Maximilian Niesyt: „Eigentlich mach‘ ich das gar nicht so freiwillig“
Reality TV und das falsche Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion
Der Schwindel von Newtopia
Als SAT.1 im Juli dieses Jahres die Tore von Newtopia schließen ließ, besiegelte der Münchener Privatsender nicht nur einen der größten kommerziellen Flops, sondern auch eine der aufsehenerregendsten Zuschauertäuschungen der deutschen TV-Geschichte. Mit immensem Aufwand hatte der Sender zuvor sein neues Reality TV-Format beworben, in der eine Gruppe aus 15 Kandidatinnen und Kandidaten, die sogenannten Pioniere, auf einem abgezäunten Landstrich in Brandenburg eine neue Gesellschaft mit eigenen Regeln und Normen aufbauen sollten. Natürlich begleitet von unzähligen Fernsehkameras, die Material für einen täglichen Zusammenschnitt der Ereignisse lieferten, mit dem die Zuschauerinnen und Zuschauer dauerhaft vor die Bildschirme gelockt werden sollten. Besonders betonte man bei Newtopia dabei stolz die vermeintliche Authentizität des Gezeigten: ‚echte‘ Protagonistinnen und Protagonisten fällen freie Entscheidungen, auf Eingriffe von Seiten der Produzierenden und des Senders wird komplett verzichtet – quasi ‚Unscripted Reality‘. Die ungefilterte Realität ohne Drehbuch. Eine glatte Lüge, wie sich Monate später herausstellte: Über den Internet-Stream von Newtopia konnten die Zuschauerinnen bzw. Zuschauer eines Nachts plötzlich verfolgen, wie die Kandidatinnen und Kandidaten seitens der Produktionsebene Regieanweisungen erhielten. Ein großer Schwindel, der ein vernichtendes Medienecho nach sich zog und die Einschaltquoten so in den Keller fallen ließ, dass SAT.1 nach nur 101 Tagen vorzeitig den Stecker zog und das Format absetzte.
Narratives und performatives Reality TV: Fragwürdige Zerrbilder von Welt
Der Fall Newtopia zeigt, dass speziell diese performative Gattung des sogenannten Reality TV, bei dem dramaturgisch in die tatsächlich stattfindende Wirklichkeit von Menschen eingegriffen wird, aus medienpädagogischer Sicht mehr denn je kritisch beäugt und bewertet werden muss. Ihr gegenüber stehen innerhalb des Genres Vertreter der narrativen Scripted Reality-Formate wie Mein dunkles Geheimnis (SAT.1), Schicksale (SAT.1) oder Verdachtsfälle (RTL), in denen Laiendarstellerinnen und -darsteller in fiktive Rollen schlüpfen und frei erfundene Geschichten inszenieren. Schon diese Sendungen entpuppen sich für Kinder und Jugendliche als nicht unproblematisch. Durch die dramatische Aufbereitung werden Konflikte stark überspitzt dargestellt, die Akteurinnen und Akteure streng in Gut und Böse eingeteilt und auf wenige Stereotype heruntergebrochen. Durch filmische Mittel wie eine bewusst dilettantische Kameraführung und eine pseudo-dokumentarische Erzählweise glauben nicht wenige jüngere Zuschauerinnen und Zuschauer, dass die gestellten Szenen echt seien und orientieren sich unter Umständen an den fragwürdigen Vorbildern der Sendungen. Zumindest im Abspann solcher Formate wird der ‚Fake‘ jedoch stets kenntlich gemacht (meist durch die Texteinblendung „Die Fälle und handelnden Personen sind frei erfunden“), so dass sich für Eltern und pädagogische Fachkräfte abseits der oftmals übertriebenen Machart ein Anknüpfungspunkt zur Aufklärung bietet.
Wenn der ‚Fake‘ als echt verkauft wird
Doch auch mit Wissen um die Inszenierung bleiben Scripted Reality-Sendungen bei jungen Zuschauenden hoch im Kurs. Die ‚Währungen‘, die dabei hohe Einschaltquoten garantieren, sind zum einen Realitätsnähe und Glaubwürdigkeit, zum anderen spannende und emotional packende Geschichten. Mit dem Bestreben, beide Erfolgsfaktoren miteinander zu kombinieren, haben performative Reality TV-Produktionen wie Newtopia oder das kürzlich zu Ende gegangene Promi Big Brother (SAT.1) eine zusätzliche problematische Ebene eröffnet – während Scripted Reality-Formate einen Hinweis auf die Inszenierung geben, liefern diese Produktionen keinerlei Einordnung. Stattdessen wird suggeriert: Hier agieren reale Menschen in Echtzeit unter ihrem Klarnamen. Das Gezeigte sei nichts anderes als das abgefilmte Leben. Inwiefern es produktionstechnischen Eingriffen unterliegt, bleibt offen. Dass diese tatsächlich existieren, das zeigen Berichte von ehemaligen Teilnehmenden an Sendungen wie Frauentausch (RTL II), Bauer sucht Frau (RTL) oder Schwiegertochter gesucht! (SAT.1). Aus dem offenen ‚Fake‘ wird so nicht selten eine undurchschaubare Täuschung.
„Eigentlich mach‘ ich das gar nicht so freiwillig“
Egal, ob eine deutsche Familie beim Auswandern gefilmt oder Daniela Katzenberger während ihrer Schwangerschaft mit der Kamera begleitet wird – grundsätzliche Skepsis über den Authentizitätsgehalt der Aufnahmen ist angebracht. Zu sehr haben Produzierende und Redakteurinnen sowie Redakteure bereits verinnerlicht, dass die handelnden Akteurinnen und Akteure bei aller Realitätsnähe auch spannende Geschichten abliefern müssen. Kinder und Jugendliche können deshalb nicht früh genug dafür sensibilisiert werden, dass auch in non-fiktionalen Inhalten im Fernsehen gerne mal ‚nachgeholfen‘ wird. Das kann schon im Kleinen beginnen, wie zum Beispiel bei einem Kandidaten der Castingshow Deutschland sucht den Superstar (RTL), der sich 2013 nach einem oberkörperfreien Gesangsauftritt vor laufenden Kameras ‚verplapperte‘, und gestand, die Produzierenden der Sendung hätten ihn zu der luftigen Kleiderwahl überredet („Eigentlich mach‘ ich das gar nicht so freiwillig“) – aber eben auch im großen Stil wie bei Newtopia stattfinden.
Big Brother is watching you again – der Kreis schließt sich
Denn das quotenträchtige Geschäft mit dem ‚wahren Leben‘ im Fernsehen ist noch lange nicht am Ende – im Gegenteil: es erlebt derzeit eine Renaissance. Seit Mitte September hat der Sender sixx mit Big Brother sogar wieder die ‚Mutter‘ aller Reality TV-Shows im Programm. Das Format aus den Niederlanden läutete im Jahr 2000 im deutschen Fernsehen die große Welle des Reality TV ein. Doch vor allem die Gewohnheiten der jüngeren Zuschauerinnen und Zuschauer haben sich inzwischen verändert. Beim kontrovers diskutierten Start der ersten Big Brother-Staffel standen noch ethische Fragen zur Debatte: Ist es menschenwürdig, mit Fernsehkameras derart kompromisslos in die Privatsund Intimsphäre des Einzelnen einzugreifen und zu unterhaltenden Zwecken zur Schau zu stellen? 15 Jahre später ist der öffentliche Diskurs diesbezüglich weitestgehend verstummt. Soziale Netzwerke im Internet haben Einzug in die Wohn- und Kinderzimmer gehalten und mit ihnen ist es für viele Kinder und Jugendliche selbstverständlich geworden, das eigene Privatleben einer (Teil-)Öffentlichkeit zu präsentieren und auch bewusst zu inszenieren. Dementsprechend seltener wird auch im Fernsehen der Authentizitätsgrad von dargestellter Realität überprüft. Das Comeback von Big Brother gibt Eltern und pädagogischen Fachkräften Gelegenheit, mit Heranwachsenden endlich mal wieder etwas genauer hinzuschauen.
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