Kathrin Demmler/Selma Maglic/Georg Materna/Ida Pöttinger: Konflikte aushandeln: Eine Herausforderung für die Bildungsarbeit
Editorial
Die von Bundeskanzler Olaf Scholz in Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine verkündete „Zeitenwende“ bezieht sich vordergründig auf die Ertüchtigung der Bundeswehr. Sie ist jedoch gleichzeitig nur der vorerst letzte Ausdruck der Zunahme von Kriegen, Krisen und Konflikten, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, und die uns zunehmend direkt über digitale Medien erreichen. Videos aus dem Krieg in der Ukraine, vom Überfall der Hamas auf Israel und von der israelischen Operation Eiserne Schwerter verbreiten sich massiv über Plattformen und Netzwerke, die junge Menschen regelmäßig nutzen. Diese Inhalte werden gelikt, kommentiert und geteilt, und erreichen eine große Öffentlichkeit. Damit beeinflussen sie die öffentliche Verhandlung der Geschehnisse oft in einer Weise, die eher Polarisierung fördert als eine kritische Meinungsbildung über Recht und Unrecht. Eine demokratische Auseinandersetzung mit Kriegen, Krisen und Konflikten wird auf diese Weise erschwert. Statt dazu beizutragen, das Gegenüber zu verstehen, Emotionen der Gegenseite anzuerkennen, die eigene Position kritisch zu prüfen und sich für Handlungsoptionen auf Basis eines demokratischen Abwägungsprozess entscheiden zu können, begünstigen viele digitale Inhalte Feindbildkonstruktionen und Schwarz-Weiß-Denken.
Gleichzeitig können sich gerade marginalisierte Gruppen über digitale Medien eine Öffentlichkeit schaffen und damit auf strukturelle Benachteiligungen aufmerksam machen und zu deren Abbau beitragen. Diese Möglichkeit nutzen auch junge Menschen in den Krisen- und Kriegsgebieten, wenn sie ihren Alltag zeigen und damit die menschlichen Auswirkungen militärischer Auseinandersetzungen anschaulich machen. Ein Beispiel dafür ist Valeria Shashenok, die auf ihrem TikTok-Account @valerisssh über ihren Kriegsalltag, ihre Flucht aus der Ukraine und ihr Leben mit dem Krieg postet.
Die Pluralisierung der Möglichkeiten, an Öffentlichkeit teilzunehmen und die eigene Sichtweise in die Diskussion einzubringen, erhöht gleichzeitig auch die Wahrscheinlichkeit, mit den Sichtweisen anderer Menschen konfrontiert zu werden. In den meisten Fällen entsteht daraus jedoch keine harmonische Melodie, sondern widersprüchliche Meinungen stehen einander gegenüber, ohne notwendigerweise in einen auf Verständigung angelegten Austausch zu münden. Mediale und öffentliche Pluralisierung führen tendenziell erstmal zu mehr Konflikten, nicht zu weniger. Dass das für sich genommen keine schlechte Nachricht ist, sondern für mehr gesellschaftliche Partizipation spricht, hat vor ein paar Jahren Aladin El-Mafaalani (2018) überzeugend ausgearbeitet. Das Paradox gesellschaftlicher Integration besteht darin, dass ihre Verwirklichung in einer Zunahme von Konflikten besteht, argumentiert er. Denn wenn mehr Menschen teilnehmen, werden mehr Interessenkonflikte sichtbar. Die Herausforderung der Bildungsarbeit besteht darin, diese Situation anzuerkennen und Wege zu finden, sie positiv mitzugestalten. Wenn jedoch zusätzlich zu dieser Aufgabe noch internationale Konflikte ausbrechen und die aktuelle Weltordnung ins Wanken gerät, können auch bei Fachkräften neue Handlungsunsicherheiten und Verunsicherung entstehen.
Das ist der Punkt, an dem dieses Schwerpunktthema ansetzt. Es vereint Artikel, die sich der Herausforderung aus unterschiedlichen Perspektiven annähern und die als Unterstützungsangebote für das Verstehen der gegenwärtigen Situation und den eigenen Umgang damit veröffentlicht werden.
Den Auftakt machen Uli Jäger und Nicole Rieber mit ihrem Artikel ‚Frieden und Friedenspädagogik: Orientierung für (digitale) Bildungsmaßnahmen in Zeiten von Krieg und Unsicherheit‘. Sie stellen ein Angebot der Servicestelle Friedensbildung Baden-Württemberg vor, in dem es um das Zusammenspiel von Friedensbildung, Medienpädagogik und politischer Bildung geht, und das dem Defizit an Orientierung entgegenwirken soll. Ziel der Autor*innen ist es, ein Curriculum ‚Friedensbildung‘ zu entwickeln, um unter anderem die Ambiguitätstoleranz als Friedensfähigkeit zu fördern.
Sigrun Rottmann, Journalistin und Konfliktberaterin, setzt sich in ihrem Beitrag mit der Frage auseinander, welche Rolle Journalist*innen in einer demokratischen Gesellschaft spielen wollen und sollen. Sie plädiert für konfliktsensitiven Journalismus als wichtiges Qualitätsmerkmal der Berichterstattung über Krieg und Konflikte und zeigt, wie Berichterstattung so gestaltet werden kann, dass verschiedene Perspektiven sichtbar werden, Propaganda hinterfragt wird und Konflikte nicht weiter eskalieren.
Daran schließt das Gespräch mit Thomas Knieper an. Als Professor für digitale und strategische Kommunikation setzt er sich seit langem mit der Ikonografie von Kriegsbildern auseinander. Er spricht über Kontinuitäten und Veränderungen der bildlichen Inszenierung von Krieg und betont, dass Bilder nicht nur bei der Visualisierung von Krieg, sondern auch bei Friedensverhandlungen eine wichtige Rolle spielen können.
Mit den Herausforderungen für Medienwissenschaft und medienpädagogische Praxis im Hinblick auf eine Sensibilisierung für die Macht der Bilder setzen sich die JFF-Kolleg*innen Benedikt Aigner, Linus Einsiedler, Michael Gurt, Selma Maglic und Georg Materna auseinander. Aufbauend auf vielfältigen Erfahrungen in einschlägigen Projekten der politischen Bildung zeigen sie auf, wie mit Menschen mit Kriegs- und Fluchterfahrung zusammengearbeitet wurde, was es dabei zu beachten gilt und wie wichtig es ist, eine postmigrantische Perspektive in der Medienpädagogik einzunehmen. Ausgewählte Artikel sind auch oder nur online zu finden. Eine wichtige Bereicherung des Themas liefert der Beitrag von Ingrid Stapf und Marlis Prinzing ‚Selbstbestimmte Teilhabe und Schutz vor Verstörung. Kindgerechte Plattformregulierung: Multistakeholder*innen-Perspektiven in Zeiten von Krieg und Polykrisen‘. Sie haben Expert*innen befragt und bieten Einblicke in die Verletzlichkeit und die Schutzbedürfnisse von Kindern auf Plattformen wie TikTok. Basis dafür ist ihre These, dass größtmöglicher Schutz angestrebt werden muss, um Kindern Teilhaberechte zu ermöglichen.
An dieser Stelle möchten wir auch auf die Empfehlungen der UNO zu Kinderrechten in digitalen Umgebungen hinweisen, die wir begleitend auf unserer Website zur Verfügung stellen.
Mit ganz konkreten Fragen der Bildungspraxis setzt sich Verena Wilkesmann in ihrem Beitrag auseinander. In der Refugio Kunstwerkstatt finden Kinder und Jugendliche aus Krisen- und Kriegsgebieten einen sicheren Ort. Wilkesmann schildert, welche Faktoren notwendig sind, um Kindern und Jugendlichen Sicherheit zu bieten und ihre Resilienz zu fördern.
Ebenfalls online findet sich ein Gespräch mit einer Gymnasiallehrkraft für Deutsch und Geschichte aus Rheinland-Pfalz. Sie spricht über die Herausforderungen, den Ukraine-Krieg im Unterricht zu behandeln, insbesondere bei Schüler*innen aus russischen Familien. Die Lehrkraft berichtet über die anfängliche Betroffenheit, den Einfluss russischer Medien und ihre persönlichen pädagogischen Ansätze zur Förderung eines friedlichen Klassenklimas. Wie kann Frieden gelingen – und welche Rolle kann Bildungsarbeit dabei spielen? Diesen Fragen widmet sich Melanie Hussak in ihrem Beitrag ‚Dialogorientierung und Machtsensibilität in der Friedenspädagogik. Anregungen für Lernräume im Kontext gesellschaftspolitischer Kontroversen‘. Sie plädiert dafür, friedenspädagogische Lernprozesse zu nutzen, um sich mit der eigenen Involviertheit in Konfliktlagen auseinanderzusetzen und positive Perspektiven zu entwickeln.
Wir hoffen, mit diesen Beiträgen Denkanstöße zu liefern und Impulse für eine strategische Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen in der medienpädagogischen Bildungsarbeit zu liefern. Dazu beitragen sollen auch Informationsboxen mit empfehlenswerten Medienangeboten für Kinder zur Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden, unter anderem der bezaubernde Kinderfilm über Flucht und Freundschaft Slava, der Hund (Spielfilm).
Literatur
El-Mafaalani, A. (2018). Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Kiepenheuer & Witsch.
Kathrin Demmler ist Direktorin des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis und gemeinsam mit Prof. Dr. Bernd Schorb Herausgeberin von merz | medien + erziehung. Ihre Schwerpunkte sind Medien in Bezug auf die Förderung eines Wertebewusstseins, verschiedene Bildungsorte, Veranstaltungen und Netzwerke.
Selma Maglic ist medienpädagogische Referentin in der Abteilung Praxis des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Ihre Schwerpunkte sind diskriminierungssensible und rassismuskritische Medienpädagogik.
Dr. Georg Materna arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Forschung des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Seine Schwerpunkte sind die Meinungsbildung junger Menschen in sich wandelnden Öffentlichkeiten und universelle Extremismusprävention im Schnittpunkt von Medienpädagogik und politischer Bildung.
Dr. Ida Pöttinger, Gründungsmitglied von IAME (International Association for Media Education) war Vorstandsvorsitzende der GMK – Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur sowie Referentin am Landesmedienzentrum (LMZ) und an der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK).
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