Redaktion merzWissenschaft: Meinungsbildung in sich wandelnden Öffentlichkeiten
Editorial
Der öffentliche Diskurs ist in demokratischen Gesellschaften ein hohes Gut und seit Jahren bereits ein primär medialer. Diese hohe Wertschätzung der medialen Öffentlichkeit begründet sich in der Vorstellung, dass der über sie ausgetragene Diskurs in Hinblick auf aktuelle politische Fragestellungen Teilhabe ermöglicht (und sei es nur dadurch, dass unterschiedliche Argumente zur Kenntnis genommen werden), tragfähige Kompromisse herbeiführt (wenn die Kraft des besseren Arguments ihre Wirkung entfaltet) und sogar zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beiträgt, da sich potenziell alle in den Prozess der demokratischen Meinungsbildung eingeschlossen fühlen können. Aus dieser Vorstellung wurden Ansprüche an den über (Massen-)Medien geführten Diskurs formuliert und daraus wiederum unter anderem Privilegien von Medieninstitutionen abgeleitet.
Der Zusammenhang zwischen Meinungsbildung und öffentlichem Diskurs ist aber seit jeher Gegenstand der Forschung und erweist sich als von vielen Faktoren beeinflusst. Eine prominente Rolle nehmen in den Forschungsbemühungen der vergangenen Jahre die Wandlungsprozesse in der Medienlandschaft ein, die gerade im Online-Bereich zu beobachten sind. Die verschiedenen Öffnungsprozesse, die mediale Teilhabe für eine wesentlich größere Anzahl an Personen ermöglichen und über Plattformen neue Formen der Öffentlichkeit generieren, provozieren eine Vielzahl an Fragen, die mit dem diesem Heft zugrundeliegenden Call for Papers aufgegriffen wurden. Beispielhaft zu nennen sind netzspezifische Vergemeinschaftungsformen in interessenshomogenen Gruppen oder in Gruppen, die von stark polarisierenden Extrempositionen dominiert sind. Hier wird die integrierende Funktion der medialen Öffentlichkeit in Frage gestellt. Gleiches gilt bezüglich des Phänomens Filterblasen, zu denen obendrein die Forschungslage widersprüchliche Befunde zeitigt. Die Phänomene Fake News und alternative Fakten stellen die Funktion des Kompromisse-Findens in Frage, da hier die Geltung des sachlich besseren Arguments gezielt unterminiert wird. Eine immer weiter fortschreitende Bildorientierung als Facette der Mediatisierungsprozesse stellt zudem Herausforderungen an die Argumentation im Diskurs, da präsentative und diskursive Argumentationslogiken verschieden sind. Desweiteren sind neue Akteurinnen und Akteure als Meinungsführer oder sogenannte Influencerinnen bzw. Influencer in den Fokus gerade der jungen Generation gerückt. Und zu guter Letzt ist mit den Intermediären eine neue Mediengattung entstanden, die sie sich zwar auf einen Teil der Privilegien von Medieninstitutionen beruft, andere Verantwortungsbereiche jedoch von sich weist. Die Liste an Phänomenen ist damit noch nicht zu Ende und ließe sich fortführen. Der Wandel von Öffentlichkeit oder heute besser Öffentlichkeiten muss aber umfassender als nur mit dem Fokus auf den Online-Bereich betrachtet werden, wie einige Beiträge im vorliegenden Heft eindrücklich vor Augen führen. Zwar lohnt es, die oben angeführten Phänomene detaillierter zu betrachten, wie es in einer Reihe von Beiträgen geschieht. Zugleich zeigt sich der Blick auf die verschiedenen medialen Öffentlichkeiten und sogar auch non-mediale institutionelle Öffentlichkeiten als gewinnbringend, wenn eine aktuelle Einschätzung der Bedeutung von Öffentlichkeit für Meinungsbildung vorgenommen werden soll. Drei Fokuspunkte wurden im Call zum Heft in den Fokus gerückt, da sie aus Sicht der Redaktion besonders beachtenswert und hierzu empirische Arbeiten wie auch konzeptionelle Überlegungen angeregt werden sollten.
Fokuspunkt Akteure und Strukturen
Die übergreifende Frage ist, welche Akteurinnen und Akteure und Strukturen aktuell für Meinungsbildungsprozesse ausschlaggebend
sind. Mit Influencerinnen und Influencern wie auch Intermediären wurden bereits neue Akteure bzw. Strukturen benannt, die neben etablierte Akteure und Strukturen getreten sind. Daneben gilt es aber auch Soziale Netzwerkdienste und dahinter stehende Algorithmen in den Blick zu nehmen.
Fokuspunkt Inhalte und Diskurse
Auch die Art der Kommunikation im Netz entwickelt sich weiter. Lassen sich neue Strategien und Phänomene in aktuellen netzbasierten Diskursen erkennen? Und sind diese auch auf spezifische bzw. neue Ziele ausgerichtet? Um die inhaltlichen Diskurse im Internet hinsichtlich ihrer Bedeutung für Prozesse der Meinungsbildung charakterisieren zu können und Bedeutungen unterschiedlicher Argumente und Darstellungsweisen zu verstehen, sind Analysen der Diskurse in ihren unterschiedlichen Erscheinungsweisen und an verschiedenen Orten notwendig.
Fokuspunkt individuelle Prozesse der Meinungsbildung
Die zentrale Aufgabe der Medienpädagogik besteht darin, die Subjekte darin zu unterstützen, einen kompetenten Umgang mit den sie umgebenden Medien zu entwickeln, um diese kompetent in allen Bereichen des sozialen und gesellschaftlichen Lebens in Gebrauch nehmen zu können. Der souveräne Umgang mit den Informations- und Deutungsangeboten der unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure bringt neue Herausforderungen mit sich. Diese gilt es zu benennen, um zum einen entsprechende Forderungen an politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger richten und andererseits konkrete Unterstützungsangebote entwickeln zu können. Die Notwendigkeit spezifischer Kompetenzen im Umgang mit politischer Information und den damit verknüpften Diskursen im Internet ist aus der Sicht von Christoph Haker und Lukas Otterspeer virulent. In ihrem Beitrag legen sie dar, wie erziehungswissenschaftliches Wissen herangezogen wird, um neurechte politischePositionen zu legitimieren. Um solche Vorgehensweisen durchschauen zu können, ziehen sie Konsequenzen, die sie insbesondere bei der Vermittlung digitaler politischer Bildung verorten. Um eine mündige Meinungsbildung zu unterstützen ist diese gefordert, einzelne dazu zu befähigen, „sich und andere als Verwenderin bzw. Verwender von (wissenschaftlichem) Wissen zu verstehen und zu reflektieren“. Um die Verwendung und Entwicklung von Wissen, das jeher mit Meinungsprozessen verknüpft ist, dreht sich der Beitrag von Johannes Gemkow. Anhand einer Dispositivanalyse über Praktiken der Wissensgenerierung und -prozessierung auf Wikipedia zeigt er exemplarisch, wer die Macht darüber hat und welches Wissen an die Öffentlichkeit gelangt. Dabei identifiziert er drei Typen von Meinungsbildungsprozessen: (1) kollaborativ-meritokratische, (2) expertokratisch-professionalisierte und (3) oligarchischtechnokratische Meinungsbildungsprozesse. An die Medienpädagogik richtet er auf Basis dessen die Frage, wie solchen Prozessen und damit verbundenen Machtformen entgegengetreten werden kann. Einen möglichen Weg sieht er darin, die Dimension der reflexiven Medienkritik in Baackes Medienkompetenzmodell auszudifferenzieren und an die drei Typen von Meinungsbildungsprozessen anzulehnen. Mit einer anderen Plattform für Meinungsbildungsprozesse und Meinungsbildung beschäftigen sich Sandra Ziewiecki und Carsten Schwemmer, die sich in ihrem Artikel der Vernetzung und den dahinter liegenden Strukturen von Influencerinnen und Influencern der 50 deutschen meist abonnierten YouTube-Kanäle widmen. Dabei zeigt sich, dass die Netzwerke einerseits von den Influencerinnen und Influencern aufgebaut werden, „um die eigene Reichweite zu steigern, was wiederum in positiven Netzwerkeffekten für das gesamte Netzwerk mündet“ (S. 25). Der Zuspruch zu den Einzelnen sowie zu deren Netzwerken kommt auch YouTube als Plattform zugute, da diese dadurch als Werbeplattform an Attraktivität gewinnt. Ziewiecki und Schwemmer legen die ökonomisch motivierten Netzwerkstrukturen der Influencerinnen und Influencer auf YouTube deutlich. Aufgrund deren Komplexität sehen sie hier mit Blick auf jugendliche Nutzerinnen und Nutzer einen großen Bedarf für die medienpädagogische Praxis. Während sich die ersten drei Beiträge mit Meinungsbildungsprozessen im Internet und den damit verknüpften strukturellen Besonderheiten verschiedener Plattformen auseinandergesetzt haben, lenken die beiden darauf folgenden Beiträge den Blick auf die Nutzenden. Ole Kelm nimmt dabei die Zielgruppe der Politikerinnen und Politiker auf der einen Seite und die von diesen adressierten Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite in den Blick, während sich Georg Materna jugendlichen Nutzerinnen und Nutzern und ihrem Umgang mit islamistischen und islamfeindlichen Inhalten im Internet zuwendet. Mittels einer empirisch-quantitativen Erhebung setzt sich Ole Kelm damit auseinander, in welcher Weise Politikerinnen und Politiker die sozialen Netzwerkdienste Facebook und Twitter nutzen, um mit Bürgerinnen und Bürgern in den Austausch zu treten. Dabei fragt er auch danach, welche Vermutungen diese bezüglich der Erwartungen von Bürgerinnen und Bürgern haben. Diese Frage richtet er ebenso an die Bürgerinnen und Bürger selbst und will ergänzend wissen, inwiefern sie die sozialen Netzwerkangebote von Politikerinnen und Politikern nutzen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger weitgehend mit den Angeboten der Politikerinnen und Politiker übereinstimmen. Dennoch nutzen sie diese nur zögerlich. Da die interaktiven Angebote jedoch einen größeren Einfluss auf die Meinungsbildung besitzen als unidirektionale Informationsangebote (vgl. S. 49), schlussfolgert er, dass es dennoch lohnend wäre, genauer zu untersuchen, welcher soziale Netzwerkdienst für die Kommunikation mit welcher Zielgruppe besonders geeignet ist. Politische Meinungsbildung steht auch im Fokus des Beitrags von Georg Materna. Im Rahmen einer Studie, die sich methodisch an der reflexiv-praktischen Medienaneignung orientiert, hatten Jugendliche die Möglichkeit, sich in Forschungsworkshops in Jugendtreffs mit bildbasierten niedrigschwelligen, islamistischen sowie islamfeindlichen Inhalten in Sozialen Medien auseinanderzusetzen. Dabei zeigte sich, dass sie zwar sowohl in semiprivaten Räumen, nämlich in der Kommunikation mit einem beschränkten Personenkreis, als auch in semiöffentlichen Räumen, in denen sie in Kontakt mit einem nicht weiter eingeschränkten Empfängerkreis stehen, agieren. Dabei verhalten sie sich in semiöffentlichen Räumen sehr zurückhaltend, während sie in semiprivaten Räumen eindeutiger positionieren. Materna zieht daraus den Schluss, dass insbesondere semiprivate Räume von Bedeutung für die Meinungsbildung Jugendlicher sind. Der Blick auf ein bestimmtes Phänomen – Fake News – bestimmt den Beitrag von Ines Welzenbach-Vogel und Karin Knop. Basierend auf einer Analyse wissenschaftlicher Beiträge zu Fake News aus verschiedenen Disziplinen arbeiten die beiden Autorinnen heraus, wie sich Fake News inhaltlich bestimmen lassen, welche Akteurinnen und Akteure Fake News generieren und welche Motivationen hier zugrunde liegen. Ein weiterer Fokus liegt auf der Frage, wie häufig Nutzende mit Fake News in Kontakt kommen und inwiefern sie dies erkennen und schließlich welche individualpsychologischen Verarbeitungs- und Aneingungsmechanismen den zugeschriebenen Wahrheitsgehalt beeinflussen. Aus den Erkenntnissen entwickeln sie (Medien-)Kompetenzen, um „kritisch, reflektiert und zielführend“ mit Informationen im Internet umgehen und sich vor Falschinformationen schützen zu können. Mit der Entwicklung von Kompetenzen im Umgang mit netzbasierten Informationsangeboten setzen sich auch Silke Marchand und Lea Rump auseinander. Sie beziehen sich dabei auf die von Wolfgang Klafki beschriebene „Grundfähigkeit der Allgemeinbildung zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität“ und konkretisieren diese in Bezug auf Soziale Medien, die sie als Kritische Öffentlichkeit im Sinne von Habermas verstehen. Sie kommen zu dem Schluss, dass für Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität in Sozialen Medien Fähigkeiten erforderlich sind, die für die politische Bildung und die Menschenrechtsbildung grundlegend sind. Darüber hinaus sind jedoch auch spezifische Kenntnisse notwendig, um unter anderem die „medienspezifischen Grenzen der Partizipationschancen anderer“ reflektieren zu können. Den Abschluss dieser Ausgabe von merzWissenschaft bildet ein Beitrag von Ulrike Hemberger, die für ein wissenschaftliches Themenheft eine eher ungewöhnliche Textsorte gewählt hat. In einem Essay zeichnet sie den Diskurs über das Gedicht avenidas des Alice-Salomon-PoetikPreisträgers Eugen Gomringer nach, das von 2011 bis 2018 an der Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin zu lesen war. Sie zeigt darin, wie sich aus einer ursprünglich demokratischen Debatte eine Diskussion entwickelte, die auch in den Print- und Onlinemedien geführt wurde und in deren Verlauf konservative und sich autoritär zeigende Positionen den Mainstream bestimmten.
Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge zu diesem Heft, das die Breite des Themas zeigt und doch längst nicht alle Facetten abbilden kann. Wir wünschen allen eine anregende und inspirierende Lektüre.
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