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Markus Achatz: Nur Buchstabensuppe im Kopf

    Zur Person

    Bernd Sahling hat einen langen Atem – und das ist wichtig und gut. Wichtig, weil die Realisierung eines Kinderfilms in Deutschland – respektive dessen Finanzierung – ein schwieriges Unterfangen ist und große Ausdauer immer wieder mal ganz besondere Filme wie diesen hervorbringt. Und weil Bernd Sahling gerne in seinen Filmen genauer hinschaut und tiefer in individuelle Geschichten eintaucht. Gut, weil er ein hervorragendes Gespür für die Aufarbeitung aktueller Themen hat. In diesem Falle sogar mit großer Vorausschau, denn das Thema ADHS ist heute noch deutlich aktueller als vor zehn Jahren, als er begonnen hat daran zu arbeiten. Vor allem gut, wenn man weiß, dass es die Geschichte des zehnjährigen Sascha beinahe nie gegeben hätte, da der Filmemacher immer wieder auf Ablehnungen gestoßen ist, weil dies kein Thema für Kinder als Publikum sei. Kopfüber ist Bernd Sahlings zweiter langer Spielfilm. Seine Hauptfigur Sascha ist ‚verhaltensauffällig‘ und es wird erzählt, wie ein Betroffener und seine Umwelt darauf reagieren, wenn vieles nicht nach Plan läuft. Letztlich handelt die Geschichte auch davon, wie das Kind an den gesellschaftlichen Erwartungen leidet. Kurz gesagt: in Kopfüber geht es für alle ‚drunter und drüber‘ oder mit Saschas Worten beschrieben „wenn er lesen oder schreiben soll, hat er nur ‚Buchstabensuppe‘ im Kopf“.

    Saschas Freundin Elli rät ihm, den Kopf eine Weile nach unten zu halten. Bernd Sahling macht seit Mitte der 1980er Filme, vornehmlich Dokumentationen. Darunter auch die Langzeitstudie über ein von Geburt an blindes Mädchen (Ein Lied für Anne, 1985; Im Nest der Katze, 1991; Gymnasium oder wir werden sehen, 1999) und zuletzt der dokumentarische Kurzfilm Ednas Tag (2009). Die Themenfelder Benachteiligung und schwierige Lebenssituationen im Kindesalter sind sein Hauptmetier. Erst 2004 hatte er mit Die Blindgänger sein viel beachtetes Spielfilmdebut und hierfür zahlreiche Preise gewonnen. Eine enge Verwobenheit von Realität und Fiktion zeichnet auch Kopfüber aus, denn Sahling war selbst mehrere Jahre als Sozialarbeiter und Familienhelfer tätig. Seine Erfahrungen aus dieser Zeit hat er in Saschas Geschichte verarbeitet und den Hauptdarsteller in einer Betreuungseinrichtung für schwierige Jugendliche gefunden. Entstanden ist ein Film, der sperrig bleibt, sich einem kinderkinoüblichen Happy End verweigert, aber trotzdem unterhält. Vor allem setzt sich Kopfüber intensiv mit seiner Hauptfigur auseinander und fordert das Publikum zum weiteren Nachdenken auf. Sascha macht es sich und seiner Umwelt wirklich nicht leicht. Der Zehnjährige klaut, raucht, lügt und hält sich an keine Abmachungen. Er kann nicht richtig lesen und schreiben und kommt in der Förderschule überhaupt nicht zurecht. Die alleinerziehende Mutter (Inka Friedrich u. a. Sommer vorm Balkon, 2005; Blöde Mütze!, 2007) ist mit ihren drei Kindern völlig überfordert. Für Sascha, den Jüngsten, holt sie sich Hilfe vom Jugendamt. Frank, der Erziehungsbeistand (Claudius von Stolzmann) muss bald erkennen, dass Sascha eine ‚harte Nuss‘ ist.

    Es kostet ihn viel Ausdauer und Kreativität, bis er allmählich Saschas Vertrauen gewinnt. Auf Franks Frage, ob Sascha auch mal etwas länger machen könne als zwei Minuten, antwortet der Junge: „Ja, rauchen. Dauert fünf.“ Nur in seiner heimlichen Reparaturwerkstatt für Fahrräder und wenn er mit seiner Freundin Elli (Frieda-Anna Lehmann) unterwegs ist, um Geräusche zu sammeln, fühlt sich der Junge richtig wohl und kann er selbst sein. In diesen Momenten hat er keine Probleme. Ansonsten zieht er den Ärger magisch an. Als eine Ärztin dann bei Sascha ADHS diagnostiziert und ihmTabletten verschreibt, scheint sich allmählich alles zu bessern. Für den Jungen, aber vor allem auch für seine Mutter, wirkt die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung zunächst wie eine Befreiung, denn Sascha ist nicht gestört oder kriminell, sondern hat eine Krankheit gegen die es Mittel gibt. In der Folge wird Sascha immer ruhiger und kann sich in der Schule mehr konzentrieren, doch die Medikamente und der Rhythmus der Einnahme verändern ihn. Elli fällt es besonders auf, dass da etwas nicht stimmt, denn Saschas Laune ist meist schlecht. Sie liest im Beipackzettel Appetitlosigkeit, Übelkeit, Schlafstörungen und bringt es auf den Punkt: „Weißt Du eigentlich, dass Du nicht mehr lachen kannst?“Bernd Sahling moralisiert in seinem Film nicht, Saschas Verhalten wird nicht bewertet oder verurteilt. Mit dem Hauptprotagonisten bietet sich aber keine einfache Identifikationsfigur für ein junges Publikum an. Der Zugang ist schwer und die Zuschauerinnen und Zuschauer müssen sich erst auf den strapaziösen Sascha einstellen. Aber in der intensiven Freundschaft zwischen Elli und Sascha finden sich viele Anknüpfungspunkte.

    Das spannende Hobby des Mädchens, durch Aufnahmegeräte Töne und Geräusche zu sammeln und diese zu Hause am Rechner weiter zu verarbeiten, fesselt und fasziniert. Von daher spielt auch aktive Medienarbeit eine wichtige Rolle in diesem Film. Aus den Geräuschen und Audiosamples entsteht ein einzigartiger Soundtrack, der eine ganz eigene Tonwelt bildet. Was Kopfüber besonders auszeichnet, ist die Tatsache, dass eine Benachteiligung – wie auch in den anderen Filmen Sahlings – nicht als etwas Schicksalhaftes und Unabänderliches gesehen wird, sondern als etwas Gestaltbares und Ausfüllbares. Und dass es für vieles auch Gründe gibt, wie mangelndes Vertrauen, prekäre Verhältnisse oder zu wenig Zeit füreinander zu haben. Wir müssen uns der Frage stellen, ob und wie schnell Kinder, die einer wie auch immer gearteten Norm nicht entsprechen, auf eine Förderschule geschickt werden, oder ab wann sie mit Medikamenten versorgt werden, die die Anpassungsprozesse beschleunigen sollen, aber darüber hinwegtäuschen, was tatsächlich fehlt. Am Ende steht auch im auf den Kopf gestellten Alltag Saschas kein abgeschlossenes oder gar fröhliches Ende, dafür aber eine Botschaft des Aufbruchs und dass man nicht immer alles als gegeben hinnehmen muss. Insofern kein einfacher Film, davon gibt es aber ohnehin genug. In jedem Fall empfehlenswert ist er für alle, die mit Heranwachsenden arbeiten und letztlich auch für Eltern.

    Kopfüber startet nach zahlreichen Festivalteilnahmen am 24. Oktober in den Kinos.Kopfüber Deutschland 2012, 90 min Regie: Bernd Sahling Darsteller: Marcel Hoffmann (Sascha), Frieda-Anna Lehmann (Elli), Inka Friedrich (Saschas Mutter), Claudius von Stolzmann (Frank). Produktion: Neue Mediopolis Filmproduktion, Verleih: Alpha Medienkontor, Weltvertrieb: Arri Worldsales.

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