Michael Gurt: Alles echt? Reality TV ohne Ende
Reality TV gibt es im deutschen Fernsehen schon relativ lange. Als Vorläufer gilt die Sendung Aktenzeichen XY im ZDF, die 1968 das erste Mal auf Sendung ging. Mit Hilfe des Publikums sollten Straftaten im Rahmen der Öffentlichkeitsfahndung aufgeklärt werden. Dazu wurden in jeder Sendung drei bis fünf ungelöste Kriminalfälle in Form von filmischen Rekonstruktionen vorgestellt. Im Anschluss wurden die Zuschauerinnen und Zuschauer aufgefordert, durch Hinweise zur Aufklärung der Kriminalfälle beizutragen. In dieser Tradition steht auch die Sendung Notruf (RTL) mit Moderator Hans Meiser, in der tatsächliche Ereignisse – meist Katastrophen, Unfälle oder Verbrechen – nachgestellt oder durch Videoaufnahmen (z. B. Überwachungskameras) dokumentiert wurden. Meist wurde der Verlauf der Unfälle mit den Beteiligten an Originalschauplätzen nachgedreht. Off-Kommentare und Kurz-Statements der Unfallbeteiligten, des Rettungspersonals und der Ärzte begleiten und strukturieren dabei die filmischen Sequenzen. Durch die mitunter drastische Darstellung der Gefühle und schmerzhaften Verletzungen der Beteiligten sollte das Publikum auf einer emotional mitreißenden Art und Weise angesprochen werden. Dazu wurden die filmischen Sequenzen häufig mit Musik unterlegt, des Weiteren wurden Zeitlupe und ähnliche Elemente eingesetzt. Für manche Eltern war Notruf eine Art Aufklärungsunterricht, um Kindern und Jugendlichen die Gefahren des Alltags nahe zu bringen: Ich sag’ ‚guck dir das an’, dass er mit keinem mitgehen soll … oder die Tür nicht öffnen darf, wenn er alleine ist“ (Theunert 1996, S. 25), begründete eine Mutter, warum sie gemeinsam mit ihrem Sohn die Sendung Notruf anschaut. In den folgenden Jahren wurden weitere narrative Reality TV-Angebote entwickelt, unter anderen Nur die Liebe zählt (Sat.1) oder Verzeih mir (RTL).
Statt lebensbedrohlicher Situationen oder Verbrechen standen hier romantische Gefühle, Liebeserklärungen und Versöhnung von zerstrittenen Partnern im Mittelpunkt. Gemeinsam war all diesen Sendungen ein hoher Grad von Emotionalisierung. Andere Varianten des „Affektfernsehens“ (Klaus/Lücke 2003, S. 197) waren Suchsendungen oder Konfrontations-Talkshows (Der heisse Stuhl (RTL)). Mit Big Brother (RTL II) startete dann im Jahr 1999 der Prototyp des sogenannten „performativen Reality TV“ (ebd., S. 199). Hier wird die Sendung zur „Bühne einer nicht-alltäglichen Inszenierung, die jedoch direkt auf die Lebenswirklichkeit der Kandidatinnen und Kandidaten eingreift“ (ebd.). An Big Brother entzündete sich besonders heftig die Diskussion über Formen und Grenzen dieser neuartigen Fernsehformate. Vor allem die Frage, ob die Zurschaustellung von Privatpersonen in ihrer Privat- bzw. Intimsphäre legitim ist, selbst wenn es mit Zustimmung der beteiligten Personen geschieht. Die öffentliche Erregung verschaffte dem Format enorme Aufmerksamkeit und machte auch vor dem jüngeren Publikum nicht halt. So war zu Beginn die Neugier auch bei (älteren) Kindern und Jugendlichen groß. Laura (16 Jahre) brachte diese Faszination auf den Punkt: „Es ist authentischer als die meisten Daily-Soaps. Da ist alles sehr authentisch, wahr gelebt.“ (FLIMMO-Kinderbefragung 1/2001) Aktuelle Einschaltquoten zeigen, dass die mittlerweile elfte Staffel von Big Brother bei Kindern und Jugendlichen kaum noch eine Rolle spielt. Dagegen sind Castingshows wie Deutschland sucht den Superstar (RTL) bei Kindern und Jugendlichen nach wie vor populär. Die Sendung hat in Deutschland einen wahren Castingshow-Boom ausgelöst. Ein Grund für die Popularität der Sendung dürften auch die verbalen Einlassungen des Jury-Chefs Dieter Bohlen sein. Die Beschimpfung wenig talentierter Bewerber wurde zum Markenzeichen der Sendung und führte bereits mehrfach zur Beanstandung durch die KJM. „Die hämische Inszenierung der Auftritte untalentierter Kandidaten und die herabwürdigenden Kommentare der Jury stellen Menschen bloß und können zusehende Kinder in ihrer Entwicklung beeinträchtigen“, so die KJM anlässlich der Einleitung eines Ordnungswidrigkeits-Verfahrens im Jahr 2008. Überhaupt spielt der kalkulierte Tabubruch im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit in diesem Programsegment eine wichtige Rolle: „Die öffentliche Sensibilität um Skandale im Reality TV, die sich zuletzt vor dem Start des Formats Erwachsen auf Probe gezeigt hat, droht zum kalkulierten, ja strategisch geplanten Kommunikationsereignis im Interesse des ausstrahlenden Senders zu werden, wenn sie sich auf folgenlose, öffentliche Empörung beschränkt.“ (Lünenborg et al. 2011, S. 12) Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurde eine Vielzahl von Programmformaten des Reality TV entwickelt, mit sehr unterschiedlichem Erfolg.Während manche Sendungen nach schlechten Quoten schnell wieder verschwunden sind (z. B. Girls Camp (Sat.1) und The Big Boss (RTL)) wurden andere zu echten Dauerbrennern (Frauentausch (RTL II)). Die aktuelle Programmlandschaft zeigt eine große Zahl von Sendungen, in denen vorgeblich Wirklichkeit abgebildet wird oder – im Sinne des performativen Reality TV – reale, nichtprominente Menschen in konflikthaften und mehr oder weniger dramatischen Settings zur Schau gestellt werden. Derzeit lassen sich vor allem drei Ausprägungen zusammenfassen:
„Help-TV“: Das Fernsehen als Retter in der Not
Auch wenn das Sendungskonzept variiert, letztendlich werden Menschen mit mehr oder weniger großen Problemen in unangenehmen, verzweifelten und ausweglosen Situationen gezeigt: egal ob Menschen mit Übergewicht (The biggest Looser (Kabel1)), mit massiven Erziehungsproblemen (Die Supernanny (RTL), Teenager außer Kontrolle (RTL)), oder mit Schwierigkeiten bei der Bewältigung des eigenen Alltags (Schluss mit Hotel Mama (Kabel 1), Das Messie-Team – Start in ein neues Leben (RTL II)). Die Dramaturgie solcher Sendungen läuft immer ähnlich ab: Zunächst wird die problematische Finanz-, Familien- oder Lebenssituation in drastischer Weise in Szene gesetzt, die dann mithilfe eines Experten oder einer Expertin bearbeitet wird. Dabei setzt die Sendung auf Stereotype und Vereinfachung, differenzierte Ursachenforschung wird kaum betrieben. Stattdessen werden die Schwächen und Probleme der Beteiligten lustvoll ausgeschlachtet: Die Qualen beim Abnehmen, die Hilflosigkeit überforderter Eltern in Konfliktsituationen mit ihren Kindern, die Unfähigkeit sogenannter Messies, sich dem Chaos in den eigenen vier Wänden zu stellen. Dabei wird die Vorstellung transportiert, dass durch eine einmalige Hilfsaktion grundlegende und nachhaltige Verbesserung für die Betroffenen herbeigeführt werden kann. Dass dies nicht der Realität entspricht, wird von Fachleuten aus den Bereichen Erziehungsberatung, Psychotherapie und Pädagogik immer wieder betont. Ein Coaching der besonderen Art wird jungen Männern in der Sendung Das Model und der Freak – Falling in Love am Nachmittag auf PRO 7 zuteil. In jeder Sendung sollen zwei schüchterne Eigenbrötler zu „ganzen Kerlen“ gemacht werden. Die Kandidaten werden zunächst als einfältige Trottel und alltagsuntaugliche Verlierer in Szene gesetzt, um dann von attraktiven und weltgewandten Models ‚beziehungstauglich‘ gemacht zu werden. Dabei soll zum Beispiel fehlendes Körpergefühl durch die Kontaktaufnahme mit einer Stripperin gefördert werden, ein neues Outfit soll Selbstvertrauen schaffen et cetera. Die „Freaks“ müssen Häme und Schadenfreude über sich ergehen lassen, um bereit zu sein für ihr neues, besseres weil ‚normales‘ Ich. Wie in allen Formaten dürften sich die Beteiligten kaum über die Konsequenzen im Klaren sein. Nämlich was es bedeutet, im Alltag als „Freak“, „Messie“ oder „Problemkind“ aus dem Fernsehen erkannt zu werden.
Alltag nach Drehbuch: Scripted Reality
Andere Sendungen zeigen einen mehr oder weniger dramatischen Alltag nach Drehbuch. „Scripted Reality“ werden solche gestellten Dokumentaraufnahmen genannt. Schon bei Ermittlungs- und Gerichtsshows wurde nach diesem Prinzip verfahren, mittlerweile gibt es immer mehr Formate, die auf dieses Stilmittel zurückgreifen. Mit „Scripted Reality“ wird der Eindruck erweckt, die Zuschauerinnen und Zuschauer seien bei realem Geschehen live dabei. Stattdessen werden die Geschichten von Laienschauspielerinnen und -schauspielern in Szene gesetzt. Die Produktionskosten sind gering und die Konflikte können auf diese Weise viel effektvoller dargestellt werden. Vor allem am Nachmittag finden sich zahlreiche Vertreter dieser Form des Reality TV. Egal ob große Familienstreitigkeit, Computersucht, bevormundende Großeltern oder nachlässige Väter: Mitten im Leben (RTL) lässt das Publikum an den Problemen fiktiver Menschen teilhaben. Genervte Ehefrauen, traurige Kinder oder rebellierende Jugendliche klagen vor der Kamera über Schwierigkeiten, Ungerechtigkeit oder erlittene Schicksalsschläge. Bei der Suche nach den Ursachen wird mit Schuldzuweisungen nicht gespart: Die Konflikte werden detailliert ausgetragen – dramatische Gefühlsausbrüche inklusive. Oft sind in die Problemfälle Kinder und Jugendliche verwickelt, zum Beispiel in X-Diaries – love, sun & fun (RTL II). Dort spielen jugendliche Laiendarsteller angebliche Urlaubsgeschichten auf Ibiza, Mallorca und an ähnlichen Urlaubsorten. Die Kamera folgt den ‚Urlaubern‘ dabei eine Woche lang auf Schritt und Tritt, die gespielten Konflikte, Dialoge und sexuellen Aktivitäten werden dabei von den Beteiligten ausgiebig kommentiert.
Experimente, Rollentausch und Selbstinszenierung
Im Gegensatz zu Scripted-Reality liegt beim „performativen Reality TV“ (z. B. Big Brother) kein Drehbuch vor. Stattdessen werden Kandidaten in einer schwierigen, konflikthaften ‚Zwangslage‘ mit der Kamera begleitet. Diejenigen, die sich in dieser Situation als ausdauernd und leidensfähig erweisen und sogenannte ‚Challenges‘ meistern, haben gute Chancen, vom Publikum zum Sieger bzw. zur Siegerin gekürt zu werden. Bei Frauentausch (RTL II) etwa tauschen zwei Mütter für jeweils zehn Tage ihre Familien. Mit nur wenig Kontakt zur eigenen Familie erbringen die Tauschmütter ihren Alltag mit der Tauschfamilie. Von Anfang an kommt es zu dramatischen Gefühlsausbrüchen oder handfesten Streitigkeiten aufgrund unterschiedlicher Meinungen über Haushalt und Familienleben. Dies umso mehr, da gezielt Familien mit unterschiedlichen Lebensweisen und Gewohnheiten ausgewählt werden, was zu Konflikten führt, die die Teilnehmer an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führen. PRO 7 kürt auch dieses Jahr wieder das Sommermädchen. Um diesen Titel tragen zu dürfen, stellen sich die Kandidatinnen zahlreichen Herausforderungen. Eine rasante Fahrt in der Achterbahn zählt ebenso dazu wie ein Fotoshooting unter Wasser. Letztendlich dienen diese Aufgaben den Kandidatinnen als Bühne, um den eigenen mehr oder weniger makellosen Körper zu präsentieren. Bei diesem Schaulaufen werden Missgunst und Konflikte unter den jungen Frauen geschürt. Die Kandidatinnen sind von Anfang an auf eine bestimmte Rolle festgelegt, etwa die „Drama-Queen“ oder das „Luder“. Die Kamera bleibt dran, wenn Tränen fließen, wenn sich Angst, Frust oder Enttäuschung Bahn brechen. Diese Gefühle sind vorprogrammiert, denn der quotenträchtig aufgebauschte Zusammenbruch ist Teil der Inszenierung.
Offene Fragen und Ausblick
Gerade ältere Kinder sind neugierig, in vorgeblich realitätsnahen, authentischen Sendungen das Verhalten von Teenagern und Erwachsenen zu beobachten. Sie erhoffen sich Anregungen für die eigene Identitätsarbeit und das eigene Alltagshandeln: Wie muss ich mich verhalten, um beim anderen Geschlecht anzukommen? Welches Verhalten führt zu gesellschaftlicher Anerkennung? Welche Rolle, welches ‚Image‘ passt zu mir? Vor diesem Hintergrund erscheinen die Art der Darstellung und die gezeigten Inhalte der meisten Reality TV Formate aus pädagogischer Sicht äußerst problematisch. Dabei lassen sich vor allem drei Problembereiche identifizieren: - Kindern fällt es noch schwer, die ‚gemachte Fernsehrealität‘ als solche zu durchschauen, weil durch dramaturgische und technische Gestaltungsmittel die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischt werden. Dies dürfte vor allem auf Kinder zutreffen, die über wenig Strukturwissen bezüglich der Inszenierung von Fernsehformaten verfügen. - Entsprechend groß ist das Risiko, dass Kinder die gezeigten Handlungsmuster und Vorbilder der Sendungen ernst nehmen. Die Inhalte und Botschaften bekommen durch die Inszenierung als Pseudorealität‘ mehr Gewicht, es fällt schwerer, sich vom Gezeigten zu distanzieren. - Die beteiligten Personen werden vorgeführt, ihre Probleme und Eigenarten ausgeschlachtet. Dies kann die Vorstellung begünstigen, dass das Vorführen und Lächerlich-machen von Menschen zu Unterhaltungszwecken legitim ist. Darüber hinaus wird fragwürdiges Sozialverhalten als Normalität dargestellt. Vor diesem Hintergrund wäre es wichtig, vorhandenes Wissen zur kindlichen Fernsehrezeption in Bezug auf Reality-TV-Formate zu vertiefen und vor allem die Frage zu klären, inwieweit Kinder die Inszenierungsformen des Reality TV durchschauen, welche Unterschiede es in der Rezeption von Kindern und Jugendlichen gibt und welche Unterstützungsformen geeignet sind, um Kindern die Einordnung solcher Formate zu erleichtern.
Literatur
FLIMMO-Kinderbefragung 1/2001: www.flimmo.tv/downloads/BerichtBigBrother.pdf [Zugriff 21.07.2011].
Klaus, Elisabeth/Lücke, Stephanie (2003). Reality TV – Definition und Merkmale einer erfolgreichen Genrefamilie am Beispiel von Reality Soap und Docu Soap. In: Medien- und Kommunikationswissenschaft 2003/2. Baden-Baden: Nomos Verlag, S. 195-212.
Lünenborg, Margreth/Martens, Dirk/Köhler, Tobias/Töpper, Claudia (2011). Skandalisierung im Fernsehen. Strategien, Erscheinungsformen und Rezeption von Reality TV. Berlin: Vistas.Theunert, Helga (1996). „Da kann ich lernen, was ich nicht machen soll“. Kinder rezipieren Reality-TV. In: Schorb, Bernd/Stiehler, Hans-Jürgen (Hrsg.), Medienlust – Medienlast. Was bringt die Rezipientenforschung den Rezipienten? München: kopaed, S. 17-30
Zurück