Paus-Hasebrink, Ingrid/Kulterer, Jasmin (2014). Praxeologische Mediensozialisationsforschung. Langzeitstudie zu sozial benachteiligten Heranwachsenden. Baden- Baden: Nomos. 416 S., 64 €.
Integrativ, explorativ, wegweisend
Die Autorinnen leiten den umfangreichen Band ein mit einer programmatischen Grundlegung einer „praxeologischen Mediensozialisationsforschung“, die auch „engagierte Sozialforschung“ sein möchte. Herausgestellt wird damit von Anfang an, dass das Projekt neben dem wissenschaftlichen Anliegen auch ein soziales verfolgt, da ein unverbundenes Nebeneinander von Praxiskonzepten als den sozialen Problemen unserer Zeit nicht mehr entsprechend angesehen wird. Diese werden konkret benannt als sozio-ökonomische Polarisierung der Gesellschaft in Form von Reichtum auf der einen, Armutsbetroffenheit auf der anderen Seite (S. 18), damit einhergehende grassierende Orientierungsverluste, welche die zunehmende Überforderung zumindest eines Teils der Heranwachsenden forcieren und wechselwirkend mit gravierenden Prozessen des familialen Wandels, die nicht zuletzt den Geltungsradius des herkömmlichen Familienbegriffs irritieren (S. 25), zu besonderen Herausforderungen führen können. Gegenüber partikulären, auf einzelne Segmente beschränkte Perspektiven wird vom Salzburger Autorenteam dezidiert die Gesamtperspektive der Medien im Familienalltag aus interdisziplinärer Sicht stark gemacht: „Dabei gilt es, die Rolle von Medien im Gesamtkontext von sozialisationsprozessen mit Hilfe eines theoretisch und methodisch aufeinander abgestimmten, kohärenten Vorgehens in ihrer Komplexität und Vielfalt zu erfassen“ (S. 29). Als erkenntnisleitend wird dabei die Fragestellung formuliert, welche Relevanz Medien bei Kindern vom Kindergartenalter an bis hin zur beginnenden Pubertät bei der Identitätskonstruktion, beim Aufbau von Wissen und bei der Wertevermittlung zukommt (S. 29).
Als vorrangige analytische Blende wird dabei auf die Beziehung zu anderen Sozialisationsumwelten, vorrangig der Familie, gesetzt. Konkretisiert wird dieses Credo in einem Drei-Ebenen-Modell: Auf der Makro-Ebene platziert sind hierin sozialstrukturelle Faktoren wie Einkommen und Bildung der Eltern, die das Milieu einer Familie mitbestimmen. Dazu kommen politische, wirtschaftliche und kulturelle Kontexte eines Landes. Sie zirkeln das Feld ab, innerhalb dessen Familien leben – sie etablieren ein je zu untersuchendes Spannungsfeld von Spielräumen einerseits, Restriktionen andererseits. Auf der Mesoebene der Familie stellte sich die Frage nach den sozialen Ressourcen jeder einzelnen Familie in Abhängigkeit von der makrostrukturellen Verankerung. Auf der Mikroebene ist das jeweils interessierende Kind angesiedelt. Als direkte Umsetzung dieses Rahmenmodells rekurrieren die Salzburger Forscherinnen auf den Ansatz der „alltäglichen Lebensführung“ (S. 37). Im Vordergrund steht hier die Frage, wie der Alltag von den Akteurinnen und Akteuren aufgrund bestimmter Ressourcen und Restriktionen in jeweils typischer Weise bewältigt wird (S. 37 ff.). Vorrangig geht es um die konkreten Tätigkeiten. Ergänzt wird dieser Blick auf das Tun durch einen reflektierten Ansatz zu den „Methoden der Sinngebung“, welche es dem Individuum erlauben, seine Chancen im jeweiligen Feld der Tätigkeit zu taxieren. Dabei wird unter Rekurs auf Bourdieu hervorgehoben, dass diese Einschätzungen keineswegs hochreflexiv ablaufen, sondern eingebettet sind in den milieuspezifischen Habitus (S. 41). Verdichtet wird der konzeptionelle Apparat schließlich durch den wichtigen Hinweis darauf, dass der Medienumgang in Familien sinnvoll gerahmt werden kann als in Entwicklungs- und Lebensaufgaben eingebettet (S. 43). Das verhindert wiederum eine isolierte und künstliche Betrachtungsweise des Medienensembles.
Kapitel 2 erläutert eingehend das methodische Design der Studie. Unterstrichen wird, dass die Studie aus mehreren Teilforschungen zusammengesetzt ist, es sich um eine qualitative Längsschnittstudie handelt und unter anderem Interviews aus unterschiedlichen Akteursperspektiven durchgeführt worden sind (S. 57 ff.). Als zentrales Selektionskriterium für die Rekrutierung der Kinder und deren Familie galt die soziale Lage, die im Anschluss an die moderne Sozialstrukturforschung mehrdimensional operationalisiert wurde. Als fundierend für das eigene Vorgehen wurden geringes Einkommen und geringe Bildung herangezogen, da diese für die interessierende niedrige/deprivierte soziale Lage zentral sind (S. 65). Zusätzlich erwies sich die regionale Lage als sehr bedeutsam. Die sieben Jahre Erhebungszeitraum werden hinsichtlich des methodischen Vorgehens und der Veränderungen der Untersuchungspopulation plastisch umschrieben (S. 67); die Auswertungsschritte detailliert rekonstruiert (S. 69). In vorbildlicher Weise dokumentiert der ausführliche Anhang (S. 297) die Leitfadeninterviews, die Frageinstrumente zur Einordnung der Familien, die Codewortbäume zur Auswertung der Elternwie Kinderinterviews sowie die Auswertungsmatrix für die kontextuelle Einzelfallanalyse. Die Ergebnisdarstellung ist wie folgt organisiert: Auf die entwicklungsphasenfokussierte Darstellung von der Kindheit bis zur frühen Kindheit folgt die Rekonstruktion ausgewählter Einzelfälle. Profilartig beschrieben wird jeweils die Typik der Medienbedeutung und -nutzung im Kontext der gesamten familialen Lebensführung. Markant sticht hier die große Fluktuation der konkreten Lebensbedingungen über den Beobachtungszeitraum ins Auge. Ferner wird sehr gut nachvollziehbar, wie stark Mediengebrauch verwoben ist mit dem gesamten Identitäts- und Kompetenzprofil der Kinder sowie deren Entwicklungsthemen, die ihnen im Rahmen der jeweiligen Familien nahegelegt werden.
Den Kern der Ergebnisdarstellung bildet eine Typologie zu den Familien der Mediensozialisationsstudie. Denn nach Auffassung der Autorinnen zeigen sich über alle vier Wellen hinweg keine alle sozial deprivierten Familien gemeinsam charakterisierenden Muster. Die Schlussfolgerung daraus lautet dann: Mediensozialisation ist ein multifaktoriell beeinflusster Prozess. Die deprivierte soziale Lage der Familien wird mit anderen Worten je unterschiedlich verarbeitet. „Gleichwohl weisen die verschiedenen Bewältigungsformen über Familien hinweg gewisse Gemeinsamkeiten auf, die auf die Existenz verschiedener Typen von Familien hinweisen, die für die (Medien-)Sozialisation unterschiedliche Voraussetzungen schaffen. Diese Erkenntnis bietet die Grundlage für die im Folgenden auf Basis von 18 Familien der Mediensozialisationsstudie vorgestellte Bildung von Familientypen“ (S. 234 f.). Zwei Merkmalsdimensionen wurden zur Typenbildung herangezogen; einerseits die sozio-ökonomischen Bedingungen der Familie, zum anderen die sozio-emotionale Situation der Familie. Jeweils überprüft wurde, welchen Stellenwert diese Dimensionen für die Familien haben bzw. welches Problempotenzial sie aufweisen. Übergeordnetes Ziel der Typenbildung ist es somit, den komplexen und dynamischen Prozessen in der Lebensführung der Familien vor dem Hintergrund ihrer sozio-ökonomischen Situation und sozio-emotionalen Beziehungskonstellation insbesondere und der Kernbeziehungsgruppe gerecht zu werden und sie nachvollziehbar abzubilden. Auf die einordnende Typisierung, zum Beispiel zu „Typ 1: Massive sozio-ökonomische Probleme als multiple Deprivation: Die rundherum überforderten Familien“ folgen eingängige Deskriptionen konkreter Familien (S. 243). Insgesamt gesehen lässt die Typologie inklusive der detail- und aufschlussreichen Fallskizzen den für die Familien- wie die Medien- wie auch Sozialisationsforschung bedeutsamen Schluss zu, dass die Gesamtheit der Lebensbedingungen und der realisierten Lebensführung von Familien im Sinne eines Gelingens oder Nichtgelingens des Alltags entscheidend sind für die Mediensozialisation der Kinder (S. 261). Zu dieser Gesamtheit gehört neben der soziostrukturellen Verortung auch das Familienklima. Ein weiterer wesentlicher Erkenntnisgewinn des Projektes besteht in dem Nachweis, dass es nicht die Werte als solche sind, die zu wenig erfolgreichen Mediensozialisationspfaden führen, sondern auch Kumulationen konkreter familialer Belastungen.
Damit wird der üblichen negativen Familienrhetorik „Unterschichtfamilien können‘s nicht anders“ der Wind aus den Segeln genommen. Die Studie hat alles in allem einen Standard in Sachen integratives konzeptionelles und empirisches Vorgehen vorgelegt, der nicht mehr unterboten werden sollte. Es bleibt zu hoffen, dass weiterhin Forschungen dieser Art gefördert werden, damit die Medienwissenschaften im Verbund mit anderen materialen Sozialwissenschaften wie der Familienforschung weiter voranschreiten in der subtilen Rekonstruktion von Lebensführung, sozialen Praktiken und Subjektivierungsformen der stetig an Bedeutung gewinnenden alten wie neuen Medien.
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