Bettina Arnoldt
Beiträge in merz
Markus Achatz und Bettina Arnoldt: FUMETTO - Vom Comic-Virus infiziert
Jedes Jahr im Frühling wird die schweizerische Touristenstadt Luzern am Vierwaldstätter See zum Zentrum der Comic-Kultur im deutschsprachigen Raum. In Deutschland fristen Comics und deren gesamte Szene eher ein Schattendasein. Als Medium völlig unterschätzt – als Kultur eher eine Subkultur – bieten die gezeichneten Bilderfolgen jedoch ein riesiges Repertoire an Genres, Techniken und vor allem an großartigen Geschichten. Innerhalb der Comicszene kommen derzeit vor allem Mangas aus Japan sowie Graphic Novels – Romane in Comicform, die mehr ‚Bücher’ als klassische Comic-Alben sind – mit herausragenden und innovativen Neuerscheinungen auf den Markt. Das Festival zeichnet sich insgesamt dadurch aus, dass es sich an Schnittstellen heranwagt. Fumetto interessiert sich für alles, was mit Bildern arbeitet. Dadurch reicht die Gesamtschau der gezeigten Werke vom klassischen Comic über bildende Kunst und Animationen bis hin zum Theater.
Das Fumetto, das 2009 vom 28. März bis 5. April stattfand, bietet Einblicke in zahlreiche neue Comic-Veröffentlichungen und stellt jedes Jahr bedeutende Zeichnerinnen und Zeichner sowie Verlage oder Comic-Kollektive in Ausstellungen vor. Hierbei dominiert zwar die europäische Szene, der Anteil internationaler Künstlerinnen und Künstler wurde in den letzten Jahren jedoch stetig erweitert. Ein wichtiger Bestandteil des Festivals ist der Wettbewerb, der jährlich zu wechselnden Themen ausgeschrieben wird und an dem sich jedermann beteiligen kann. Tatsächlich reichten rund 1.000 Zeichnerinnen und Zeichner aus der ganzen Welt und aus allen Altersstufen ihre Strips ein. Eine Auswahl der 2009 eingesandten Arbeiten zum Thema „Virus“ war in der Wettbewerbsausstellung zu sehen. Eine Fachjury kürte die Preisträger in drei verschiedenen Alterskategorien und auch die Besucherinnen und Besucher konnten ihre Stimme für den Publikumspreis vergeben.Das besondere am Comix-Festival in Luzern ist, dass sich die Ausstellungen auf die ganze Stadt verteilen und gleichzeitig feste Anlaufstellen alle Comic-Begeisterten wieder zusammenbringen. Dies sind vor allem das Festivalzentrum in der historischen Kornschütte und die vielen Events des Rahmenprogramms mit Performances, Diskussionsrunden, Zeichen-Battles oder Konzerten. In diesem Sinne ist es auch ein Festival für das Publikum, dem ein vielfältiges Programm geboten wird. Unterstützt wird die einladende Atmosphäre durch die Beteilung der Luzerner Bevölkerung am Fumetto, denn neben dem eigentlichen Festival gibt es in der gesamten Stadt sogenannte ‚Satelliten-Ausstellungen’, für die eine Vielzahl Luzerner Geschäfte, Firmen, Cafés in den eigenen Räumen oder Schaufenstern die Werke von Comic-Künstlerinnen und -Künstlern frei zugänglich aushängen.Den Kern des Fumetto bildeten neben der Wettbewerbsausstellung in diesem Jahr 18 Einzelausstellungen. Die Künstlerinnen und Künstler kamen aus Frankreich, Belgien, Großbritannien, Finnland, USA, Kanada, Israel, der Schweiz und erstmals in der Geschichte des Fumetto aus Japan. Einer der prominentesten Künstler des diesjährigen Festivals war der Franzose Blutch. Der 42-Jährige gilt in Frankreich seit einigen Jahren als einer der bedeutendsten Zeichner und Autoren seiner Generation. Außerhalb Frankreichs ist der vielseitige Künstler und Erzähler bislang kaum bekannt, obwohl Blutch auf dem Comic-Festival von Angoulême 2009 den „Grossen Preis der Stadt Angoulême“, eine der höchsten Auszeichnungen für einen französischen Comic-Autor, erhalten hatte. In Luzern waren vor allem seine Gemälde (u. a. aus seinen Alben La Volupté und La Beauté) sowie Originalskizzen seiner Serie Le Petit Christian zu sehen. Im Rahmen des Fumetto fand auch die Buchvernissage der deutschen Gesamtausgabe Der kleine Christian (Reprodukt 2009) statt. Vor kurzem war Blutch als Zeichner auch am Band Der Sohn der Drachenfrau aus der Donjon-Kultreihe von Lewis Trondheim und Joann Sfar beteiligt (erschienen als Nr. 7 der Serie Donjon-Monster, Reprodukt 2009).
Die wachsende Bedeutung des Fumetto für die internationale Comic-Szene lässt sich an Talenten wie der 28-jährigen Amanda Vähämäki aus Finnland festmachen. Die in Tampere geborene Künstlerin gewann den Fumetto-Wettbewerb im Jahr 2005 und veröffentlichte seither in zahlreichen Comic-Anthologien ihre teils alltäglichen, teils surreal-traumhaften Geschichten. Vor allem durch die Kontakte mit der italienischen Gruppe Canicola in Bologna und Veröffentlichungen in der gleichnamigen Anthologie weckte sie internationale Aufmerksamkeit. In Deutschland sind erste Comics unter anderem in den Magazinen Strapazin oder Orang erschienen. Auf dem Fumetto hatte sie 2009 nun eine Einzelausstellung und präsentierte Auszüge ihrer enigmatischen Geschichten über das Lebensgefühl Jugendlicher.Jedes Jahr verdeutlicht das Fumetto seine Offenheit gegenüber anderen Künsten. Die Grenzen zu Grafik, Malerei, Design oder Aktionskunst sind fließend. Geneviève Castrée aus Québec (Kanada) greift diese Möglichkeiten des Comics ganz bewusst auf. Die 27-Jährige zeichnet seit 1996 Comics und arbeitet gleichzeitig als Illustratorin und Musikerin. Gemeinsam mit ihrem Partner Phil Elvrum spielt sie in der Band Woelv und verarbeitet dort ihre Bilder und Geschichten zu melancholischen Folksongs. Woelv-Platten sind gleichzeitig Tonträger und Comics, denn die aufwändig gestalteten Booklets mit vielen Zeichnungen beziehen sich auf die Songs und umgekehrt. Im Jahr 2007 erschien auf dem US-Plattenlabel K-Records der Titel Tout seul dans la forêt en plain jour, avez-vous peur? (Haben Sie Angst, tagsüber ganz allein im Wald?).
Seit einigen Jahren ist das Kunstmuseum Luzern als Ausstellungsort fester Bestandteil des Fumetto. Ausgesuchte Comic-Künstler haben die Gelegenheit, ihre Arbeiten im bedeutendsten Kunstmuseum der Zentralschweiz zu zeigen. In diesem Jahr war es unter anderem der Japaner Yuichi Yokoyama, dessen Stil kaum auf externe Einflüsse festlegbar ist. Er lebt in einem Vorort von Tokio ohne Computer, Fernseher und Führerschein und sagt von sich selbst, dass er in seinen Bildern auf Namen, Dialoge und Emotionen völlig verzichtet. Vielmehr versteht er sich als jemand, der den „Schein der Dinge, ihre Oberfläche“ zeigen möchte. Seine Zukunftsvisionen konzentrieren sich auf Bewegung, Aktion und Tempo. Zum Comic ist Yuichi Yokoyama gekommen, weil ihn die Abgeschlossenheit des Gemäldes zunehmend gestört hat. Comics ermöglichen ihm, die Komponente des zeitlichen Verlaufs aufzugreifen.Mit 55.000 Besucherinnen und Besuchern war das Publikumsinteresse in diesem Jahr ungebrochen hoch. Dies zeugt von einer Anerkennung des Comics als eigenständige Kunstform außerhalb von Deutschland. Auch die rege Nutzung des eigens entwickelten Programms für Schulklassen bietet einen Hinweis darauf, dass das Medium Comic in anderen Ländern einen besseren Ruf genießt. Einerseits beteiligen sich ganze Schulklassen von den untersten Jahrgängen an am jährlichen Wettbewerb. Im Vorfeld des Festivals erstellen die Kinder und Jugendlichen ihre Arbeiten unter anderem im Rahmen des Schulunterrichts.
Durch die Preisvergabe auch für jüngere Altersklassen (bis zwölf Jahre sowie 13 bis 17 Jahre) besteht die Chance, dass auch die Mühen der jüngeren Teilnehmerinnen und Teilnehmer gewürdigt werden. Dieses Vorgehen ist so erfolgreich, dass dieses Jahr die erst 16-jährige Anina Mirjam Schärer aus der Schweiz, die ihren Wettbewerbsbeitrag im Rahmen des Zeichenunterrichts erstellte, sogar den altersübergreifenden Publikumspreis gewann.Andererseits gibt es ein speziell für Schulklassen entwickeltes interaktives Begleitprogramm für den Festivalbesuch. Das Fumettino Maxi besteht aus zwei Bausteinen und einer Arbeitsmappe, die eine didaktische Einführung zum Thema „Comic“ und Übungen für den Unterricht im Vorfeld enthält. Der Baustein „Führung“ bringt den Schülerinnen und Schüler das Medium Comic anhand des Wettbewerbsthemas näher. Es wird das Zusammenwirken von Form und Inhalt der Bilder- und Sprachwelt der Comics erläutert. Im zweiten Baustein „Postenarbeit“ haben die Schülerinnen und Schüler selbst die Möglichkeit, aktiv zu werden. In Kleingruppen besuchen sie einzelne Ausstellungsorte („Posten“), an denen selbständig Aufgaben bearbeitet werden. Mithilfe von Fragen werden die Kinder und Jugendlichen an die Comicgeschichten herangeführt. Zeichenübungen schulen ihr Sehen und machen den Comicaufbau verständlich. Das Begleitprogramm wurde auch dieses Jahr von Schulen und Jugendgruppen vielfach genutzt. Für jüngere und jugendliche Einzelpersonen besteht im Rahmen des Kinder- und Jugendprogramms Fumettino ebenso die Möglichkeit, an Zeichenkursen, Workshops und betreuten Programmen teilzunehmen.Insgesamt gelang es den Veranstaltern auf unkommerzielle Art und Weise, Nachwuchs, Newcomer, etablierte Künstler und ihr Publikum zusammenzubringen.