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Nicole Lohfink: The Outrun

Oder wie heilt man eine schmerzende Seele

„Ich bleibe nur kurz“, mit diesem Satz und Abwandlungen davon will Rona ihrer Umgebung und vor allem sich selbst versichern, dass alles normal ist und ein normales Leben in London auf sie wartet. Aber sie ist wieder zu Hause,im Norden Schottlands, in einsamer, ländlicher Gegend und im Grunde ist Rona sich über gar nichts mehr sicher. Vor allem nicht darüber, wer sie selbst eigentlich ist, wenn sie nüchtern bleibt.


DER WEG ZU SICH SELBST
Bei The Outrun handelt es sich um eine Adaption von Amy Liptons Buch mit dem gleichen Titel von 2016, in dem Lipton ihren eigenen Weg aus dem Alkoholismus beschreibt und verarbeitet. Alles beginnt mit einer jungen Frau, die frisch aus der Entzugsklinik in ihr elterliches Heimatdorf zurückkehrt, um dort Abstand von der Großstadt zu finden und sich neu zu definieren. Sie wirkt innerlich aufgewühlt und hin- und hergerissen.
Durchsetzt von episodenhaften Erinnerungen und Ronas Stimme geht es mit Rona zusammen auf die Reise. Von der jungen Frau, die sich in der Hauptstadt des Landes ein Le-ben aufbaut, studiert, mit ihrem Freund zusammenzieht und auch gern mal Party feiert. Über den Griff zur Flasche als Ventil, bis die Kontrolle über das Leben und ihre Beziehungen ein Scheinbild wird und die Wahrnehmung zerbrechlich. Nach einem Schlüsselerlebnis begibt sich Rona schließlich auf Entzug.Und nun ist sie hier, auf den Orkney Islands, am äußersten Rand von Zivilisation, und ganz alleine mit sich selbst. Was wie schwere Kost klingt, ist in The Outrun eine anrührende Mischung; ein fein ausbalancierter Akt von stilistischen Mitteln, Erzählebenen und einer bewegenden Geschichte einer Frau aus dem hohen Norden Schottlands, der der Schwere auch eine Leichtigkeit entgegensetzt. Ronas Blick balanciert zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung – das Publikum hat stets eine enge Verbindung zu ihrer Perspektive und das erzeugt ein ambivalentes Gefühl der Distanzierung und des Mitfühlens der Situationen, in denen Rona sich findet – ganz so, wie es Rona selbst zuweilen geht. Zum Beispiel, wenn sie sich inmitten einer feiernden Gruppe von Menschen distanziert und abgeschnitten fühlt, und kurz vor die Tür geht; und im nächsten Moment durch ein Gespräch mit einem Nachbarn aus dem Ort, der sich ihr öffnet, schlagartig wieder mit dem Hier und Jetzt verbunden ist. Ronas Innenwelt ist transparent, genauso wie ihre Suche nach einer Brücke. So wechselt sie zwischen Überforderung, dem Sog der Sucht, echten zwischenmenschlichen Begegnungen und Einsamkeit. Dabei wirkt das Bewegen in diesem Spannungsfeld der Kindheits-Erlebnisse und den Rückblicken in die Großstadt, sowie die Befreiung von elterlichen Vorstellungen wie ein zweites Coming-of-Age. Denn auch der Vater hat eine Geschichte von psychischer Instabilität, die letztendlich zur Trennung der Eltern geführt hatte, und die Mutter fand Trost im wieder entdeckten Glauben und im Kreis der Bibelfreunde, mit denen Rona nichts anfangen kann.


NATUR ALS AKTIVES SPIEGELBILD
Die ungestüme Natur der Orkney Islands spielt eine eigene Hauptrolle. Wie eine äußere Entsprechung toben Sturm und Wellen oder geben kleine Schätze in ruhiger Brandung preis. Dabei wirkt jede Geste Ronas, jedes Gespräch wie unter einem Brennglas. Ein langsamer Prozess entfaltet sich und die erzählerischen Mittel und der Heilungsprozess von Rona nähern sich immer weiter aneinander an. Ihre Gedanken bleiben nicht losgelöst aus dem Off gesprochen, sie verbinden sich wieder mit Ronas Situationen. Zum Beispiel besucht die Mutter sie auf der einsamen Insel, auf der Rona für eine Naturschutz-Organisation ein Praktikum absolviert. Hier zeigt Rona wieder Begeisterungsfähigkeit für die Meeresbiologie, und erzählt ihrer Mutter von dem, was sie fasziniert, und wie es sich verbindet, mit dem, was sie im Studium mal interessiert hatte.Was lange verdeckt war vom existentiellen Ringen mit der Sucht und deren Folgen, taucht langsam wieder auf.


ALTE UND NEUE ERZÄHLFORMEN BEGEGNEN SICH
Die leise und feine Leistung des Films ist die Verbindung von modernen, filmischen Mitteln
mit der klassischen Katharsis der griechischen Tragödie. An deren Ende steht ein seltener, vielschichtiger und einfühlsamer Einblick in die Mechanismen von Sucht und der Befreiung daraus.So ist The Outrun ein ehrlicher Film, mit starker schauspielerischer Leistung, viel Feingefühl und poetischen Momenten, aber auch schonungsloser Augenblicke, der sich unter dieHaut schleicht.


AUS DEM LEBEN GEGRIFFEN
Umso beeindruckender ist auch die Tatsache, dass der Film tatsächlich inmitten der Familie und Freund*innen von Buchautorin Amy Lipton gedreht wurde. Sogar der Wohnwagen im Film, in dem Ronas Vater wohnt und beide Gespräche miteinander führen, ist der reale Wohnort von Amys Vater, in dem das Film-Team drehen durfte. So war Regisseurin Nora Fingscheidt auch die ganze Zeit mit ihr im Gespräch und nennt als eine der besonderen Herausforderungen bei der filmischen Realisierung die Verantwortung, der Geschichte gerecht zu werden – und die Verantwortung gegenüber dem noch lebenden Menschen, respektvoll mit dessen persönlichen Erfahrungen umzugehen, sowie dessen Umfeld zu berücksichtigen.


ANTI-HELD*INNEN SEHEN
Filmemacherin Nora Fingscheidt hat schon früher bewiesen, dass sie mit herausfordernden Themen umgehen kann. Sie schlug erstmals Wellen mit ihrem Langfilm-Debüt „Systemsprenger“, der 2019 auf der Berlinale Premiere feierte. Mittlerweile ist eine amerikanische Neuverfilmung von System Crasher in Arbeit, was durchaus als Kompliment gewertet werden kann. Für Fingscheidt war der große Erfolg von Systemsprenger ein Sprungbrett, das unter anderem die nächsten beiden großen Projekte zu ihr brachte. Die Netflix-Produktion The Unforgivable mit Sandra Bullock war eines davon. The Outrun ist nun ihr dritter Film und begann zuerst mit dem autobiografischen Buch, das ihr von Produzentin Sarah Brocklehurst zugeschickt wurde, während Fingscheidt noch in Los Angeles am Schnitt ihres zweiten Films arbeitete. Inmitten der Pandemie, auf einem anderen Kontinent, in eine Geschichte über Heilung an einem einsamen Ort am Rande von Europa einzutauchen, traf bei Fingscheidt ins Schwarze und sie übernahm die Regie. The Outrun feierte seine Premiere auf dem Sundance Film Festival im Januar 2024, bevor der Film im Februar dann auf der Berlinale erschien.

THE OUTRUN
Vereinigtes Königreich/ Deutschland 2024, 117 min.
Regie: Nora Fingscheidt
Drehbuch: Nora Fingscheidt, Amy Liptrot, Daisy Lewis
Darstellende: Paapa Essiedu , Saoirse Ronan, Saskia Reeves, Stephen Dillane, Lauren Lyle


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