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Michael Bloech/Nicole Lohfink: Schlaglichter der Berlinale 2019

    Zur Person

    Stets blieb die Berlinale ihrem Anspruch treu, eine Plattform für politische und künstlerisch wertvolle Filme zu sein. Festivalleiter Kosslick gelang es, das Programm nicht nur für die internationale Fachkritik und Filmindustrie, sondern auch für das Berliner Kinopublikum zu öffnen. Zahlreiche Diskussionsveranstaltungen, Fachvorträge und Konferenzen sorgten zudem für ein internationales und professionelles Profil der Berlinale.

     

    Berlinale 2019 – Die Ära Kosslick endet

    Nach 18 Jahren verabschiedet sich Dieter Kosslick als Direktor der Berlinale: Und er kann eine beeindruckende Bilanz vorweisen. Positiv hervorzuheben sind auch seine Bemühungen um den deutschen Film. Zwar gab es schon vor Kosslick auf der Berlinale eine Plattform für den deutschen Film, unter anderem zunächst in der kleinen Filmbühneam Steinplatz, aber durch die Etablierung der Programmreihen Lola at Berlinale und Perspektive Deutsches Kino wurde dieses Angebot systematisch erweitert. Kosslicks besonderes Augenmerk lag dabei stets auf Filmen einer losen Gruppe von Filmschaffenden der sogenannten Berliner Schule, darunter bekannte Namen wie Christian Petzold, Thomas Arslan und Maren Ade. Gerade Filme der Berliner Schule stehen mit ihrem Anspruch in enger Beziehung zu dem politisch, ästhetischen Konzept der Berlinale: Jenseits vom Mainstream werden mit künstlerischem Anspruch alltägliche, persönliche Themen mit politischem Bezug bearbeitet. Unter Kosslick ist die Berlinale eine nicht zu unterschätzende Plattform für internationale Begegnung und Austausch geworden, was sich exemplarisch in der Sektion Generation beobachten lässt oder auch im Förderprogramm für Nachwuchsfilmschaffende Berlinale Talents. Erst kürzlich unterzeichnete Kosslick sogar mit dem 5050 x 2020 Festival Pledge eine internationale Vereinbarung zur „Geschlechtergerechtigkeit in der Filmindustrie“.

    Unter Kosslick fand jedoch auch mit aktuell rund 400 präsentierten Filmen und 340.000 verkauften Tickets eine enorme Ausweitung des Programmangebots statt. Damit droht eine De-Strukturierung, De-Profilierung und Beliebigkeit der Zielgruppenorientierung. Zumindest im Ansatz besteht hier die Gefahr, den Kern des Festivals den Wettbewerb – aus den Augen zu verlieren. Ende 2017 forderten daher 79 deutsche Filmschaffende in einem offenen Brief über die grundlegende Ausrichtung des Festivals nachzudenken. Dennoch wird ein großer Verdienst Kosslicks bleiben: Einmal im Jahr dreht sich zehn Tage lang in Berlin alles nur um Kino und die Kunst des Films.

     

    Systemsprenger – Vom Sprengen pädagogischer Konzepte

    Filme, die sich mit grundlegenden, pädagogischen Problemen auseinandersetzen und dabei auch noch als Film ‚funktionieren‘, ohne dabei belehrend zu wirken, sind nicht allzu häufig zu finden. Das Spielfilmdebüt Systemsprenger von Nora Fingscheidt ist ein gutes Beispiel hierfür und zeigt ein wichtiges pädagogisches Thema durchaus spannend und emotional berührend umgesetzt werden kann.

    Der Film stellt konkret die Frage, was passiert, wenn engagierte Pädagogik versagt, wenn es nicht gelingt, Kinder so zu stabilisieren, dass sie keine Gefahr für sich und andere mehr darstellen. Sollte sich herausstellen, wie im Film gezeigt, dass aktuelle pädagogische, pharmakologische und psychologische Konzepte versagen können, wo liegen dann die Konsequenzen? Vielleicht muss immer wieder schmerzlich diskutiert werden, bis zu welchem Grad offene Gesellschaften abweichendes Verhalten tolerieren sollten und wie Personen aufgefangen werden können, die sich außerhalb unseres Gesellschaftssystems bewegen.

    Spontane Aggressivität

    Konkret wird die Leidensgeschichte der neunjährigen Benni erzählt, die getrennt von ihrer alleinerziehenden Mutter und den Geschwistern übergangsweise in einer beschützenden Einrichtung leben muss. Ihr Verhalten ist gekennzeichnet durch exzessive Gewaltausbrüche, vor allem gegenüber anderen Kindern. Ein Auslöser könnte das Fehlen funktionierender, familiärer Bindungen sein, wobei die Ursache wohl vielmehr darin begründet liegt, dass Benni ständig mit widersprüchlichen emotionalen Signalen ihrer Mutter konfrontiert wird. Während sie in einem Moment von der Mutter geliebt wird, wird sie im nächsten von ihr verstoßen. Mit ihrer spontanen Aggressivität fällt das renitente Mädchen quasi durch alle Netze, die unser Gesellschaftssystem für abweichendes Verhalten von Kindern bereithält. Selbst die nette Dame vom Jugendamt und die Psychologin der Kinderpsychiatrie sind mit Bennis Gewaltausbrüchen völlig überfordert. Trotz aller Empathie gelingt es ihnen nicht, Benni in einen halbwegs normalen schulischen Alltag zu integrieren. Schließlich wird ihr der Schulwegbegleiter Micha zur Seite gestellt, der sie zu einem geregelten Schulbesuch hinführen soll. Als auch das misslingt, wird im Helferkreis beschlossen, es mit einer ungewöhnlichen Maßnahme zu versuchen. Micha soll mit Benni in einer abgeschiedenen Waldhütte ohne Strom, Telefon und Internet eine gewisse Zeit verbringen, damit Benni zur inneren Ruhe zurückfindet. Mit dieser Methode der Gewaltprävention hat Micha bei Jugendlichen bisher gute Erfolge gehabt. Doch nach einer Woche sieht Benni in Micha nur noch ihren ‚Papi‘ und versteht nicht, dass er eine eigene Familie hat und die Zeit im Wald lediglich eine pädagogische Maßnahme war. Es kommt zu einer drastischen Entscheidung. Benni soll nach Kenia in eine Einrichtung für besonders verhaltensauffällige Jugendliche geschickt werden. Damit würden jedoch alle Sozialkontakte, die Benni besitzt, auf einen Schlag enden.

    Im Mittelpunkt ein Ausnahmetalent – Helena Zengel

    In der Rolle der Benni spielt die sehr junge Helena Zengel mit einer atemberaubenden Authentizität und zwingt die Zuschauenden, trotz aller Aggressivität, Verständnis für das renitente Kind zu entwickeln. Sinnbildlich hierfür steht die Anfangsszene, bei der Benni im Innenhof der Klinik völlig ausrastet und Bobbycars an das Fenster schmettert, bis die Panzerglasscheibe schließlich bricht. Das Symbolhafte dieser Exposition macht deutlich, um welche fundamentale Auseinandersetzung es hier geht: Helena Zengel verkörpert ihren Widerstand gegen das „System“ derart glaubwürdig, dass einem der Atem stockt. Sie ist es, die den Film von der Wirkung her trägt und zu einem wirklichen Erlebnis werden lässt. Hervorzuheben ist auch der Rhythmus des Schnitts, der trotz einiger erzählerischer Längen, die Zuschauenden in ein Wechselbad der Gefühle taucht. Systemsprenger erhielt mit einem Silbernen Bären den Alfred-Bauer-Preis, der für neue Perspektiven der Filmkunst vergeben wird sowie den Preis der Leserjury der Berliner Morgenpost.

     

    Grâce à Dieu – Die befreite Sprache

    Mit sexuellem Missbrauch und Pädophilie greift der französische Regisseur François Ozon in seinem Film Grâce à Dieu ein brisantes Thema auf. Unaufgeregt werden drei Schicksale von Männern erzählt, die verdeutlichen, welch gravierende psychische Verwerfungen die Übergriffe bei ihnen angerichtet haben. Zum einen ist da die Geschichte des katholischen Bankangestellten Alexandre, der als Kind bei einem Pfadfindertreffen von Pater Preynat missbraucht wurde. Alexandre setzt folglich alles daran, dass Pater Preynat generell der Umgang mit Minderjährigen untersagt und ihm die Priesterweihe entzogen wird. Als sein Unterfangen bei dem dafür zuständigen Kardinal Barbarin ins Leere läuft, beginnt er nach weiteren Missbrauchsopfern zu suchen. Dabei stößt Alexandre auf den ruppig wirkenden Atheisten François, der zunächst widerstrebend, dann umso vehementer, die Verbrechen des Paters anprangert. Zusammen mit Alexandre gründet er die Initiative La Parole Libérée und es kommt schließlich zu der Begegnung mit dem Missbrauchsopfer Emmanuel, einem labilen, gebrochenen jungen Mann. Der Fall Emmanuel erweist sich dabei als besonders wichtig, da die Straftaten an Emmanuel, im Gegensatz zu vielen anderen Fällen, noch nicht verjährt sind. Ein Strafverfahren gegen den Pater und den Kardinal scheint damit möglich.

    La Parole Libérée – Stimme der Missbrauchsopfer

    Ozon porträtiert einfühlsam die drei unterschied­lichen Männer, die das gleiche Schicksal in ihrer Kindheit erdulden mussten. Dramaturgisch gese­hen interessieren jedoch weniger die Personen an sich, sondern es geht darum aufzuzeigen, dass der Missbrauch nicht auf Einzelfälle beschränkt ist und die Kirche diese als Machtapparat seit Jahrzehn­ten zu vertuschen sucht. Das Geschilderte selbst beruht auf Tatsachen. Die entsprechenden Ge­richtsverfahren gegen Pater Preynat, der 70 Jungen mehrfach missbraucht haben soll, gegen Kardinal Barbarin und sechs seiner Mitarbeiter, die durch Mitwisserschaft selber zu Mittätern geworden sein sollen, spielt Anfang 2019 in Frankreich.

    Die Unmöglichkeit, das Unfassbare zu zeigen

    Bei aller aktuellen, politischen Brisanz erzeugt Ozon leider ein Gefühl der Distanz. Szenen, in denen der Pater mit den Jungen im Fotolabor oder in einem Zelt des Pfadfinderlagers verschwindet, um sich an ihnen zu vergehen, wirken deplatziert. Zu monströs sind die Verbrechen und es scheint nahezu unmöglich, sie angemessen zu visualisieren. Geschickter wäre es vermutlich gewesen, die Schilderungen der Missbrauchsopfer zu fokussieren, die bereits hohe emotionale Dichte besitzen. Darüber wirkt die Regie unentschlossen, auf welche der drei Protagonisten das Hauptaugenmerk gerichtet werden soll. Dennoch ist Grâce à Dieu ein politisch überaus wichtiger Film, da er einmal mehr zeigt, dass es sich lohnt, gemeinsam mit anderen für die eigenen Belange zu kämpfen. Der nahezu dokumentarisch wirkende Film erhielt mit dem Silbernen Bären den Großen Preis der Jury.

     

    Une Colonie – Vom Grenzen überwinden

    Eine absolute Entdeckung in der Kinderfilmsektion Generation Kplus war die kanadische Produktion Une Colonie (Eine Kolonie) der Franko-Kanadierin Geneviève Dulude-De Celles. Im Vordergrund des melancholisch ruhigen Films steht die Ambivalenz des Begriffes Kolonie. Bei einer Kolonisierung können bekanntlich herkömmliche Macht- und Herrschaftsstrukturen durch etwas Fremdes oder Neues durchbrochen, unterworfen oder auch völlig zerstört werden. Es kann sich dabei aber nicht nur um den Niedergang handeln, sondern auch im positiven Sinn um die Entfaltung von etwas völlig Neuem. Diese Widersprüchlichkeit kristallisiert sich in dem Film vor allem in der Geschichte der jungen Mylia, die neu in einer Vorortsiedlung in der Quebecer Provinz ihre Rolle, ihre Identität, erst finden muss, sich einleben muss in eine ihr fremde Situation. Sie hat keine Lust auf oberflächlichen Sex und Drogen, keine Lust auf die wilden Schmink-Orgien und Oberflächlichkeiten ihrer Schulkameradinnen. Damit wird sie sofort zur Außenseiterin, die sich aber in kühler Distanz hingezogen fühlt, zu ihrem Schulnachbarn Jimmy, einem Indianer, der weitab von ihrem Zuhause in einer Abenaki-Siedlung lebt. Jimmy ist völlig anders als all die anderen in ihrem Umfeld, ein sensibler Junge, der Souveränität, Beherrschtheit und völlige Ruhe ausstrahlt. Deutlich wird dies gleich zu Beginn des Films, als Jimmy ein totes Huhn aus dem Maul eines Hundes löst. Er zerrt und schreit nicht, vielmehr geht er ohne Angst beruhigend auf den fremden Hund zu und kann dadurch die knifflige Situation entschärfen. Eine weitere symbolhafte Situation zu Ende des Films zeigt die Verbundenheit von Mylia und Jimmy, als sie feststellen, dass sie in ihrer Kindheit beide beim Ausmalen von Bildern die vorgegebenen Umriss­linien stets missachteten. Erst das Durchbrechen der Linien ermöglichte ihnen das Einzigartige, das Persönliche und damit die Kolonisierung ihres Umfelds.

    Die Entdeckung der Entschleunigung

    Während andere Produktionen im Wettbewerb zum Beispiel auf grelle Farben, schnelle Schnitte, nahe Einstellungen und kompliziert verschachtelte Erzähltechniken setzten, besticht Une Colonie vor allem durch ruhige Bilder und entschleunigten Erzählfluss. Die Autorin und Regisseurin Geneviève Dulude-De Celles nimmt sich viel Zeit und erst allmählich entfaltet sie ihre symbolische Argumentation. Sie gibt damit glaubhafte Einblicke in die Gefühlswelt der heranwachsenden Heldin. Die Kolonisierung ist hier nicht ein eruptiver Überfall, der eine revolutionäre Entwicklung gebiert, sondern ein langsamer, evolutionärer Prozess des Erwachsenwerdens. Dabei ist es bewundernswert, mit welcher Nachdrücklichkeit der Film diesem ruhigen Erzählmuster treu bleibt. Émilie Bierre in der Rolle der Mylia verleiht mit ihrem faszinierenden, ruhigen Spiel dem Film eine fantastische Glaubwürdigkeit und schafft es überzeugend, das Symbolhafte ins Visuelle umzusetzen. Une Colonie erhielt von der Kplus Kinderjury den Gläsernen Bären für den besten Spielfilm, wobei der Film einschränkend gesagt, erst ab zwölf Jahren wirklich zu verstehen und daher auch zu empfehlen ist.

     

    Di yi ci de li bie – Ein erster Abschied – vom Schmerz der ersten Trennung

    Bei vielen Filmen auf der Berlinale war in diesem Jahr überraschend stark der dokumentarische Gedanke vertreten. So auch bei dem chinesisch-uigurischen Beitrag Di yi ci de li bie – Ein erster Abschied. Zwei Jahre lang hat Regisseurin Lina Wang in ihrem Heimatdorf gefilmt, besonders die kindlichen Protagonisten mit der Kamera begleitet und in alltäglichen Situationen gefilmt. Weitere zwei Jahre lang hat sie dann aus dem Material eine Erzählung gebaut, in der es um das Leben in dem uigurischen Dorf inmitten Chinas geht. Dabei sind die Herausforderungen, zu einer sprachlichen Minderheit zu gehören, genauso angeschnitten, wie der Umgang mit einem Pflegefall in der Familie, wie auch die Wichtigkeit der Schulbildung, um das wirtschaftliche Überleben zu sichern. Im Mittelpunkt des Films stehen der junge Isa und sein Alltag in dem Dorf weitab großer Städte. Isa erlebt zunächst unbeschwerte Tage, kümmert sich um seine kranke Mutter und hilft dem Vater auf dem kleinen Hof. Gemeinsam mit seiner Freundin Kalbinur zieht er mit viel Liebe und Hingabe ein Lämmchen auf. Doch schon bald stehen Veränderungen ins Haus und verlangen von Isa nicht nur äußerliche Anpassung, sondern auch erste emotionale Abschiede. Als Isas Mutter verwirrt aus dem Haus läuft, weil Isa aus Sehnsucht nach dem Lämmchen zur Freundin gelaufen ist, müssen sich sein älterer Bruder und er auf die Suche nach ihr machen. Die einsame Landschaft und Isas fruchtlose Suche vereinen sich, als die Dämmerung hereinbricht, in seinem schluchzenden Rufen nach der Mutter zu einem archaischen Wehklagen des Kindes. Hier deutet sich der erste Abschied an, denn, obwohl die Mutter wieder auftaucht, berät sich der Vater mit dem Dorfrat, weil er sich nicht mehr gleichzeitig um die Farmarbeit und seine Frau kümmern kann. Isa ist allerdings dagegen, die Mutter in einem Heim unterzubringen und will dafür lieber auf die Schule verzichten, als seine Mutter nicht mehr im Haus zu wissen. Doch die Abschiede ereignen sich dennoch. Sein Bruder geht zurück auf die entfernte Schule, sein Vater bringt seine Frau schweren Herzens in einem Pflegeheim unter und Isa muss sich auch noch von seiner Freundin Kalbinur verabschieden. Sie wird von ihrer Familie ebenfalls in einer weiter entfernten Schule untergebracht, da sie die chinesische Sprache zu schlecht beherrscht. In der uigurischen Gemeinde genügt es, uigurisch zu sprechen, doch den Eltern ist aus eigener Erfahrung schmerzhaft bewusst, wie schwierig es ist, sich ohne Chinesisch in der Stadt zurecht oder Arbeit zu finden. Dann verschwindet auch noch das kleine Lämmchen, um das sich Isa immer gekümmert hat. All diese Verluste sind unauffällig eingefangen und unspektakulär in das tägliche Leben des Jungen eingebettet, doch in dieser Unaufgeregtheit erscheint jeder Moment umso klarer. So berührt der Film Kinder wie Erwachsene gleichermaßen, die jungen Zuschauenden fühlen und durchleben jeden Verlust hautnah mit den Protagonistinnen und Protagonisten mit und die Erwachsenen erinnern sich an das Gefühl des ersten Abschieds im Leben. Dabei sind die individuellen Erlebnisse Isas trotz des spezifischen Hintergrundes durchaus Platzhalter für die universalen Themen, die unabhängig von Geografie greifen. Di yi ci de li bie – Ein erster Abschied ist der diesjährige Gewinner des großen Preises der Internationalen Jury von Generation Kplus.

     

    The body remembers when the world broke open – eine vielschichtige Momentaufnahme

    Passend zur Unterzeichnung des 5050 x 2020 Festival Pledge umfasst die Sektion Generation erstmals einen Anteil an weiblichen Regisseurinnen von beinahe 50 Prozent. So stammt auch The body remembers when the world broke open aus der Feder zweier kanadischer Filmemacherinnen, die gemeinsam Regie geführt haben. Die kanadisch-norwegische Produktion liefert eine starke Geschichte über die Begegnung zweier Frauen aus unterschiedlichen Lebensverhältnissen. Sie wirkt dabei auf verschiedenen Ebenen, von einer allgemeingültigen über eine nahbare bis zum Besonderen, indem sie das Augenmerk auch auf die prekäre Situation indigener Frauen in Nordamerika richtet.

    Regisseurin Elle-Máijá Tailfeathers ist Blackfoot von der Kainai First Nation (Blood Reserve) und Sami aus Norwegen und hat in ihrer Kultur bereits in der Kindheit den Wert des Geschichtenerzählens vermittelt bekommen, insbesondere als traditionelles Mittel, Erinnerung weiterzutragen. Das Drehbuch ist inspiriert von einer Geschichte, die Tailfeathers selbst erlebt hat und die sie nachhaltig geprägt hat. So entstand nun in Zusammenarbeit mit Kollegin Kathleen Hepburn ein Film, der die Zuschauenden ganz dicht an diese Erfahrung heranführt, unterstützt durch viele Nahaufnahmen und nahezu in Echtzeit gedreht.

    Àila ist von einem Arztbesuch auf dem Weg nach Hause und begegnet in East Vancouver einer jungen Frau. Die 18-jährige Rosie steht sprichwörtlich barfuß und schwanger im Regen auf der Straße. Sie nimmt Rosie mit zu sich nach Hause und in einem vorsichtigen Annäherungsprozess entsteht eine Verbindung. Aber es prallen auch Realität und Wunschvorstellung aufeinander, als Àila versucht, Rosie zu helfen und ihre Probleme zu ‚richten´. Rosie ist vor ihrem gewalttätigen Freund geflüchtet, mit dem sie zusammenwohnte. Àila organisiert ihr daher einen Platz in einem Frauenhaus. Während sie ihre weibliche Selbstbestimmung ausüben kann, wenn sie mit ihrem Arzt darüber redet, ob und wann sie schwanger werden will, ist für Rosie das Baby ein Mensch, den sie um keinen Preis verlieren will und gleichzeitig eine Chance, endlich nie mehr allein zu sein. Daher ist ihr das Frauenhaus auch ein zu großes Risiko. Das soziale Gefälle ist augenscheinlich, dennoch erkennen beide in der anderen eine verwandte Seele. Am Ende sehen sich beide nie wieder. Einer der seltenen Momente im Leben, die an die Menschlichkeit erinnern und einen verändert zurücklassen. In dieser Eigenschaft spricht der Film ein internationales Publikum an, doch er bietet auch eine weitere Ebene, die das Brennglas auch auf unbequeme Fakten richtet:

    So haben Frauen indigener Abstammung in Kanada laut einer laufenden nationalen Untersuchung eine fünfmal höhere Wahrscheinlichkeit, durch Gewalt zu sterben. 77 Prozent der Frauen, die durch einen intimen Partner ermordet wurden, starben, nachdem sie aus der Partnerschaft geflüchtet waren. Auch bei der Pflegeunterbringung von Kindern zeigt sich ein Ungleichgewicht, wenn beispielsweise in der kanadischen Provinz Manitoba rund 90 Prozent der Jugendlichen in den Pflegeeinrichtungen Angehörige von First Nations sind. Hier wirkt Kanadas Geschichte der politischen Assimilierungsversuche der Vergangenheit nach.

    So gesehen erscheint Rosies Überzeugung, sicherer bei ihrem gewalttätigen Partner aufgehoben zu sein, plötzlich in einem ganz anderen Licht.

     

    Was bleibt: Facetten des internationalen Film-Festivals

    Vor dem Hintergrund von Kosslicks Abschied zeichnete sich die diesjährige Berlinale vor allem durch qualitative Ambivalenz aus. So bot die mangelnde Qualität einiger Filme öffentlichen Diskussionsstoff. Und tatsächlich befanden sich diesmal, rein quantitativ gesehen, lediglich 16 Filme im Wettbewerb auf Bärenjagd. Ein chinesischer Wettbewerbsbeitrag, wie auch ein chinesischer Generation-Beitrag, wurden noch kurzfristig wegen technischer Probleme zurückgezogen. In Fachkreisen wurde daraufhin das Wirken chinesischer Zensurbehörden diskutiert, aber trotz naheliegendem Verdacht in den betreffenden Fällen bliebe das letztendlich zu beweisen. Anlass zur Verwunderung gab zudem, dass einige Filme überhaupt die Höhen des Wettbewerbs erklommen haben. So liegt Kunst natürlich auch immer im Auge des Betrachtenden, wie am Beispiel des deutschen Beitrags Ich war zu Hause, aber zu sehen von Angela Schanelec. Von der deutschen Presse einhellig bejubelt und von der Berlinale-Jury mit dem Preis für die beste Regie beglückt, wurde er vom internationalen und Berliner Publikum dagegen mit ausdauernden Buhrufen bedacht. Ebenfalls mehr als problematisch geriet Fatih Akins drastischer und verstörender Festivalbeitrag Der Goldene Handschuh über einen  Hamburger Massenmörder. Der Länderschwerpunkt lag in diesem Jahr auf Norwegen, das mit Ut og stjæle hester (Pferde stehlen) von Hans Petter Moland zu Recht mit einem Silbernen Bären für die besteKameraarbeit des Dänen Rasmus Videbæk belohnt wurde.

    Highlights außerhalb des Wettbewerbs

    Jenseits des Wettbewerbs, in anderen Sektionen der Berlinale, hätten sich allerdings Film-Beispiele gefunden, die einem Regie-Film-Preis vielleicht eher entsprochen hätten. In der Sektion Generation KPlus, also dem Kinderfilmfest, manifestiert sich ein Dilemma, das sich schon seit Jahren wie ein roter Faden durch die Berlinale zieht: Filme für jüngere Kinder sind fast ausschließlich mit der Lupe zu finden, Filme für ältere Kinder und das Programm Generation 14plus, das sich an Jugendliche richtet, sind jedoch immer wieder für kleine Sensationsentdeckungen gut. So sollte beispielsweise Ausschau gehalten werden nach Filmen wie Kokdu – eine Geschichte von Schutzengeln aus Korea oder der schwedischen Perle Sune versus Sune. Der koreanische Beitrag Kokdu überzeugt zudem durch eine eindrucksvolle bildästhetische, formale sowie inhaltlich runde Erzählung über eine positive Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und Verlust, die Einblicke in die koreanische Kulturgeschichte gewährt. In Sune versus Sune wird die Kraft der Fantasie in jeder Hinsicht beschworen, während die Protagonistinnen und Protagonisten die Tücken von Freundschaft und Identitätsfindung navigieren. Auch der deutsch-niederländische Film Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess ist sehenswert, ebenso, wie der amerikanische Beitrag Driveways der zwar ein wenig an Eastwoods Gran Torino erinnert, dafür jedoch auf persönlichen Erlebnissen der beiden Drehbuchautoren basiert.

    Die Herausforderung für die Zukunft: Den Überblick finden

    Es ist schon eine Herausforderung bei den vielen Programmen und Sektionen überhaupt einen Überblick zu gewinnen und so will das Entdecken unter 400 Filmen gelernt sein. Vielleicht liegt in diesem Punkt, nach der Ära Kosslick, eine der Hauptaufgaben des neuen Berlinale-Teams um Carlo Chatrian als künstlerischem Direktor und Mariette Rissenbeek als Geschäftsführerin, hier eine stringentere Linie zu etablieren. Der Italiener Carlo Chatrian leitete sechs Jahre lang das renommierte, schweizerische Filmfest in Locarno und Mariette Rissenbeek, eine gebürtige Holländerin, war als Geschäftsführerin der Auslandsvertretung des deutschen Films German Films tätig. Genug Vorbereitungszeit bleibt dem neuen Zweigespann – mit der terminlichen Vorverlegung der Oscarverleihung rückt die nächste Berlinale das erste Mal hinter die US-Preisverleihung, an das Ende des Monats Februar 2020 – wir können gespannt sein!

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