mit kleinen Klassikern wie Lasse Hallströms Mein Leben als Hund (Mit liv som hund), Allan Edwalls Åke und seine Welt (Åke och hans värld) und Goldregen (Guldregn) von Sören Kragh-Jacobsen. Das Fehlen einer Begleitpublikation wertet die Retrospektive jedoch zusätzlich ab. Und Astrid Lindgren, die im November einhundert Jahre alt geworden wäre, mit nur einem Film, nämlich Pippi Langstrumpf, zu würdigen (Neues von uns Kindern aus Bullerbü lief zudem in der Retrospektive), war schon eine kleine Frechheit. Umso mutiger war das reguläre Jugendfilm-Programm. Fernab der heilen Kinderwelt Astrid Lindgrens bewegt sich der dänische Film Life Hits (Råzone) von Christian E. Christiansen. Die Freundinnen Christina, Cecilie, Trine und Pernilla, alle von Laiendarstellerinnen gespielt, verbringen ihre Tage in der Kopenhagener Vorstadt vornehmlich mit Alkohol, Drogen und Partys. Als sich Cecilies Freund Shaid an Christina ranmacht, steht diese plötzlich isoliert in der Gruppe. Angestachelt von der ehemaligen Freundin, wird Christina in immer stärkerem Masse gemobbt, bis hin zu körperlicher Gewalt. Geschlagen und erniedrigt greift das Opfer zur Waffe. Life Hits verlangt seinem Publikum mit der zunehmenden Direktheit der Gewalt einiges ab. Lösungen bietet er dabei keine. Genauso wenig wie Die Klasse (Klass) aus Estland. Die Außenseiter Joosep und Kaspar werden hier von ihrer Schulklasse drangsaliert und geschlagen. Um sich zu rächen, besorgen sie sich den Schlüssel zum Waffenschrank von Jooseps Vater … Wo Life Hits mit Laienschauspielerinnen bzw. -schauspielern und dem Einsatz von Videomaterial den Eindruck des Dokumentarischen erzeugen will, wählt der Este Ilmar Raag eine gänzlich stilisierte Ästhetik. Mit Zeitlupe, Zwischentiteln und dem abrupten Wechsel in Schwarz-Weiß verweigert sich Die Klasse äußerlich dem Anschein des Authentischen. Tatsächlich beruht die Geschichte aber auf wahren Begebenheiten und weckt – gerade beim deutschen Publikum – automatisch Assoziationen zu den Geschehnissen am Erfurter Gutenberg-Gymnasium.
Die Geschichte von Holger Danske
Einen festen Platz im Rahmen der Nordischen Filmtage hat seit mittlerweile 20 Jahren das „Filmforum Schleswig Holstein“. Hier wird einheimischen Produktionen aus Hamburg und Schleswig-Holstein eine Plattform geboten, sich dem breiten Publikum zu präsentieren. In seiner halbstündigen Dokumentation Flucht über das Meer – Die Rettungsaktion für jüdische Dänen begleitet Rasmus Gerlach über zwei Jahre lang Seminare des Schleswig-Holsteinischen Heimatbundes. Rund 25 Jugendliche aus Schleswig-Holstein und Dänemark im Alter zwischen zwölf und 22 Jahren stechen dabei von Kopenhagen aus in See, um nachzuempfinden, wie es jüdischen Flüchtlingen ging, die 1943 vor der Gestapo flüchteten. Holger Danske hieß die Widerstandsbewegung, die in Dänemark zur Zeit der Besatzung im Zweiten Weltkrieg Juden über den Öresund an die Küste des politisch neutralen Schwedens brachte.Rasmus Gerlach kam über seine Mutter zu dem Projekt, die die Seminare organisierte. Die dänischen Jugendlichen stammen von einer Schule, wobei die Teilnahme freiwillig war. Alle Deutschen meldeten sich über den Newsletter des Heimatbundes. Die Jugendlichen wussten, dass eine Kamera mit an Bord sein würde, doch alles durfte der Filmemacher nicht zeigen. „Ich war willkommen“, sagt Gerlach im Interview mit merz, „aber es gab Einschränkungen: Man sieht die Kojen nicht, wobei es mich schon gereizt hätte, auch mal die schlafenden Seminaristen in diesen abenteuerlichen Schlafräumen auf dem alten Schiff darzustellen. Aber das war sozusagen Tabu. Genau wie die Landgänge, also die Ausflüge in die Disko, wo die Jugendlichen auch mal ganz ausgelassen waren. Was dann auch dazu führte, dass der tapfere Kapitän nachts die Diskos abklappern musste, um die Versprengten einzusammeln.“ Ausflüge in die Disko, ausgelassenes Feiern – für die meisten der Jugendlichen stand zweifelsfrei der Abenteuercharakter des Seminars im Vordergrund. Dementsprechend war auch allen Beteiligten – Filmemacher, Organisatoren und den Jugendlichen – klar, dass der Eindruck, der entstehen würde, nicht dem entsprechen konnte, was die Flüchtlinge 1943 empfanden. Trotzdem war die Bereitschaft von allen da, sich auf dieses Experiment einzulassen, und beispielsweise auch die extreme Kälte an Bord zu erleben. „Ich glaube, es hat sich herausgestellt, dass es gut ist, den Jugendlichen möglichst viel abzuverlangen.
Wir haben den Eindruck, dass die jungen Leute viel mehr und schneller auffassen können als wir uns das vorgestellt haben. Und dass auch die Bereitschaft, so ein Thema durchzuarbeiten, relativ groß ist. Da waren wir sehr positiv überrascht.“Frappierend waren für Gerlach die Unterschiede in der Herangehensweise der Deutschen und Dänen. „Man kann vielleicht sagen, dass die Dänen spielerischer damit umgegangen sind. Vielleicht auch, weil es für die dänischen Jugendlichen anders ist, es ist sozusagen Teil ihres nationalen Heldenschatzes. Sie sind in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass es da etwas gibt in der Geschichte, das für die Dänen ganz gut ist. Sie wissen nur nichts darüber. Die Deutschen sind da wesentlich ernsthafter herangegangen.“ Holger Danske war die effektivste Widerstandsbewegung in Europa. Dennoch ließen sich keine Förderanstalt und kein Sender finden, die bereit waren, den Film zu produzieren. Gerlach hat das Projekt aus eigener Tasche finanziert. Für den Filmemacher eine ähnlich idealistische und von persönlichem Engagement getriebene Aufgabe wie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des schleswig-holsteinischen Heimatbundes. „Da dieses Seminar von meiner Mutter ausgearbeitet wurde, habe ich auch bei den Vorbereitungen viel mitgeholfen und zum Teil auch die Kontakte zu den Zeitzeugen mit hergestellt. Das war ein Projekt, das mir sehr viel Freude gemacht hat. Im Moment sind jetzt leider die Geldmittel für solche Seminare gestrichen, also müssen wir etwas warten, ob sich da noch einmal etwas ergibt. Die etwas prekäre Situation des Filmprojekts spiegelt sich also auch noch mal in der mangelnden Möglichkeit, solche Seminare durchzuführen.“Ein Grund, weshalb die Geschichte von Holger Danske in Deutschland noch vollkommen unaufgearbeitet ist, ist auch die strikte Weigerung der ehemaligen Widerstandskämpfer, mit deutschen Verlagen zusammenzuarbeiten. Den Jugendlichen gegenüber waren die alten Leute jedoch sehr aufgeschlossen und bereit, an Bord zu kommen und ihre Geschichte zu erzählen. Rasmus Gerlach kann sich vorstellen, in Zukunft noch einmal ein Seminar zu machen, bei dem die Jugendlichen dann das ganze Unternehmen als eine Art Videolabor betreiben und mit ihren Kameras neuerlich aufgetauchte Zeitzeugen selbst befragen.
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