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Konstanze Wegmann: „Schließlich sehen doch alle Schwarzen irgendwie ziemlich gleich aus, findest du nicht?“

    Zur Person

    Boie, Kirsten (2014). Schwarze Lügen. Hörbuch, Goya Libre. 378 Min., 19,99 €.

    Melody (15 Jahre) lebt mit ihren Geschwistern Amadeus (17 Jahre) und Soprano „Soppy“ (4 Jahre), ihrer Mutter und ihrem Stiefvater in einer kleinen schäbigen Wohnung irgendwo im Norden Deutschlands unweit der Ostsee. Die Familie hat ihre afrikanische Heimat verlassen und ist nach Deutschland gekommen, als der leibliche Vater drohte festgenommen zu werden. Nach dieser Beschreibung dürfte in den Köpfen vieler schon ein Bild der Familie entstanden sein. Ist dies ein negatives Bild? Bestätigen sich darin gesellschaftlich verfestigte oder zumindest zirkulierende Vorurteile? Die hier selektierten und entkontextualisierten Informationen sind auch das, was viele Charaktere der Geschichte (zunächst) sehen und wissen. Diese Informationen und visuellen Eindrücke – mit einer ständigen Betonung des ‚Schwarzseins‘ – formen ihr Bild von Familie Kwakye. „Schließlich sehen doch alle Schwarzen irgendwie ziemlich gleich aus“, ist dabei eine wiederkehrende Äußerung.

    Doch ein genauerer Blick lohnt sich: Herr Kwakye sollte festgenommen werden, als er sich als Universitätsdozent gegen die Regierung aussprach. Da die Eltern eine Vorliebe für deutsche Hochkultur in Literatur und Musik hatten und Deutschland daher für „das wunderbarste Land der Welt“ hielten, entschieden sie sich für Deutschland als Ziel ihrer Migration. Kurz nachdem Soppy geboren wurde, starb der Vater und die Mutter heiratete den Alkoholiker Herrn Schnappgans, den die Geschwister „der Arsch“ nennen. Da die ausländische Qualifikation der Mutter nicht anerkannt wird, geht sie putzen, verdient alleine jedoch nicht genügend Geld, um der Familie den Aufenthalt in Deutschland sichern zu können. Daher muss die Familie mit „dem Arsch“ zusammenleben, der nach einem Arbeitsunfall seine geringe Rente, den Lohn der Mutter und das Kindergeld in Alkohol investiert. Melody fühlt sich in Deutschland zu Hause, ist sehr gut in der Schule und spielt im Schulorchester. Trotzdem gehört sie in ihrer Schule in einer reichen Wohngegend, die Amadeus und Melody auf Wunsch der Eltern besuchen, um sich eine ‚sozial anerkannte‘ Basis zu ermöglichen, nicht richtig dazu und sieht sich im Alltag immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert. Einen Tag vor Melodys Soloauftritt bei einem großen Schulkonzert beschädigt der Stiefvater in einer Auseinandersetzung die von der Schule geliehene Klarinette und sie darf nicht am Konzert teilnehmen. Damit sich ihre Mutter wegen der Ehe mit „dem Arsch“ nicht noch mehr Vorwürfe macht, beschließt Melody, ihr nichts von dem geplatzten Auftritt zu erzählen und die Nacht nicht zu Hause zu verbringen. Vor sich selbst rechtfertigt sie dies als Notlüge oder „white lie“, wobei sie darüber nachdenkt, dass „black lie“ – daher der Titel des (Hör-)buches – aufgrund ihrer Hautfarbe passender wäre.

    Durch diese Notlüge, einige Vorfälle und Missverständnisse landet Melody in der Nacht schließlich auf dem Grundstück von Herr Sönnichsen, einem reichen, nahezu blinden Rentner, der sie zunächst für seine Enkelin hält. Da Melody nicht nach Hause kommt, gehen ihre Mutter und ihr Bruder Amadeus zur Polizei, um sie als vermisst zu melden. Hier wird Amadeus aber für einen gesuchten Bankräuber gehalten und in Untersuchungshaft gebracht. Melody wird verdächtigt, seine Komplizin zu sein, die mit dem Geld auf der Flucht ist. Der wahre Täter ist jedoch Amadeus‘ Nachhilfeschüler Lukas, der erpresst wird und Geld für Drogen benötigt. Um den Verdacht auf seinen Nachhilfelehrer zu lenken, hat er am Tatort eine Voodoo-Puppe und einen Zettel mit Amadeus‘ Fingerabdrücken hinterlegt. Nach dem Überfall sind Lukas und Melody zufällig zusammengestoßen und haben versehentlich ihre Taschen vertauscht, weshalb Melody das Geld aus dem Überfall unwissentlich bei sich trägt. Bei Herrn Sönnichsen trifft Melody auf den rassistisch eingestellten Jugendlichen Kenneth, der zu Besuch bei seiner Großtante, Herrn Sönnichsens Haushälterin, ist. Als er die Fahndungsbilder im Fernsehen sieht, konfrontiert er sie mit den Vorwürfen. Melody kann ihn jedoch von ihrer Unschuld überzeugen und für sich gewinnen. Schließlich trifft Herr Sönnichsens echte Enkelin, Linda von Altenhagen, ein.

    Diese lebt zwar in finanzieller und sozialer Sicherheit, hat aber unter ihrem gefühlskalten Politiker-Vater zu leiden. Als die drei ungleichen Jugendlichen erfahren, dass Lukas Soppy entführt hat, um von Melody das Geld aus dem Banküberfall zu erpressen, meistern die drei die gefährlichen Herausforderungen gemeinsam.Schwarze Lügen erzählt eine Geschichte des Bestehens, Reproduzierens und Hinterfragens von kulturellen und sozialen Stereotypen und Vorurteilen. Durch ihr gemeinsames Ziel und die ‚wirklichen‘ Erfahrungen und Eindrücke, legen die drei Jugendlichen aus unterschiedlichen kulturellen und sozialen Hintergründen ihre gegenseitigen Vorurteile immer weiter ab. Lukas‘ rassistische Vorstellung, eine Voodoo-Puppe am Tatort würde den Verdacht sofort auf einen Dunkelhäutigen lenken, wird anfangs scheinbar bestätigt, als die Polizei der Spur zunächst in diese Richtung folgt. Tatsächlich zeigt dies jedoch nur, dass Lukas und die Polizei den Voodoo-Puppen-Fund an einem Tatort gleich deuten (würden), die Voodoo-Puppe als Symbol bzw. Zeichen also entlang des gleichen Vorurteils dekodieren. Dass der Zusammenhang zwischen Amadeus und der Voodoo-Puppe konstruiert sein muss, fällt dem Polizisten erst auf, als er seine scheinbar unbewusst rassistische Denkweise kritisch hinterfragt: „Das einzige, was zusammenpasste, waren seine afrikanische Herkunft und die Puppe. Der Junge selbst und die Puppe aber ganz sicher nicht.“ Es wird deutlich, dass die nationale bzw. kulturelle Herkunft nicht der nationalen bzw. kulturellen Identität entsprechen muss. Vielmehr handelt Amadeus – wie auch Melody – seine Identität mit einer Summe an verschiedenen nationalen, kulturellen und sozialen Einflüssen aus.

    Die durch den Vorfall erlangte Erkenntnis des Polizisten kann auch als eine zentrale Botschaft der Geschichte bezeichnet werden: „Im tiefsten Inneren, tief unter ihren bewussten Überzeugungen, hatten sie alle ein Bild davon, wie Afrikaner eben waren. Auch wenn sie alles dafür taten, keine Vorurteile zu haben, waren sie nicht wirklich dagegen gefeit.“ Zudem wird – wie eingangs bereits angedeutet – gezeigt, dass ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital zwar in wechselseitiger Beeinflussung stehen, jedoch immer unter den jeweils spezifischen Bedingungen betrachtet werden sollten. Familie Kwakye hatte in ihrem Heimatland einen hohen sozialen Status und besitzt viel kulturelles Kapital, das eigentlich auch in Deutschland als solches anerkannt ist. Ihre beruflichen Qualifikationen sind jedoch wertlos, weshalb ihnen der Zugang zu ökonomischem und damit verbundenem sozialen Kapital an der ‚besseren‘ Schule verwehrt bleibt. Was als Eindruck nach außen bleibt, ist der einer immigrierten Familie, die mit einem deutschen Alkoholiker in einer schäbigen Wohnung zusammenlebt, um in Deutschland bleiben zu dürfen.

    Dass Amadeus und Melody begabt und fleißig sind, wird wegen ihres Hintergrundes und ihres niedrigen finanziellen Status‘ – Melody bezeichnet ihre Familie als „Familie Werbung“, weil sie fast ausschließlich mit Werbegeschenken ausgestattet ist – von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern kaum anerkannt.Schwarze Lügen spielt mit kulturell konnotierten Gegensätzen, die immer wieder für Konfliktpotenzial innerhalb der Geschichte sorgen. Der Konflikt wird jeweils gelöst, wenn die subjektive Perspektive überwunden wird, beide ‚Seiten‘ als Team arbeiten und so die Kategorisierungen und Vorurteile durchlässig machen bzw. abbauen. Daneben greift das Hörbuch die Themen Geschlecht, Drogen, Familie, den Tod eines Elternteils bzw. die Vernachlässigung durch ein Elternteil, Freundschaft, Liebe, die Kommunikation zwischen verschiedenen Generationen und die mediale Inszenierung in der Politik auf. Durch die Vielzahl an verschiedenen Konfliktbereichen und die Darstellung von Jugendlichen aus verschiedenen Kontexten, kann die Geschichte potenziell auch viele verschiedene Jugendliche erreichen. Hans Löw schafft es als Sprecher, den unterschiedlichen Charakteren Leben einzuhauchen und so ihre jeweilige Persönlichkeit herauszustellen. Ohne gewollt ‚lehrreich‘ zu wirken, setzt sich Schwarze Lügen mit gesellschaftlich relevanten Themen auseinander und kann so potenziell eine Selbstreflexion der eigenen Denk- und Handlungsweisen anstoßen.

    Aufgrund des Alters der beiden Protagonistinnen und des Protagonisten, der durchaus komplexen Narration und der spannenden Geschichte um die Folgen von Drogenkonsum, Erpressung und Entführung ist das Hörbuch für Jugendliche ab etwa 14 Jahren geeignet.Schwarze Lügen belegte auf der hr2 Hörbuchbestenliste im Juli 2014 den ersten Platz im Bereich Kinder- und Jugendhörbücher und erhielt das AUDITORIX Hörbuchsiegel.

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