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Thomas Knaus: Medienpädagogik 6.0 – ein überfälliges Update

    Zur Person

    Schorb, Bernd/Hartung-Griemberg, Anja/Dallmann, Christine (2017). Grundbegriffe Medienpädagogik. 6., neu verfasste Auflage. München: kopaed. 493 S., 26,80 €.

    Ist eine neue Auflage des orangefarbenen Klassikers Grundbegriffe Medienpädagogik wirklich notwendig?, fragte ich mich, als ich die Ankündigung des kopaed-Verlags entdeckte. Anja Hartung-Griemberg, Christine Dallmann und Bernd Schorb beantworteten diese Frage mit einem Ja und stellten mithilfe von 76 (!) Autorinnen und Autoren ein 493 Seiten starkes Update von 72 Grundbegriffen aus der medienpädagogischen Forschung und Praxis zusammen. Bereits beim ersten Durchblättern der neuen Auflage des 1981 erstmals erschienenen Bandes gebe ich den Herausgeberinnen und dem Herausgeber recht: Wer in den 480 Seiten der zuletzt überarbeiteten vierten Auflage die heute unerlässlichen Begriffe „Medienbildung“, „Medienkritik“ oder „Medienaneignung“ sucht, der findet: nichts. Diese aus heutiger Sicht recht auffälligen Leerstellen legten die nun umfänglich überarbeitete sechste Auflage nahe, die um folgende zentrale Grundbegriffe ergänzt wurde: Medienbildung (Tulodziecki), Medienaneignung (Schorb), Medienkritik (Niesyto), handlungsorientierte Medienpädagogik (Schorb), Identität (Keupp) und Mediensozialisation (Stehling/Thomas). Neu sind auch die Einträge zur Kulturellen Bildung (Glogner-Pilz), zur außerschulischen Medienarbeit (Anfang/Demmler), zu medienpädagogischen Handlungsfeldern (Kutscher/Kreß) und zur Medienerziehung in der Familie (Lange). Anhand dieser Begriffe, die auf das Anknüpfen an bisher unterschätzte Theorietraditionen oder das Erschließen neuer Perspektiven und Handlungsfelder hindeuten, wird die Aktualität und das Engagement medienpädagogischer Praxis und Forschung deutlich, die gerade in den letzten beiden Jahrzehnten nicht zuletzt durch die Mediatisierung und Digitalisierung unserer Gesellschaften befeuert wurde (beides sind übrigens Begriffe, die ich ebenfalls gerne nachgeschlagen hätte). Die mit der Digitalisierung einhergehenden Einzelphänomene Big Data (Zorn/Dander), Open Data (Unger) und Social Media (Knop) wurden im Band berücksichtigt; neu aufgenommen wurden auch Einträge zu Festivals und Preise, Körperbilder, Migration, Partizipation, Politik und Medien, Politische Bildung, Pornografie, Soziale Benachteiligung, Sozialökologie und Sucht. Ersetzt wurden Begriffe wie „Kirche und Medien" durch Religion und religiöse Bildung, „Zeichentrick“ wurde zu Comic, die Begriffe „Offener Kanal“ und „Bürgerrundfunk“ wurden unter Bürgermedien subsumiert, der Begriff „Medienforschung“ wurde durch medienpädagogische Forschung präzisiert, „Unterricht und Medien“ ging in Mediendidaktik, Schule und eLearning auf und „Sport und Medien“ sowie „Freizeit und Medien“ entfielen.

    Es entfielen in der aktuellen Überarbeitung neben „Massenkommunikation“ und „Hypertext“ auch einige inzwischen verblasste Modebegriffe wie „Infotainment“, „Multimedia“ und „Multimediales Lernen“ – im Wesentlichen Erläuterungen zur pädagogischen Bedeutung von Technik, beispielsweise zu „pädagogischen Potentialen“ des Computers (Aufenanger in Hüther/Schorb 2005, S. 57 und 61). Noch die beiden vorherigen Auflagen leiteten mit einem Hinweis auf „omnipräsente Computer“, das „weltumspannende Internet“ und „überall verfügbare Mobilkommunikation“ ein und reklamierten für sich, auf dem „neusten medienpädagogischen und medientechnischen Stand“ zu sein (ebd., S. 7, Herv. TK). Die Neukonzeptionierung wurde also seinerzeit mit dem technologischen und technischen Fortschritt begründet, während offenbar innerhalb weniger Jahre unsere durch (digitale) Technik und Medien geprägte und vernetzte Welt selbstverständlich geworden ist. In der mit identischem Titel überschriebenen Praxisausgabe von 2009 findet sich möglicherweise die Erklärung für das Fehlen medientechnischer Aspekte: „Da es sich [...] um ein medienpädagogisches Werk handelt, haben wir auch keine medientechnischen Begriffe aufgenommen, zumal hier die Entwicklung immer noch so schnell ist, dass viele unserer Stichworte bald veraltet gewesen wären“ (Schorb/Anfang/Demmler 2009, S. 7, Herv. TK). In der Tat trifft es zu, dass heute noch verbreitete Technik und Dienste, die alle nutzen und über die alle sprechen, schon morgen niemand mehr kennen wird. Andererseits fehlen mir gerade in einem einführenden Werk, das „die Medienpädagogik [...] als eine transdisziplinäre und integrale Disziplin versteh[t]“ (S. 7), übergreifende Aspekte von Technik und Technologien. Wenn Mediatisierung und Digitalisierung als übergreifende Phänomene über allem stehen („Allgegenwart und Omnipotenz von Medialität“, S. 7) und diese die Medien selbst, die Subjekte (ein ebenfalls ergänzenswerter Begriff) und deren soziale Bezüge und Gemeinschaften beeinflussen, dann wäre eine Befassung mit diesen Begriffen für ein Grundlagenwerk der Medienpädagogik wünschenswert. Immerhin avanciert in einer ‚digitalen' Welt, in der Medien nicht mehr nur von wenigen Profis, sondern von Vielen für Viele – oder sogar durch die Technik selbst – erzeugt werden, ein grundlegendes Technikwissen und (konzeptionelles) Technologieverständnis als Basis für Partizipation, Kritik- und Reflexionsfähigkeit. Das gilt umso mehr, wenn Medienkompetenz als Fähigkeit verstanden wird, die „umgebende Welt kritisch zu reflektieren“ (S. 256). Denn je medialer unsere Welt, desto wichtiger wird die Kenntnis, was hinter der Benutzerschnittstelle – dem Interface der Maschine – vorgeht.Die aktuelle Auflage verfügt über insgesamt 493 Seiten, die ein 65-seitiges gemeinsames Literaturverzeichnis (S. 411–476) enthalten; allein das Verzeichnis der 76 beteiligten Autorinnen und Autoren füllt 26 Seiten (S. 477–493) und fungiert damit als ein Who‘s who der Medienpädagogik. Die Inhaltsübersicht kommt trotz des Umfangs mit nur zwei Seiten aus und bietet daher einen schnellen und hilfreichen Überblick (obschon die alphabetische Sortierung z. B. bei „medienpädagogische Forschung“ nicht durchgängig nachvollziehbar ist). Zusätzlich wünschenswert wären nur noch ein Sachregister (wie in den vorherigen Auflagen) und eine durchgängig gendersensible Sprache. Das Vorwort wurde wieder recht knapp gehalten. Es bietet neben Zielsetzung und dem obligatorischen Dank an die Mitwirkenden historisch-generische Informationen zur Reihe. Weitergehende hilfreiche Einordnungen finden sich – wie in den Vorgängerbänden auch – unter den Grundbegriffen Medienpädagogik, traditionsgemäß von den Herausgebenden übernommen, und Medienkompetenz (Schorb). Eine etwas umfangreichere und erste Orientierung gebende Einleitung wäre gerade für Studierende, an die sich der hier beschriebene Band bzw. Grundlagenliteratur im Allgemeinen richtet (vgl. S. 7), sicher wertvoll gewesen.In zahlreichen Beiträgen können Autorinnen und Autoren nicht vermeiden, ihre subjektive Auffassung zu vertreten. Es gelang jedoch in weiten Teilen, die eigenen Sichtweisen mit der Arbeit der Kolleginnen und Kollegen in Beziehung zu setzen. Hervorzuheben ist, dass es überwiegend gelungen ist, wissenschaftliche und praktische Expertise zu verbinden – eine Spezialität der medienpädagogischen Community. Sicher ist es dem Genre und den beruflichen Pflichten der umfänglich eingebundenen Autorinnen und Autoren geschuldet, dass nicht alle Beiträge umfängliche Weiterentwicklungen erfuhren – dennoch spiegelt das Gros den aktuellen Diskussionsstand in bester Weise wider. Nicht zuletzt belegen die zahlreichen neuen Autorinnen und Autoren auch quantitativ die Leistung der Herausgebenden, denn die vierte Auflage wurde von ‚nur‘ 48 Mitwirkenden gestaltet. Dies zeigt darüber hinaus, dass die Medienpädagogik über eine sehr aktive Wissenschafts- und Praxiscommunity verfügt.

    Als sehr gelungen möchte ich außerdem anerkennen, dass die Lexikoneinträge just von den Autorinnen und Autoren verfasst wurden, die man mit dem jeweiligen Begriff am ehesten in Verbindung bringen würde. Es ist eine beachtliche Leistung, wenn Kolleginnen und Kollegen ihre Themen in wenigen Zeilen auf den Punkt bringen. Das Kurzfassen fällt doch stets so schwer – gibt es doch immer etwas, was man noch sagen müsste oder auch noch anders sehen könnte. Jede Auseinandersetzung mit dem Ziel der inhaltlichen Weiterentwicklung braucht jedoch Personen, die Position beziehen und Thesen formulieren, an der sich die Fachwelt orientieren, aber auch reiben kann. Meines Erachtens ist es der Herausgeber- und Autorschaft gelungen, eine kritische Auseinandersetzung mit „unterschiedlichen Perspektiven, Herausforderungen und Fragestellungen“ herzustellen und damit die Medienpädagogik, die sich „zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin entwickelt hat“ (S. 7), theoretisch und praktisch weiter zu fundieren – kurz gefasst: Ziel erreicht.

    Literatur

    Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (2005). Grundbegriffe Medienpädagogik. 4., vollständig neu konzipierte Auflage. München: kopaed.

    Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (2010). Grundbegriffe Medienpädagogik. 5., gegenüber der 4. unveränderte Auflage. München: kopaed.

    Schorb, Bernd/Anfang, Günther/Demmler, Kathrin (2009). Grundbegriffe Medienpädagogik. Medienpraxis. München: kopaed.

    Schorb, Bernd/Hartung-Griemberg, Anja/Dallmann, Christine (2017). Grundbegriffe Medienpädagogik. 6., neu verfasste Auflage. München: kopaed.

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    Herausgeber*in

    Kathrin Demmler | Prof. Dr. Bernd Schorb
    JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis

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