Postman, Neil (1983). Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt/M: Fischer.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Lohnt es, sich mit einem Buch zu beschäftigen, das 1983, weit vor dem Internetzeitalter, erschien? Ja – wenn es auch heute Inspiration und Herausforderung bietet. Postman tut genau dies. Er entwickelt – unter Zuhilfenahme der Zivilisationstheorien von Freud und Elias – eine Geschichte der Kindheit, die stets gebunden ist an Literalität in der Gesellschaft. Zunächst prägte der Buchdruck das Bild vom Kind, das als ‚lesend und lernend‘ gesehen wurde, mit der Wende von der literalen zur bildhaften Welt dreht sich dieses Bild: Wissen wird nicht mehr jahrelang erworben durch Lesen, sondern ist unmittelbar verfügbar. Der Trennungsstrich zwischen Kindheit und Erwachsensein ist damit aufgehoben – und stellt Postman und seine Leserschaft vor die grundsätzliche – und von ihm nicht beantwortete – Frage, was dies für die Neugier der Kinder und die Autorität der Erwachsenen bedeutet. Postmans Gedanken zu den Veränderungen der Kindheit durch das mediale Zeitalter und Folgerungen für die pädagogische Praxis machten dieses Buch – das ich gelesen habe, als ich in der offenen Jugendarbeit beschäftigt war – für mich zu einer großen Inspiration und zeigten mir: Ganz gleich wie man als Privatperson die medialen Entwicklungen bewertet, es führt für Pädagoginnen und Pädagogen kein Weg dran vorbei, deren Potenziale zu nutzen. Zugleich war das Buch immer auch Herausforderung: Die kulturpessimistischen Haltungen zwangen mich, genau hinzuschauen, selbst zu prüfen und zu erkennen: Postmans Beobachtungen stimmen, aber seine Bewertung, dass damit ein Niedergang der Kultur verbunden sei, liegt wohl eher seiner Wahrnehmung als Ostküsten (der USA)-Professor. Seinen negativen Blick auf die Entwicklung der Moral der Gesellschaft konnte ich bei Jugendlichen nicht nachvollziehen – zumal er soziale Fragen des Zugangs wie auch Fragen nach dem Erwerb einer digitalen Kompetenz generell außer Acht lässt.
Albert Fußmann ist Direktor des Institut für Jugendarbeit Gauting. Seine Schwerpunkte sind Neue Medien und Kulturelle Bildung. Seit 2013 ist er in der Redaktion von merz | medien + erziehung tätig.
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