Schluchter, Jan-René (2010). Medienbildung mit Menschen mit Behinderung. München:kopaed. 206 S., 16,80 €
Viel mehr als Kompensation
Wenngleich die Medienpädagogik in den letzten Jahren verstärkt die Verschränkung mit anderen Pädagogikfeldern sucht (z.B. Erlebnispädagogik, Kunstpädagogik), so führt doch die Medienarbeit mit Menschen mit Behinderung eher ein Schattendasein. Dies liegt sicher darin begründet, dass zwar einige praktische Erfahrungen damit vorliegen, es aber an theoretischen Konzepten für eine solche Arbeit mangelt. Erschwerend kommt hier noch hinzu, dass der Fokus beim Einsatz von Medien in der Behindertenpädagogik nicht auf der „Medienbildung“ oder gar der „aktiven Medienarbeit“ liegt, sondern dass Medien in erster Linie als technische Hilfsmittel gesehen und mit dem Begriff der „Kompensation“ von Behinderung verknüpft werden. Das vorliegende Buch von Jan-René Schluchter macht hier den ersten Schritt, sich wissenschaftlich mit dem Thema „Medienbildung mit Menschen mit Behinderung“ zu befassen und liefert für die Intersektion von Medienpädagogik und Behindertenpädagogik wichtige Impulse.
Die Analyse von Experteninterviews in Anlehnung an die „Grounded Theory“ zeigt deutlich, dass großes Potenzial in der Medienarbeit mit Menschen mit Behinderung liegt, welches bei weiten nicht ausgeschöpft ist. Vor allem die Einbeziehung als Expertinnen und Experten aus der Praxis eröffnet die Möglichkeit, praktische Erfahrungen in die Theoriebildung einfließen zu lassen, was viel zu selten geschieht. Bei aller Unterschiedlichkeit der Definition von Behinderung und Behindertenpädagogik bildet das Konzept des Empowerments einen übergeordneten Bezugsrahmen, der für die Behindertenpädagogik wie auch für die aktive Medienpädagogik Geltung besitzt. Hier zeigt sich ganz deutlich: Je weiter sich die Medienarbeit mit Menschen mit Behinderung vom kompensatorischen Ansatz der technischen Hilfestellung löst, desto mehr Schnittstellen ergeben sich mit dem Konzept der aktiven Medienarbeit nach Fred Schell. Denn sowohl bei nicht behinderten wie bei behinderten Menschen gilt es im Bildungsprozess vor allem, den Beteiligten das Erleben von ‚Selbstwirksamkeit‘ zu ermöglichen. Hier weist die Arbeit nicht nur die Wirksamkeit einer solchen Medienarbeit nach, sondern zeigt neben dem Bedarf an der Entwicklung von weiteren theoretischen wie praktischen Konzepten auch die Wirksamkeit einer Medienbildung mit Menschen mit Behinderung auf. Vor allem aus der letzten Erkenntnis erwächst eine soziale Verantwortung, die Medienarbeit mit Menschen mit Behinderung weiter auszubauen - auch jenseits von Sparzwängen und Finanzkrisen.
Der vorliegenden Arbeit ist zu wünschen, dass es ihr gelingt, den ins Stocken geratenen Diskurs über die Medienbildung mit Menschen mit Behinderung wieder stärker in den Fokus der medienpädagogischen Diskussion zu rücken. Für die weitere Diskussion könnte auch die der Inklusionspädagogik, die vor allem innerhalb der Behindertenpädagogik starke Beachtung findet, weitere Impulse geben: Hier gibt es radikale Vorstellungen – etwa die separierte Beschulung behinderter und nichtbehinderter Menschen völlig aufzuheben – , die weit über die Idee der bloßen Integration hinausgehen und darauf abzielen, gemeinsame Bildungsprozesse von Menschen mit und ohne Behinderung zu organisieren. Vor allem muss es aber gelingen, jenseits von Barrierefreiheit und Kompensation von Behinderungen über medienpädagogische Konzepte mit Menschen mit Behinderungen nachzudenken. Für eine solche Diskussion liefert das vorliegende Buch genügend Ansatzpunkte. Bleibt nur zu hoffen, dass diese auch genutzt werden.
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