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Melanie Theissler: Von der Straße ins Herrenhaus – und wieder zurück?

    Zur Person

    Ursula Poznanski (2015). Layers. Gelesen von Jens ­Wawrczeck. Hörverlag, 765 Min., 14,99 €.

    Wo schlafe ich? Wo bekomme ich was zu essen? Solche Fragen stellt sich der 17-jährige ­Dorian. Er ist obdachlos, und das schon seit sechs Monaten. So lange versucht er schon, seinem gewalttätigen Vater zu entkommen. Tagtäglich kämpft er mit Sorgen über Kälte, Hunger, Schlafplatzmöglichkeiten, gegen die Polizei und poten­ziell gefährliche Menschen. Und so beginnt auch die Erzählung mitten in einer für ­Dorian brenzligen Situation, in der die Zuhörenden hineingezogen werden: Dorian wird mitten in der Nacht, die er in einem U-Bahnhof verbringt, urplötzlich der Rucksack entrissen. Der Dieb ist für Dorian ein altbekannter Obdachloser, der sich ebenfalls öfter im U-Bahnhof aufhält und Emil genannt wird. Er bereitet Dorian immer wieder Schwierigkeiten, doch er kann Emil für gewöhnlich ruhigstellen, indem er ihm ‚seinen‘ Alkohol besorgt. Doch da Emil sich diesmal nicht so einfach besänftigen lässt, muss Dorian ihn mittels körperlichen Einsatzes dazu zwingen, ihm seinen Rucksack, seine Wasserflasche und sein Taschenmesser wiederzugeben. Diese Geschehnisse werden emotional, eindrucksvoll und imaginativ beschrieben – und wechseln zwischen Dorians Gedanken und äußer­lichen Beschreibungen. Grundsätzlich wird die Erzählung ausschließlich aus Dorians Perspektive dargestellt. So bekommen die Hörenden einen überaus anschaulichen Eindruck davon, welche Sorgen den 17-Jährigen anlässlich der aktuellen Umstände plagen; dass er zum Beispiel aufgrund der Kälte eine Winterjacke braucht, dass er nicht weiß, wann er in der Notunterkunft schlafen und wo er sein nächstes Essen besorgen soll, und wie oft er welchen Supermarkt aufsuchen kann. Denn eines möchte ­Dorian auf keinen Fall: Auffallen. Daher achtet er neben einem regelmäßigen Ortswechsel für die Nahrungsbeschaffung auch auf ein adäquates Aussehen und meidet Gewalt, wo es nur geht. Er möchte unerkannt bleiben. Dieses Verhalten passt auch sehr zu Dorians Charakter, der den Hörenden als sehr klug, freundlich, höflich, vorausschauend und planerisch sowie pazifistisch begegnet. Alkohol und Drogen lehnt er aus Prinzip ab, Betteln meidet er, bis es gar nicht mehr anders geht. Aufgrund seines jungen Alters, seiner Vorgeschichte und den eher untypischen Charakterzügen eines Obdachlosen, gibt Dorian einen bedauernswerten, aber gleichzeitig auch sehr liebevollen Protagonisten ab. Die Zuhörerinnen und Zuhörer können auf diese Weise einfach und sehr schnell eine emotionale und mitfühlende Bindung zu dem Teenager entwickeln. So auch, als Dorians Leben sich von einem auf den anderen Tag auf eine merkwürdige Weise ändert. Der findet nämlich eines Nachts seinen Bekannten Emil blutend, keine zwei Schritte neben seinem Schlafplatz entfernt. Erstochen – offenbar mir Dorians Taschenmesser, welches direkt neben Emil liegt. Aber ­Dorian kann sich nicht an die Tat erinnern. Er weiß lediglich, dass er mit dem Messer in der Hand eingeschlafen ist. Als Dorian völlig überfordert überlegt, was er nun tun soll, taucht wie aus dem Nichts ein fremder Mann auf, der sich ihm als Niko vorstellt und ihm anbietet, sich um die Leiche und die Angelegenheiten zu kümmern. Er möchte Dorian sogar aus der Obdachlosigkeit heraushelfen.

    Die Hörerinnen und ­Hörer befinden sich an ­dieser ­Stelle noch in der Einleitung der Erzählung. Die Ereignisse werden zügig und spannungsreich erzählt, überfordern dennoch nicht. Informationen, die die Hörenden zum Verständnis der Charaktere oder der Handlung benö­tigen, werden geschickt an den richtigen Stellen erwähnt oder tauchen in Dorians Gedanken auf. So über­legt er beispielsweise, ob er dem fremden Mann trauen kann und auf sein Hilfsangebot eingehen soll. Denn er hat bereits jetzt schon gelernt: ­lieber einmal mehr misstrauisch sein, als aufgrund falschen Vertrauens in Schwierigkeiten geraten. Bei diesem seltsamen Angebot von Niko schreit eigentlich alles in ihm nach Misstrauen und die Hörenden erleben alles nahezu hautnah mit. Denn der Erzähler Wawrczeck weiß seine Stimme gekonnt einzusetzen. So emphatisiert er unterschiedlich stark, variiert gekonnt sein Sprachtempo und setzt an den richtigen Stellen Pausen, die für zusätzliche Spannung sorgen.

    In der Haupthandlung entschließt sich Dorian tatsächlich, Nikos Hilfe anzunehmen, um sich dann – nach einer Fahrt in einem dubiosen Van – unerwartet in einem luxuriösen Herrenhaus wiederzufinden. Hier lernt er Antonia kennen, die ihn im Anwesen herumführt, ihm sein eigenes Zimmer zeigt und ihm erklärt, dass er von nun an wieder Schulunterricht hat. Als ihm Antonia klar macht, dass gewiss nicht jede Person in dem Haus aufgenommen wird, weiß Dorian nicht, ob er lachen oder weinen soll. Und er fragt sich erneut, was das alles soll, wer hinter all dem steckt und warum ausgerechnet er ‚auserwählt‘ wurde? Außerdem stutzt er darüber, dass es in dem prunkvollen Gebäude kein Internet und kein Fernsehen gibt. Wird Dorian in diesem Haus wirklich geholfen oder stellt es weitere Gefahren für ihn dar? Werden ihm seine neue Mitbewohnerin Stella oder sein Mitbewohner Melvin auf seinem Weg helfen, wenn es gefährlich wird?

    Layers kann aufgrund teils gewalttätiger Beschreibungen sowie der anspruchs­vollen und komplexen Handlungen Jugendlichen ab 14 Jahren empfohlen werden. Die Zielgruppe wird zum einen mit alterstypischen Problemen (z. B. Interesse am anderen Geschlecht) als auch mit Komplikationen eines jugend­lichen Obdachlosen konfrontiert. So können die Zuhörenden sich gut bis sehr gut mit dem Protagonisten identifizieren und werden gleichzeitig zum Nachdenken über die Probleme von Obdachlosen angeregt. Weiterhin begegnet dem Publikum in der Erzählung ein von der Gesellschaft abgeschnittenes soziales Hierarchie-System, welches in ähnlichen Formen ebenfalls in der Realität auftaucht. In der Geschichte wird überaus gut veranschaulicht, wie der Protagonist als Neuzugang in das System integriert wird. Da die gesamte Geschichte aus der Perspektive des Protagonisten erzählt wird, erleben die Zuhörenden sehr gut, wie es sich anfühlt, in so ein System integriert zu werden. Die Erzählung vermittelt Hintergrundinformationen über solche Systeme und macht ethische und soziale Werte wie Freundschaft erfahrbar. Es lädt die Zuhörenden aber auch dazu ein, gewisse Informationen kritisch zu hinterfragen.

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