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Marcus Müller: Hartong, S. & Renz A. (2024). Digitale Lerntechnologien. Von der Mystifizierung zur reflektierten Gestaltung von EdTech. Bielefeld: transcript, 260 S., 30,00 €.

Hartong, S. & Renz A. (2024). Digitale Lerntechnologien. Von der Mystifizierung zur reflektierten Gestaltung von EdTech. Bielefeld: transcript, 260 S., 30,00 €.


Folgt eine neue Lernsoftware in der Schule den Logiken der Pädagogik oder denen der Technikunternehmen, die die Software entwickelt haben? Das Geschäftsmodell der Hersteller von Lernsoftware besteht in Datenerhebun-
gen und der Schaltung von Werbeanzeigen.nSprechen wir dann noch von Lernsoftware (EdTech) oder besser von Werbesoftware (Ad-Tech)? Im Sammelband Digitale Lerntechnologien, herausgegeben von Hartong und Renz,
konfrontieren die Autor*innen digitale Lerntechnologien mit solchen kritischen Überlegungen. Eine Besonderheit an diesem Sammelband sind kurze Interviews, welche die Herausgeber*innen mit Menschen aus der Praxis geführt haben. In diesen Zwischenspielen soll Stimmen Gehör geschenkt werden, die mit der praktischen Umsetzung von digitalgestützten Lernangeboten befasst sind, um eine möglichst lebensnahe Diskussion zu gewährleisten. Das Feld EdTech beschreiben die Herausgeber*innen als ein Werkzeug, dass primär Lehr- und Lerninhalte zugänglich machen und somit eine Erleichterung oder Unterstützung von  Lernprozessen ermöglichen soll. Außerdem stellen sie fest, dass im Bereich EdTech unterschiedliche Schwerpunktsetzungen auf Pädagogik oder Technik vorliegen, was zu unterschiedlichen Zielvorstellungen und entgegengesetzten
Interessen führen kann. Wie so oft wird hier wieder deutlich: Selten können mehrere Themenbereiche berührt werden, ohne dass hierbei Reibung entsteht. Der digitale Raum steht mit all den Möglichkeiten und Gefahren dem geschützten Raum der Schule gegenüber.

Die Herausgerber*innen beklagen eine Mystifizierung der Debatten um EdTech, bei der mit großen Begriffen wie Digitalisierung und globaler Gestaltung gearbeitet und so undeutlich wird, wovon eigentlich die Rede ist. Diesem Trend soll mit engem Praxisbezug und ausgewogenen Analysen entgegengestanden werden. Daher wird in diesem Buch anhand von konkreten Beispielen, wie Antolin, Lernmanagementsystem Hamburg (LMS-HH) oder Sofatutor eine Software- bzw. Plattformkritik vollzogen.

Auf der Leseplattform Antolin werden für analog gelesene Bücher Quiz für Kinder angeboten, die das Leseverständnis abfragen sowie die Lesemotivation steigern sollen. Anhand von Befragungen und Untersuchungen zur Nutzung der Plattform stellte sich heraus, dass vor allem die Punktebewertung durch die Plattform einen Einfluss auf das Lernen hat. So ist einigen Kindern das Punktesammeln bei den Quiz besonders wichtig; das Gelesene rückt dabei in den Hintergrund. Der Einsatz solcher Quantifizierungsmethoden, die manchmal sogar in die Benotung einfließen, beeinflusst die pädagogische Zielsetzung.

Zum Lernmanagementsystem Hamburg merkt Brandau an, dass „im initialen Softwaredesign von LMS-HH […] durch technische und auch politisch-strategische Entscheidungen“ bestimmte Annahmen über Bildung und Schule stecken, die es bei einer kritischen Auseinandersetzung zu identifizieren und zu diskutieren gilt.

Nach diesen Fallbeispielen folgt ein Analysewerkzeug von Deny und Weich, mit dem Praktiker*innen selbst eine Lernsoftware analysieren können sollen. Hierfür schlagen sie die Medienkonstellationsanalyse nach Weich vor, bei der vier Bereiche zu berücksichtigen sind. Neben der Materialität des Mediums sollen das Wissen und die Praktiken, die für die Benutzung des Mediums notwendig sind, betrachtet werden; zudem der Inhalt bzw. der konkrete Text und die grafischen Elemente oder Töne. Zuletzt geht es um die Subjektposition, also die spezifischen Anforderungen und Handlungsmöglichkeiten, die ein Medium von den beteiligten Personen verlangt. Diese Elementgruppen kann man durchgehen, wenn man ein bestimmtes Medium analysiert. Hierbei wird man zur Spezifizierung angehalten und soll so eine konkrete App statt pauschal digitale Technologien insgesamt analysieren. Die Autor*innen gestehen zu, dass dies „auf der einen Seite anstrengend, komplexitätssteigernd und auch niemals abgeschlossen“ ist, jedoch klarer definiert wird, „was überhaupt Gegenstand der Reflexion ist“. Insgesamt gelingt es in den Beiträgen häufig, ein Für und Wider der digitalen Technologien darzustellen, ohne sich voreilig einem der beiden Lager anzuschließen. Somit ist der Sammelband für Praktiker*innen interessant, die ihre eigene Position überdenken wollen oder mit einem Team in einer Bildungseinrichtung arbeiten, in der die Fronten der Befürworter*innen und Gegner*innen von Digitalisie-
rung verhärtet sind und eine Analyse etwa mithilfe der Medienkonstellationsanalyse für eine Versachlichung sorgen kann. Ungeachtet, ob man noch am Anfang der Einbindung von digitalen Geräten steht oder schon mittendrin ist – dieses Buch kann helfen, in die kritische Distanz zu treten, damit klarer wird, in welche Richtung es gehen soll.


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