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Tanja Gottsmann: Digitale Bildung – existiert so etwas überhaupt?

    Zur Person

    Ralf Lankau (2017). Kein Mensch lernt digital. Über den sinnvollen Einsatz neuer Medien im Unterricht. Weinheim: Beltz. 191 S., 24,95 €.

    „Kein Mensch lernt oder arbeitet digital.“ Diese provokante These lässt Lankau bereits im Titel verlauten. Damit kritisiert er den weit verbrei­teten Ausdruck der „digitalen Bildung“ der bei­spielsweise als Slogan vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gewählt wird und sich fest in der medienpädagogischen Terminolo­gie etabliert hat. In seinem Band zum sinnvollen Einsatz digitaler Medien im Unterricht konstatiert Lankau, dass lernen und arbeiten zwar mit oder an digitalen Geräten und neuen Technologien stattfindet, dies allerdings immer als Mensch er­folgt. Demnach haben humane Komponenten ei­nen erheblichen Einfluss auf unsere Lernprozesse und können nicht durch digitale Medien ersetzt werden. In Anbetracht dessen hinterfragt Lan­kau in seinem Werk kritisch den pädagogischen Nutzen des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht. Die Digitalisierung an Schulen wird dabei unter Einbezug der zugehörigen Akteure betrachtet. Treibende Kräfte für das Voranschrei­ten der „digitalen Bildung“ seien neben wissen­schaftlichen und politischen Vertreterinnen und Vertretern auch Stiftungen, Wirtschafts- und Lobbyistenverbände.

    Der Band ist in neun Kapitel untergliedert. Im ersten Kapitel steht der aktuelle Diskurs über digitale Medien im Unterricht im Fokus. Es wer­den Modelle und Konzepte vorgestellt, die auf die Standardisierung und Automatisierung des Unterrichts abheben. Ziel sei allerdings nicht, dass die Lehrkräfte digitale Medien nach pädago­gischen Prämissen in den Unterricht einbringen. Vielmehr würden sie ein isoliertes und individuel­les Arbeiten an Lernstationen anstreben. Lankau formuliert drastisch, dass Schulen auf diese Weise zu „digitalen Lernfabriken“ verkämen, in denen Schülerinnen und Schüler durch Lernsoftware „zugerichtet“ würden.

    In Anlehnung an Piaget werden im zweiten Kapi­tel elementare Lernprozesse erläutert. Kognitive und motorische Fähigkeiten können demnach in schlüssiger Weise nur in einem altersgerech­ten Lernumfeld entwickelt werden. Daran an­schließend gibt der Autor einen kurzen Abriss zur Geschichte der Digitaltechnik. Im Kontext von gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Theorien wird die technische Entwicklung von Internet und Computern betrachtet und sich auf das „Internet der Dinge“ und das Gefährdungs­potenzial durch gesammelte und gehackte Daten bezogen. Überleitend zu den Themen Cybersi­cherheit und Datenschutz kommt Lankau zu dem resoluten, für ihn aber unausweichlichen Schluss, Digitaltechnik sei ein Synonym für Steuerung und Kontrolle, da alle Aktionen abgespeichert und protokolliert werden. Er bezieht sich insbesonde­re auf den permanenten Rücklaufkanal, bei dem alle medialen Aktionen, kommunizierten Inhalte und Verbindungsdaten von den Anbietern und Providern abgespeichert werden. Dies ermögli­che auch bei Learning Analytics und E-Learning- Tools das Datensammeln und die Profilierung von Minderjährigen und stelle einen besonders einschneidenden Verlust der Kontrolle dar. So müsse „Unterricht und Schule […] vom Men­schen her gedacht werden“, wie der Autor bereits in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung konstatierte. Berechtigterweise wirft Lankau ein, dass für den Gebrauch neuer Medientechniken an Schulen zuerst valide pädagogische Konzepte

    benötigt werden. Die am 25. Mai 2018 in Kraft getretene Europäi­sche Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO), die personenbezoge­ne Daten schützen soll, widerspre­che jedoch dem Lernverhalten von Schülerinnen und Schülern, da Da­tenspeicherung innerhalb der Nut­zung digitaler Technologien nicht zu verhindern sei, müssten Schulen zumindest vom öffentlichen Netz genommen werden bis eine daten­schutzrechtliche Lösung gefunden worden sei. Der Autor schärft den Blick für die Risiken durch die Integration von digitalen Medien an Bil­dungseinrichtungen. Es gilt, sensibler im Umgang mit personenbezogenen Daten Minderjähriger zu verfahren. Dennoch wirft die Positionierung zur Unterbindung des Zugangs zu öffentlichen Netzwerken an Schulen mehr Fragen auf als sie Antworten gibt. Wie sollen Kinder zu einer mündigen Partizipation im Netz befähigt werden, wenn kein betreuter Zugang gewährleistet ist? Kann ein kompetenter und kritischer Umgang mit digitalen Medien von ihnen erwartet werden ohne, dass dieser zunächst in der Schule erprobt und erlernt wird?

    In Kapitel 5 behandelt der Autor die Potenzi­ale und Probleme von Medien im Unterricht und stellt die Frage nach sinnvollen Inhalten, Altersbegrenzungen und didaktischen Konzep­ten. Aufgrund mangelnder Studienbelege zum positiven Nutzen neuer Medien für die Schü­lerschaft stellt er schließlich die Behauptung auf: Analog ist immer besser. Gerade in Kitas und Grundschulen sollen demnach lediglich die klassischen Medien thematisiert werden. Erst danach könnten digitale Werkzeuge anknüp­fen – obwohl etwa die KIM-Studie 2016 andere Befunde aufwies. Hiernach zählen sich bereits über die Hälfte der Grundschulkinder zu den Computernutzenden und die selbst angeeigne­ten Medienkompetenzen übersteigen häufig die in der Schule vermittelten. Allerdings bedeutet dies nicht, dass ein wünschens­werter kritischer Umgang mit den Medien stattfindet. Gerade deshalb ist fraglich, ob dem Autor in Hin­blick darauf, Kindern den Umgang mit digitalen Medien allein zu über­lassen, gefolgt werden sollte.

    Im sechsten Kapitel unterzieht Lankau Deutschland bezüglich des Einsatzes digitaler Medien einem Faktencheck, bevor er im Anschluss daran drei Zukunftsszenarien zum digitalen Lernen entwirft, wobei er in zwei Dysto­pien unterteilt – den asiatischen Weg unter dem Titel „Drill als Lebenselixier“ und den amerikani­schen der sozialen Spaltung –, neben denen die europäische Variante der Aufklärung als einzig richtige Option erscheint.

    Schließlich formuliert Lankau konkrete Empfeh­lungen, Ratschläge und Forderungen für den medialen Unterricht, bei denen seine recht kon­servative Haltung zu Tage tritt. Trotz einiger dis­kutabler Standpunkte ist seine Hauptdevise, die Didaktik stehe immer vor der Technik, nicht zu verkennen. Digitale Medien sollten demnach ein Hilfsmittel oder Lerninhalt bleiben, und Lehrkräf­te sich auf ihren fachlichen und pädagogischen Auftrag besinnen.

    Die Frage nach dem richtigen Maß an digitalen Medien wird wohl auch zukünftig für Kopf­schmerzen sorgen. Es bedarf weiterer Forschung zu Auswirkungen von neuen Technologien im Schulkontext. Lankau bietet hierfür Ansätze, die es zu überprüfen gilt. Er zeigt Risiken und Gefah­ren besonders im datenschutzrechtlichen Bereich auf, die es sowohl in pädagogischen Einrichtun­gen als auch bei Eltern zu beachten gibt und regt mit seinen polarisierenden Aussagen zum Nachdenken an.

    Tanja Gottsmann ist studentische Hilfskraft in der medienpädagogischen Forschung am JFF. Sie stu­diert derzeit Medienforschung, Medienpraxis an der Technischen Universität Dresden.

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