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Kerstin Heinemann: re:publica 2023

Sommerzeit ist Festivalzeit. Aber wie lässt sich ein Festival mit einem ernsthaften Nachdenken über komplexe digitale und gesellschaftspolitische Transformationsideen verbinden? Die re:publica zeigt Jahr um Jahr, dass das geht. Unter dem plakativen Motto Cash – schließlich lässt sich selbst die beste Idee selten ohne Geld verwirklichen – fand vom 5. bis 7. Juni 2023 die 17. re:publica in Berlin statt. Auf 26 Stages und einem weitläufigen Areal wurde drei Tage lang in Kreuzberg diskutiert, gerungen, gelacht und der Atem angehalten. Die Vielfalt der Themen, die in zehn verschiedenen Tracks aufbereitet waren, beeindruckte nicht nur den*die Erstbesucher*in. Auch unter langjährigen Konferenztreuen war man sich einig, dass die Mischung gelungen war: Politik und Gesellschaft, Wirtschaft und Verantwortung, Technolo - gie und Wissenschaft, Medien, Arbeitswelten, Stadt und Land, Lernen und Wissen waren nur ein paar Themenfelder, die reichlich Stoff für spannende Vorträge und Diskussionen boten. So sprach die Soziologin Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung über Cash, Gender Gap und gesellschaftliche Ungleichheiten. Dabei machte sie anhand von einschlägigen Studien eindrücklich deutlich, dass wir von einer Erwerbstätigkeitsgesellschaft zu einer Tätigkeitsgesellschaft kommen müssen. Wenn wir nicht Cash gegen Care, Care gegen Health, Väter gegen Mütter ausspielen wollen, dann brauchen wir eine Gleichstellungspolitik, die die tatsächlichen Realitäten anerkennt und ihr politisches Handeln daran ausrichtet, so Allmendinger. Gleichstellungspolitik dürfe sich dann nicht mehr primär auf Frauen beziehen, sondern müsse die Menschen an sich in den Blick nehmen. Für eine funktionierende Gesellschaft müssen Erwerb, Care-Arbeit und Ehrenamt in eine flexible Balance gebracht werden. Um Frauen als revolutionärer Stein des Anstoßes ging es auch in weiteren beeindruckenden Keynotes. Gilda Sahebi und Natalie Amiri schilderten unter dem Titel Frau, Leben, Freiheit – dem politischen Slogan der iranischen Freiheitsbewegung – eindrücklich die dramatische Lage der Menschen im Iran. Wer glaubt, es seien Proteste der Frauen, irre, machten die beiden Journalistinnen deutlich. Die Bewegung ging von Frauen aus, mittlerweile ist sie zu einer geschlechts- und milieuübergreifenden Revolution geworden, bei der nichts Geringeres als die Frage der Demokratisierung des Irans auf dem Spiel steht. Mahsa Alimardani, die als Forscherin seit mehr als zehn Jahren Fragen zu Menschenrechten, Technologie und der freien Meinungsäußerung untersucht, widmete sich im selben Themenfeld der Perspektive, wie Technologie dabei helfen kann, die Menschenrechte im Iran zu stärken und den Stimmen der Bevölkerung Gehör zu verschaffen. Mit exit RACISM.Rassismuskritisch denken lernen übernahm Tupoka Ogette das Mikrophon und gab sehr emotionale Einblicke in Lebensrealitäten, Perspektiven und Herausforderungen Schwarzer Frauen in Deutschland. Die Notwendigkeit und gleichzeitige Erschöpfung Betroffener, immer wieder vom erlittenen Alltagsrassismus zu erzählen, war im vollbesetzten Auditorium mit Händen zu greifen. People of colour in einer weißen Mehrheitsgesellschaft sind wichtige Laut-Sprecher*innen, die zeigen, dass Rassismus nur dekonstruiert werden kann, wenn er als gesamtgesellschaftliches Problem begriffen wird, das zum Handeln herausfordert. Natürlich gaben sich auf einer gesellschaftspolitischen Konferenz dieser Art auch diverse Bundesminister*innen das Mikrophon in die Hand. So durfte Volker Wissing Fragen zum aktuellen Stand der Digitalstrategie beantworten, Robert Habeck widmete sich der ökologischen Transformation, Claudia Roth entwickelte Ideen zur Kulturpolitik nach Corona und Christian Lindner musste ein Gespräch zur Finanzierung unserer Zukunft überstehen. So weit, so erwartbar – auch in den politisch vorhersehbaren Antworten. Deutlich spannender waren die politischen Gespräche abseits der großen Bühnen. Gute Tradition auf diesem Digitalfestival ist es von Anfang an, sich in einem der zahlreichen Spaces auf Augenhöhe zu begegnen und jenseits hier - archischer Unterschiede die Diskurse der Bühnen fortzusetzen. Hier wird diskutiert, gerungen und gelacht, hier werden Kontakte geknüpft, Ideen weitergesponnen und Visionen vorangetrieben. Und so beginnen nicht selten viele Mails und Textnachrichten nach der Konferenz mit den Worten „bezugnehmend auf unser Gespräch auf der re:publica …“ Zwei Specials hatte die re:publica auch in diesem Jahr wieder zu bieten: Mit dem Media Summit wurde ein inhaltlicher Bereich geschaffen, der alles rund um Bewegtbild bündelte. Hier wachsen Content Creation und gesellschaftspolitische Diskurse zusammen, denn gerade letztere kommen nicht ohne ein gutes Storytelling aus. Auf der einen Tag überlappenden Tincon stand die junge Generation im Zentrum. Bei der Konferenz für digitale Jugendkultur ging es um Interessen und gesellschaftliche Teilhabe junger Menschen. Und dass sie etwas zu sagen haben, machten sie auf unschlagbare Weise deutlich: In Maker - spaces, Hands-ons, Diskussionsrunden und auf Podien. Dabei waren die thematische Vielfalt, die Komplexität und Professionalität, mit der Menschen zwischen 13 und 25 Jahren ihre Themen präsentierten, hoch beeindruckend. Bleibt zu guter Letzt nur die Frage, wie man ein Digitalfestival mit 25.000 Besucher*innen und 608 Sessions im Sommer 2023 ohne ChatGPT gestalten kann? Die Antwort dürfte nicht überraschen: Gar nicht! Denn natürlich kam kaum ein Talk ohne den Bezug zu digitalen Trendthemen wie KI aus. So wichtig diese Perspektive ist, so wohltuend war es aber auch, dass die fortschreitende Digitalisierung als ein Element gesamtgesellschaftlicher Transformationsaufgaben gesehen wurde. Auf der re:publica stand die Gesellschaft im Zentrum und nicht die KI.

 

Viele Vorträge sind als Videomitschnitt abrufbar.

re-publica.com/de


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