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Günther Anfang: Von Athen lernen?

    Zur Person

    Vielleicht wäre es für die documenta 14, die aktuell in Kassel stattfindet, besser gewesen, erst einmal von den Erfahrungen der vergangenen documentas zu lernen. Denn was diese documenta auszeichnet, ist eher Beliebigkeit als ein stringentes und pfiffiges Konzept. Neues steht neben Altem, Kunst aus Griechenland neben Leihgaben aus aller Welt und das Ganze ist wenig inspirierend. Schon das Programmheft ist so unübersichtlich, dass man immer wieder darin blättert, um nachzuvollziehen, wo was warum ausgestellt wird. Relativ sicher ist dabei, dass alles, was im Fridericianeum ausgestellt wird, aus dem Athener Nationales Museum für Zeitgenössische Kunst (EMST) stammt. Im Gegenzug wurde alles aus dem Fridericianeum nach Athen verfrachtet. Kulturaustausch nennt man das. Die Grundidee des Kurators der documenta 14, Adam Szymczyk, war ja, die documenta dieses Mal an zwei Orten – in Kassel und in Athen – stattfinden zu lassen.

    Da waren die Athener gar nicht so begeistert, denn wieso sollen sie plötzlich eine Veranstaltung gut finden, die nicht ihre eigene ist? Kunst haben sie in Griechenland wahrlich genug. Und Sorgen haben sie wahrlich auch andere. Wir schenken euch ein bisschen Kunst, aber die Kredite erlassen wir euch nicht, könnte man böse behaupten. Einige sprechen sogar von Kulturimperialismus. Nun gut, das Festival in Athen kann von meiner Seite aus nicht weiter bewertet werden, da ich nicht selbst dort war. Aber dafür können Eindrücke von Kassel wiedergegeben werden. Und die sind leider nur bedingt positiv. Es fängt schon damit an, dass Kassel an und für sich keine besonders attraktive Stadt ist. Die documenta hätte da die Chance, alle fünf Jahre Glanz in die Stadt zu bringen. Auf dem Friedrichsplatz gelingt das auch ein bisschen, denn da steht ein großer, aus verbotenen Büchern bestehender Parthenon. Der macht erst einmal was her. Allerdings wird bei näherem Betrachten klar, welche Bücher da alles als verboten verbaut wurden. Da sind die Buddenbrooks ebenso dabei wie der Da Vinci Code. Insgesamt 50.000 Bücher, die irgendwo auf der Welt einmal verboten waren oder es heute sind, sollen den Parthenon der Bücher nach dem Willen der argentinischen Künstlerin Marta Minujín bilden. Als Kunstprojekt ist es eine Neuauflage des Parthenons, den sie 1983 in Argentinien zum Ende der Militärdiktatur errichten ließ. Damals waren es aber verbotene Bücher der Militärdiktatur. In Kassel sind es alle Bücher, die irgendwo und irgendwann einmal verboten waren.

    Hier fängt die Beliebigkeit dieser documenta an. Vieles erschließt sich den Besucherinnen und Besuchern nicht, und bei vielen Exponaten bleibt unklar, warum sie ausgestellt wurden. Die Kunst der Gegenwart ist dieses Mal an viel zu vielen Orten verteilt und geht im Sammelsurium der bestehenden Ausstellungen unter. Irgendwie weiß man nie genau, gehört das nun dazu oder hängt es auch normalerweise im jeweiligen Ausstellungsgebäude. Somit bleiben wenig erhellende Eindrücke. Da sticht noch am meisten die Neue Galerie heraus, die in der ehemaligen Hauptpost und Briefzentrum von Kassel untergebracht ist. Hier beeindrucken sowohl der Ort der Ausstellung, eine riesige Industriehalle, als auch die verschiedenen zum Teil großflächigen Exponate. Und hier wird die documenta endlich auch politisch. Das Video 77sqm_9.26min (2017) rekonstruiert die Ermordung des 21-jährigen Halit Yozgat in seinem Internetcafé im Jahr 2006. Forscher des Forensic Architecture Institute London bezweifeln in dem Video, dass der damalige hessische Verfassungsschützer Andreas Temme von dem Mord durch den NSU nichts mitbekommen hat. Das Video ist auf drei Bildschirme aufgeteilt: Auf einem ist eine Zeitleiste zu sehen, auf dem anderen nachgestellte Szenen mit Schauspielern, auf einem anderen laufen Computeranimationen ab. Obwohl oder gerade weil es nüchtern gehalten ist, berührt das Video und lässt Besucherinnen und Besucher der documenta mit vielen Fragen zurück.

    Mit einer ganz anderen Ausprägung von Gewalt beschäftigt sich eine Künstlerin, die der Gemeinschaft der Sámi in Norwegen angehört. Máret Ánne Sara hat einen morbiden Vorhang aus 300 Rentierschädeln mit Einschusslöchern (Pile o’ Sápmi, 2017) geknüpft. Sie erinnert damit an den Kampf der Sámi um die eigene Identität, zu der das Halten kleiner Rentierherden gehört. Die wiederum waren immer wieder von massenhaften Zwangskeulungen betroffen. Auch hier ist man unwillkürlich mit Fragen konfrontiert, die den Umgang mit Minderheiten im Land betreffen und warum sich hier niemand dagegen stellt. Eine weitere wichtige Fragestellung, die die documenta aufgreift, ist der Umgang mit Flucht in Europa. Diesem Thema widmen sich vor allem die Exponate in der documenta Halle. Der mexikanische Künstler Guillermo Galindo macht hier mit Wrackteilen von Booten (Fluchtzieleuropahavarieschallkörper, 2017) auf das Leid von Flüchtlingen aufmerksam. Allerdings stellt sich Besucherinnen und Besuchern auch hier die Frage, inwieweit ein pittoreskes kaputtes Boot das Leid der Flüchtlinge sichtbar machen kann. Hier steht man als Gaffer vor einer tragischen Geschichte und bekommt das Gefühl nicht los, sich am Leid der Flüchtlinge noch zu ergötzen.

    Schließlich und endlich wird man auf der documenta 14 dann doch noch provoziert und es bleibt offen, ob hier nicht ein Skandal riskiert wird. Provokateur ist der Peruaner Sergio Zevallos, der in der Neuen Galerie seine Arbeit A War Machine ausstellt. Zavallos übernimmt in seiner Installation pseudodokumentarisch die Schädelmaße, mit denen Ethnologen zu Kolonialzeiten beweisen wollten, dass ‚Wilde‘ von Natur aus dumm sind. Die Maße legt er an (vermeintlich) geborene Kriminelle an. Am Ende formt er daraus Schrumpfköpfe und erstellt eine Fotowand mit Fotos, auf der man zum Beispiel das mutmaßliche NSU-Mitglied Beate Zschäpe findet. Aber auch ein Foto von der Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen oder der IWF-Chefin Christine Lagarde. Fraglich bleibt hier, ob das dumm dreist oder einfach nur oberflächlich provokativ ist. Ich weiß es nicht, genau so wenig, wie ich etwas über das Konzept dieser documenta weiß.

    Die documenta 14 in Kassel läuft noch bis 17. September 2017.

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