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Ulrike Lennartz & Dr. Stefan Piasecki: Fernsehen macht Geschichte? – Tatsächlich!

  • Fernseher

Zur Person

Bundeszentrale für politische Bildung (2014). Fernsehen macht Geschichte. Die Jahresschau 60x Deutschland im Unterricht. 6 DVDs, 1 DVD-Rom für Mac/Win, 15 €. www.bpb.de

Film und Fernsehen im Unterricht einsetzen führt schnell zu einem inhaltlichen Bruch – es ist mühsam, die Aufmerksamkeit danach wieder zu fokussieren. Historische Schwarz-Weiß-Aufnahmen zur Politik- und Gesellschaftsgeschichte mit Wochenschau-Ton sind weit weg von der vielfarbigen, multimedialen und virtuellen Erlebensrealität von Jugendlichen heutzutage und vergrößern die mentale Distanz zur auch jüngeren Zeitgeschichte noch mehr. Eine audiovisuelle Combo der Bundeszentrale für politische Bildung setzt an diesem Problem an. Das Angebot besteht aus den gesammelten Folgen der Dokumentation Sechzig mal Deutschland und der Didaktik-DVD Fernsehen macht Geschichte.

Die Dokumentationsserie des Rundfunk Berlin- Brandenburg lief bereits ab 2009 auf ARD, die Didaktik-DVD wurde gemeinsam mit der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster konzipiert. Die beiden Produkte sind nicht einzeln bestellbar, sondern können nur als Kombination bezogen werden. Die Jahresschau bietet einen sehr kompakten, aber dennoch umfangreichen Überblick über die deutsch-deutsche Geschichte. Im Mittelpunkt stehen neben den großen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen und Konflikten bewusst auch ‚Normalereignisse‘: von der Kaffee- Krise in der Deutschen Demokratischen Republik (1977) bis zur ersten ‚Radarfalle‘ in der Bundesrepublik Deutschland (1959). Durch Filmausschnitte erfahren gerade junge Zuschauerinnen und Zuschauer im Schwarzwaldmädel (1950) von der Sehnsucht der Deutschen nach einer heilen Welt, sie erleben den Beginn lehrreichen Fernsehens für Kinder durch den Start der Sendung mit der Maus (1971) mit oder fiebern für die Protagonistinnen und Protagonisten der ARD-Daily-Soap Verbotene Liebe (1995). Sechs Jahrzehnte deutscher Politik, wirtschaftlichen Auf- und Durchbruchs, sportlicher Erfolge und Niederlagen sowie internationaler Schlagzeilen der Weltpresse werden so aufgelockert und interessant gestaltet, dass die Relevanz der Ereignisse für die alltägliche Lebenswelt des Publikums spürbar und ‚Geschichte‘ spannend und sogar unterhaltsam wird. Die sechs DVDs bieten Material zu jeweils einem Jahrzehnt:

Die erste DVD beginnt mit dem Gründungsjahr der beiden deutschen Staaten im Jahr 1949 und endet mit der Einführung einer neuen Staatsflagge für die Deutsche Demokratische Republik – nach immerhin zehn Jahren ihres Bestehens. Zwischendurch werden Themen wie die Flüchtlingspolitik der Heimatvertriebenen (1950), der wirtschaftliche Wiederaufbau im Osten durch den Fünfjahresplan und im Westen durch die Wiedereröffnung des KaDeWe (1950) behandelt. Die 1960er-Jahre auf der zweiten DVD werden eingeleitet durch die Nazi-Vergangenheit aktiver Politikerinnen und Politiker der neuen Bundesrepublik Deutschland, daraufhin folgen beispielsweise der Mauerbau, die Kubakrise, der Besuch John F. Kennedys in Berlin, der Höhepunkt der Studentenproteste und die erste bemannte Mondladung durch den amerikanischen Astronauten Neil Armstrong. Auch hier finden sich neben Großthemen etliche Beispiele politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Alltagshandelns. Die dritte DVD umfasst die 1970er-Jahre – vom spektakulären Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrenmal des Warschauer Ghettos (1970) bis zur Welle des Linksterrorismus ab 1975. Mit der vierten DVD dämmern die 1980er-Jahre und da mit der Anfang vom Ende des Eisernen Vorhangs herauf. Ökologie und Umweltschutz treten immer stärker in das Bewusstsein vieler Deutscher und am 9. November 1989 wird die bereits 1987 ausgerufene Forderung des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan Wirklichkeit: „Mr. Gorbachev, tear down this wall“. Die DVD endet also mit der Öffnung und dem anschließenden Fall der Berliner Mauer. Die fünfte DVD behandelt die Ereignisse der 1990er-Jahre mit beispielsweise der Gründung der deutschen Einheit, Brandanschlägen auf ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger und dem Abzug der West-Alliierten aus Berlin.

Die sechste und letzte DVD gibt Auskunft über die ersten neun Jahre des neuen Jahrtausends: vom Rinderwahn über die Anschläge des 11. September und den daraufhin beginnenden Irakkrieg bis zur Einführung des Euro als Zahlungsmittel. Die Didaktik-DVD Fernsehen macht Geschichte ist speziell durch viele Interviews von Zeitzeugen sowie Originalberichte aus dem Ost- und Westfernsehen herausragend – gerade Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die keine familiären Bezüge zur ‚oral history‘ haben, erfahren so die Kraft von Augenzeugenberichten. Diese Jahresschau ist nicht nur für den schulischen Geschichtsunterricht brauchbar, sondern kann auch an Volkshochschulen, in Familienbildungszentren und universitären Einführungsseminaren genutzt werden – auch als ‚Steinbruch‘ für studentische Projekte eignet sie sich durch ihre Materialvielfalt. Sie vermittelt durch unzählige Ausschnitte aus Radio und Fernsehen ein eindrückliches Bild der letzten Jahrzehnte. Das gut strukturierte Booklet erläutert die einzelnen DVDs noch einmal in Text und Bild und gibt kurze Inhaltsangaben, die sogar die Länge der Clips angeben. Auch hierdurch wird der Einsatz in Lernumgebungen erheblich erleichtert. Die Didaktik-DVD ist ein besonderes Werk: Von ihrer Bildschirmoberfläche aus können zusätzliche Daten wie Begleit- und Hintergrundtexte sowie Clips eruiert werden: Wer ein Smartphone bedienen kann, findet sich zurecht. Alle anderen benötigen einige Minuten der Orientierung, um die verschiedenen Piktogramme und ihre Funktionen zu verstehen. Filmbestandteile lassen sich in ihrer Wirkung analysieren bzw. bewerten und auch Ton-Kommentare können von den Nutzerinnen und Nutzern eigenständig eingesprochen werden – so sind unterschiedliche Wirkungen von Ton und Bild zu simulieren, indem eine eigentlich dramatische Meldung beispielsweise betont fröhlich kommentiert wird.

Mit dem Angebot wendet sich die Produktion jedoch nicht nur an Lernende, Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II, Studierende im Grundstudium der Geschichts- und Medienwissenschaften, sondern auch an Lehrende. Diese profitieren von didaktischem Material, Projektanregungen und innovativen Bearbeitungs- und Vermittlungsformen. Die Didaktik-DVD läuft im Internet-Browser. Das macht sie flexibel einsetzbar auf so gut wie jedem Betriebssystem – allerdings bedeutet das auch, dass sie von möglicherweise bereits vorhandenen Browser- oder Flash-Konflikten in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt wird. Falls Clips gar nicht oder unvollständig laufen, ist die Dokumentation kaum noch brauchbar. Eine weitere Lücke stellt das Fehlen von Untertiteln für Gehörlose dar – angesichts des ansonsten gut aufbereiteten Materials, dem diese sehr gut folgen können, ist das sehr schade. Ob die Produktion nun von den Zielgruppen angenommen wird, hängt zum Teil von der Empathie der Lehrenden bzw. Einführenden ab, aber auch vom Kenntnisstand, Erfahrungsgrad und Interesse der Nutzenden. Vorhanden sind eine Fülle an Material und Bearbeitungsmöglichkeiten, die nun auch genutzt werden müssen ... Allerdings: Wenn man häufig sagt, Lernende wollen mitwirken können und interaktiv an ihrem jeweiligen Kenntnisstand ‚abgeholt‘ werden, dann macht diese Combo exakt das. Über Style, Haptik und die nüchtern informative Benutzeroberfläche kann man sich streiten, aber das kann man auch über iOS- oder Android- Oberflächen. Die Kombination von TV-Dokumentation und Lernsoftware ergänzt sich ideal. Sie ist nicht nur Werkstatt, sondern durch die kreativen Interaktionsmöglichkeiten mit dem Material gleichzeitig Werklabor. Abschließend kann nur eine ganz klare Empfehlung ausgesprochen werden:

Sechzig mal Deutschland und Fernsehen macht Geschichte sollten – sogar nicht nur – Schule machen.

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