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Judith Schuhbauer: Reality-TV als Trauma-Therapie: Jonas

Die Musik laut aufgedreht irrt Jonas in seinem knatternden alten Wagen durch Zeuthen, eine Gemeinde nahe Berlin. Er ist auf dem Weg zur Paul Dessau Gesamtschule. Heute ist sein erster Schultag. Darüber freut er sich nicht so sehr, denn Schule macht ihm eigentlich keinen Spaß. Aber er weiß auch, dass dies seine letzte Chance ist. Jonas, der neue Film aus der Boje Buck Produktion, erzählt die Geschichte des 18-jährigen Sitzenbleibers, der hofft, seine letzte Chance auf einen Schulabschluss zu bekommen. Dokumentarisch begleitet die Kamera Jonas vom ersten Schultag bis zur alles entscheidenden Lehrerkonferenz, in der sein Schicksal entschieden wird. Der Film gibt Einblicke in den Schullalltag, hält Szenen aus dem Unterricht fest und dokumentiert das Leben der Schülerinnen und Schüler. Schule, Lehrkräfte und Schülerschaft sind real. Nur Jonas heißt eigentlich Christian und hat seinen Schulabschluss schon seit Jahren in der Tasche: Nach Undercover-Rollen in Mein neuer Freund und ulmen.tv schlüpft Christian Ulmen diesmal in die Rolle des 18-jährigen, mehrfach sitzengeblieben Schülers Jonas. Aber anders als die Charaktere aus Mein neuer Freund, die ihre Mitmenschen durch provokantes Auftreten in den Wahnsinn treiben sollen, ist Jonas ein recht normaler Junge. Schnell lebt er sich in der neuen Schule ein, schließt Freundschaften und beteiligt sich am Unterricht. Nur mit Mathe steht er auf Kriegsfuß. Als er sich dann noch in die Musiklehrerin Frau Maschke verliebt, gerät das Sorgenfach noch mehr ins gedankliche Abseits: Um die Frau seines Herzens zu beeindrucken, gründet er eine Schülerband. Neben Bandproben und Parkplatzpartys stellt sich Jonas der Herausforderung ‚Logarithmus‘, um seine Probezeit an der Gesamtschule Paul Dessau zu bestehen – was sich in der finalen Lehrerkonferenz entscheidet. Soweit die Story des Films, die schnell erzählt ist. Aber um eine komplexe Geschichte mit verschiedenen Handlungssträngen geht es auch nicht. Vielmehr ist der Film ein Experiment: Eine Kunstfigur im realen Raum und das in Kinoformat.

Schülerschaft und Lehrkräfte wurden zwar im Vorfeld informiert, dass in ihrer Schule Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm stattfinden, Genaueres wussten sie jedoch nicht. Und nachdem der 36-jährige Schauspieler täglich drei Stunden in der Maske verbrachte, erkannte keiner mehr den ‚neuen Schüler‘ als Christian Ulmen. Ein richtiges Drehbuch gibt es nicht, kann es auch nicht geben. Alle Mitwirkenden gestalten durch ihr Handeln das Drehbuch mit. Nur mit einer Backstory zu Jonas und ein paar vagen Ideen ausgerüstet, begab sich das Filmteam in das Abenteuer. Dies bot Christian Ulmen genug Raum zur Improvisation. Allerdings sollte Jonas bewusst nicht die Szene dominieren und das Geschehen beeinflussen – er passt sich seinem Umfeld an, lässt sich lenken. Die Idee, die dahinter steckt, dreht das Schema bekannter provokativer Reality-Formate, wie zum Beispiel Borat, um: Nicht die Kunstfigur provoziert und manipuliert ihr Umfeld, sondern die Realität prägt die Kunstfigur. Christian Ulmen nahm als ganz normaler Schüler am Schulalltag teil, beteiligte sich an Unterrichtsgesprächen, verbrachte mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern die Pausen und schrieb Klassenarbeiten. Das Publikum wirft einen Blick in den Mikrokosmos ‚Schule‘, es verfolgt reale Debatten zu Kirche und Glauben mit Ethik-Lehrerin Frau Schröder, beobachtet den Ärger einiger Schüler bei der Notenvergabe im Geografieunterricht und bangt mit Jonas in Matheausfragen. Dabei lässt Christian Ulmens Unwissenheit um Logarithmen das Publikum regelrecht mitleiden. Für alle, die ihre Schulzeit hinter sich haben, ist der Film wie eine Zeitreise und lässt ab und an erleichtert aufatmen, nie wieder Mathearbeiten schreiben zu müssen. Ulmen selbst bezeichnete die Dreharbeiten als persönliche Trauma-Therapie, die ihm seine Albträume von der eigenen Schulzeit nahm. Doch auch für diejenigen, die nicht hin und wieder von Albträumen geplagt werden, bietet der Film Spaß und Unterhaltung.

Allein das Hinzufügen einer Kunstfigur im realen Raum und deren wechselseitige Beeinflussung ist ein spannendes Experiment. Dass Christian Ulmen ab und zu den Bogen etwas überspannt und sich ein wenig eigentümlich benimmt, stört dabei nicht weiter. Entsprechend ist auch das Genre schwer zu bestimmen. Weder als Dokumentar-, noch als Spielfilm angelegt, wird dem Film die Bezeichnung ‚Reality-Komödie‘ gerecht. Dabei wird allerdings nicht immer ganz deutlich, was real und was gestellt ist. Die Kinoproduktion bietet ein unterhaltsames Abbild des Schulalltags mit allem, was dazu gehört: Pubertät, Liebe und Musik. Aber auch ein etwas ernsteres Bild vom Jungsein wird gezeichnet. Verärgert über die schulischen Leistungen seiner Klasse hält der Chemielehrer eine überspitzte Ansprache zur Situation Deutschlands und den Berufschancen seiner Schülerinnen und Schüler. Christian Ulmen, 20 Jahre älter als seine Klassenkameradinnen und -kameraden, lässt Jonas diesen Appell öffentlich kritisch hinterfragen. Dass sich Schülerinnen und Schüler immer häufiger unter Druck gesetzt fühlen und Zukunftsängste aufbauen, verwundert angesichts solcher Szenen kaum. Insgesamt zeichnet sich der Film weniger durch eine spannende Handlung als vielmehr durch sein charmantes Setting aus.

Mit einem Augenzwinkern verkörpert Ulmen den liebenswerten und manchmal etwas zu freimütigen Jonas. Die authentischen, weil echten Charaktere und Situationen schaffen eine vertraute Atmosphäre. Die ungestellten Unterrichtsgespräche sind meist interessant und zeigen, was junge Menschen beschäftigt. Der Film aus der Boje Buck Produktion (Same Same But Different, Herr Lehmann, Sonnenallee), der unter der Regie von Robert Wilde (Mein neuer Freund) entstanden ist, ist ein unterhaltsamer sowie informativer Film über das Schulleben an einer Berliner Gesamtschule. Gleichzeitig wird ein spannendes filmisches und sozialpsychologisches Experiment geboten. An den Hype um Reality-TV-Formate anknüpfend, ist Jonas eine durchaus kinotaugliche Produktion, die auch ein jüngeres Publikum anspricht. Im Gegensatz zu fiktionalen Teenager-Komödien oder Reality-Dokus wie Die Schulermittler wird das Schulleben an einer durchschnittlichen deutschen Schule authentisch abgebildet. Dass das nicht immer trocken und stockernst sein muss, zeigt dieses Filmprojekt.

Für all diejenigen, die an innovativen Filmkonzepten und/oder an psychologischen Experimenten interessiert sind, ist Jonas sicherlich sehenswert. Aus medienpädagogischer Perspektive bietet die Umsetzung ebenfalls Ansätze zur Diskussion über Fiktion und Realität in den Medien, zumal der Filmkontext jedem aus eigener Erfahrung bekannt sein dürfte. Die Mischform aus Dokumentation und Spielfilm regt an, Filmgenres und Stilrichtungen genauer unter die Lupe zu nehmen.


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