Michelle Bichler
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Michelle Bichler: Japanische Zeichentrickserien im deutschen Fernsehen
Der japanische Zeichentrick (Anime) ist in den letzten Jahren nicht nur aufgrund seines enormen Erfolges im deutschen Kinderprogramm und dem damit einhergehenden Mehr an Anime-Cartoons in aller Munde, sondern löste durch Kassenschlager wie Pokémon oder DragonBall Z auch harsche Kritik und zahlreiche Diskussionen um seine allgemeine Zulässigkeit und seine Wirkung auf das kindliche Publikum aus. Scheint der Importboom japanischer Trickserien auf den ersten Blick ein neueres Phänomen zu sein, so muss dem bei genauerer Betrachtung jedoch widersprochen werden, da Anime seit mehr als zwei Jahrzehnten einen fixen Sendeplatz im deutschen Fernsehprogramm haben. Serien wie etwa Biene Maja (1975), Captain Future (1977), Heidi (1974) und Nils Holgersson (1979) sind allesamt japanischen Ursprungs, wurden in den späten 1970er Jahren billig erworben und begeisterten schon damals das deutsche Fernsehpublikum; sie wurden jedoch in der Regel nicht als japanische Produktionen erkannt bzw. wahrgenommen. Dies kann hauptsächlich darauf zurückgeführt werden, dass die Serien einerseits zum Großteil auf literarischen Vorlagen europäischen Ursprungs basierten – den ersten nach Deutschland importierten Cartoons fehlte es an „japanischen“ Inhalten –, und andererseits eine wichtige Entwicklung am japanischen Comic-Sektor zu dieser Zeit noch nicht vollständig ausgereift war – die Etablierung der so genannten „Story-Manga“1 des Pioniers Osamu Tezuka sowie dessen Revolutionierung der Zeichentechnik durch Verwendung filmtechnischer Effekte. Viele Merkmale, die heute japanischen Anime zugeschrieben werden, sind auf diese Elemente zurückzuführen (vgl. Poitras 2001, S. 18). Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass Anime in den 1960er und -70er Jahren in Japan begannen, sich vom universal üblichen Kindergenre wegzuentwickeln. Die Cartoon-Fans wurden älter und verlangten nach entsprechenden Themen.
Mit der Etablierung von Trickserien für Erwachsene brach Japan demnach mit der allerorts (auch in Deutschland) zu findenden Tradition der Gleichsetzung von Zeichentrick und Kinderprogramm. Diese thematische Ausdifferenzierung wurde jedoch außerhalb Japans nicht oder nur teilweise registriert, weshalb die derzeitigen Diskussionen rund um die negative Wirkung von Anime auf die jungen Zuseher rückblickend nicht verwunderlich sind, sondern im Gegenteil absehbar waren, da die Sendeanstalten, welche die Lizenzen zur Ausstrahlung von den ostasiatischen Trickserien erwarben, nach wie vor davon ausgingen, dass Zeichentrickproduktionen – egal welcher Herkunft – für Kinder gemacht sind (vgl. Bichler 2002). Der Durchbruch mit Pokémon und SailormoonBis Mitte der 1990er Jahre griffen deutsche Sendeanstalten demnach vor allem für ihr Kinderfernsehprogramm regelmäßig auf japanische Zeichentrickgeschichten zurück, doch kam es zu keinen einschneidenden Angebots- oder Nutzungsveränderungen. Anime liefen als solche unerkannt neben hauptsächlich amerikanischen und deutschen Zeichentrickproduktionen. Dies änderte sich schlagartig mit der Einführung von in Japan erfolgreichen Serien wie Sailormoon, Pokémon und Dragonball (Z) im Programm des Spartensenders RTL 2 – nicht zuletzt aufgrund ihrer umfassenden Vermarktungs- und Merchandisingstrategien. Die jungen Zuschauer waren fasziniert und begeistert von den actiongeladenen, spannenden Geschichten, die formal sowie inhaltlich deutliche Unterschiede zu bekannten Zeichentrickserien aufwiesen, und bestimmte Anime-Serien hielten sogar Einzug in den Alltag der Kinder (vgl. Paus-Hasebrink/Lampert 2003, S. 28; Götz/Ensinger 2002).
Somit setzten einerseits die bislang stattfindenden Diskussionen um die Problematiken japanischer Zeichentrickserien ein (sehr intensiv fanden diese am Beispiel der Serie Dragonball Z statt), und gleichzeitig wuchs die Angebotspalette an Anime-Serien im deutschen Fernsehen an. Während Sendeanstalten, die bislang keine japanischen Trickserien ausstrahlten, Anime in ihr Programm einbauten, boten jene Sender, die bereits entsprechende Sendungen vertrieben, noch mehr japanische Zeichentrickserien an und kreierten sogar zum Teil ganze Anime-Programmflächen (wie etwa RTL 2). Wohlgemerkt wurde jedoch auch Ende der 1990er Jahre nach wie vor davon ausgegangen, dass alle Anime Kinderserien waren – die japanischen Trickgeschichten wurden somit ohne Ausnahme im Kinderprogramm der jeweiligen Sender ausgestrahlt.Mit immer lauter werdenden Protesten gegen manche Anime-Serie und ihre Platzierung im Fernsehprogramm sowie mit Gutachten und Studien zu deren Wirkungsaspekten (Paus-Haase/Lampert 2002; Götz/Ensinger 2002) wurden die Programmverantwortlichen langsam gewahr, dass japanische Cartoons auch für ältere Zielgruppen konzipiert sein können und bestimmte Geschichten dadurch nichts im Kinderprogramm zu suchen haben.
Dies zeigte sich daran, dass Sender wie MTV, VOX und VIVA in den letzten drei Jahren begonnen hatten, regelmäßig Anime für ältere Zuseher auszustrahlen – auch in Form von „Anime-Abenden“ (vor allem auf VOX), in welchen mehrere Episoden einer speziellen Serie hintereinander geschaltet wurden. Anime auf allen Kanälen Im derzeitigen deutschen Fernsehen lassen sich insgesamt fünfzehn unterschiedliche Sendeanstalten ausmachen, in deren Programm zumindest eine Anime-Serie zu finden ist. Auffällig ist, dass vor allem Privatsender und Pay-TV-Programme auf fernöstliche Trickserien zurückgreifen. Die Spitzenreiter unter den Anime-Anbietern sind Junior (Premiere), Fox Kids (Premiere), RTL 2 und Tele 5 – Sender, die sich vorrangig an Kinder und Jugendliche richten bzw. die Anime im Kinderprogramm ausstrahlen. Auffällig ist, dass nicht selten in Form von Programmflächen konzeptioniert wird – egal welche Zielgruppen angesprochen werden sollen (siehe RTL 2 oder VOX). Einzelne Sendungen werden, unabhängig von Sender und Sendeplatz, sehr rasch und offensichtlich beliebig ausgetauscht und durch neue ersetzt – Aus- und Abwechslung scheint das Erfolg versprechende Rezept zu sein.
Und dem ist nicht zu widersprechen, wenn man bedenkt, dass einst „boomende“ Serien wie Pokémon oder Dragonball Z bei den Kindern bereits zum Alltag gehören und neue wie etwa Yu-Gi-Oh! oder Beyblade verstärkt um die Aufmerksamkeit der Kinder buhlen – auch in den Verkaufsregalen. Eine rasche Berg- und Talfahrt also, wirft man etwa einen Blick auf die Hitliste der 3- bis 13-Jährigen im Jahr 2002, in welchem Dragonball Z immerhin Rang 1 der beliebtesten bzw. meistgesehenen Sendungen belegte. (Lambrecht 2003)Der Trend geht demnach deutlich in Richtung Ökonomisierung. Neue Serien gehen einher mit neuen Begleitartikeln, die natürlich, will man ein echter Fan sein, erstanden werden müssen. Die Sender beleben in enger Kooperation mit der Werbeindustrie – und dies ist hier entscheidend – durch das kontinuierliche Wechseln an Anime-Serien die Wirtschaft.
Anmerkung1 In „Story-Anime“ werden erstmals längere Fortsetzungsgeschichten zu allen erdenklichen Themengebieten mit sich weiterentwickelnden Charakteren geschildert. Die damals gängige Episodenstruktur wurde zugunsten „eines durchgehenden, handlungsbetonten Erzählkonzepts“ (Berndt 1995, S. 48) aufgebrochen.
Literatur:
Berndt, Jaqueline (1995): Phänomen Manga. Comic-Kultur in Japan. Berlin: Edition qBichler, Michelle (2002): Anime sind anders. Produktanalytischer Vergleich japanischer und amerikanischer Zeichentrickserien. Diplomarbeit, Universität Salzburg [unveröffentlichtes Manuskript]
Götz, Maya/Ensinger, Carolina (2002): Faszination Dragon Ball (Z): Zwischen starken inneren Bildern und Aggressionsbereitschaft. Eine qualitative Studie zur Bedeutung von Dragon Ball Z für Kinder und Pre-Teens (6 bis 15 Jahre). In: www.izi.de. München: IZI (aufgerufen am 17.11.2003)
Lambrecht, Clemens (2003): Programmangebot in der Nutzungsperspektive der Kinder. Bestandsaufnahme zum Kinderfernsehen 2002. In: www.kinderfernsehforschung.de/bestand/Arbeitsbereiche/6-Nutzung/2002/Nutzung2002.htm (aufgerufen am 17.11.2003)
Paus-Haase, Ingrid/Lampert, Claudia (2002): Gutachten zu DragonBall und DragonBall Z im Hinblick auf die Darstellung von Gewalt und sexuellen Inhalten. Unveröffentlicht. Salzburg und Hamburg (unter Mitarbeit von Michelle Bichler und Eva Hammerer)
Paus-Hasebrink, Ingrid/Lampert, Claudia (2003): Dragonball und Dragonball Z: Action, Abenteuer, Anime. Action-Animes – eine neue Generation von Action-Cartoons. In: merz, 2/2003, S. 28–31
Poitras, Gilles (2001): Anime Essentials. Every Thing A Fan Needs To Know. Berkeley/ California: Stone Bridge Press