Jens Dehn
Beiträge in merz
Jens Dehn: Nordische Filmtage Lübeck
Kein anderes Thema hat die Medien während des abgelaufenen Jahres so beschäftigt wie die von Thilo Sarrazins Buch ausgelöste Debatte um integrationsunwillige Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Seriöse Tageszeitungen und TV-Sendungen haben sich gleichermaßen wie Boulevardmagazine vor den Karren spannen lassen, um der Frage nachzugehen, wie gespalten das Land tatsächlich ist. „Die Medien neigen gerne zur Problematisierung“ konstatiert Elsa Kvamme, norwegische Dokumentarfilmregisseurin, und meint damit sowohl deutsche Medien als auch die in ihrer Heimat.
Mit ihrem Film Die Könige von Oslo war Kvamme im vergangenen November bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck zu Gast, einem der traditionsreichsten Filmfestivals in Deutschland. Fernab von plakativer Verallgemeinerung und Stereotypisierung wurden hier mehrere Filme gezeigt, die sich – obwohl in anderen Ländern und Kulturen entstanden – eingehend mit eben jener Integrationsthematik beschäftigen. Und obwohl es nicht einmal dem Kern dieser Filme entspricht, werden hier sehr präzise Gründe offenbart, warum es oftmals so schwierig ist, ausländische Menschen in einen bestehenden Kulturkreis zu assimilieren. Deutschland ist – das wurde in Lübeck deutlich – bei weitem nicht das einzige Land, dessen Integrationspolitik die eigene Regierung vor Herausforderungen stellt. Als die Schweden im September ein neues Parlament wählten, ging ein Aufschrei durch das einstige liberale Vorzeigeland. Erstmals zog die rechtspopulistische Partei „Schweden-Demokraten“ in den Reichstag ein. Deren oberstes Ziel im Wahlkampf: die massive Einschränkung bei Zuwanderungen. „Das sagt ja schon einiges aus“, meint Peter Kropénin, Produzent des Spielfilms Between two Fires. „Ich hoffe, dass unser Film helfen kann, Asylanten wie Marta zu verstehen und auch ihre Perspektive zu akzeptieren.“ Marta ist die Hauptfigur in Between two Fires, die mit ihrer zehnjährigen Tochter vor dem gewalttätigen Liebhaber aus Weißrussland flieht und in Schweden Asyl beantragt. Im Asylantenheim lernt sie den Algerier Ali kennen und lieben, doch um ihre Aufenthaltsgenehmigung zu sichern müsste sie den Schweden Bengt heiraten, einen alten Mann.
Die in Polen geborene Regisseurin Agnieszka Lukasiak hat aus der Geschichte ein großartig inszeniertes Drama gemacht, das den Schwebezustand aus ständiger Hoffnung auf der einen Seite und der Angst, abgeschoben zu werden auf der anderen schildert. Einfühlsam, teils bedrückend, aber immer faszinierend erhalten die (sozial abgesicherten) Zuschauerinnen und Zuschauer so realistische Einblicke in die Parallelwelt der Asylbewerber, deren Lebensumstände, Hintergründe und Notwendigkeiten ihnen im realen Leben gänzlich verschlossen bleiben. Lukasiak wollte keine Systemkritik am schwedischen Sozialstaat üben, dennoch kommen die Vertreter des Staates denkbar schlecht weg. Für Mick Pantaleo, Assistenz-Regisseur bei Between two Fires, jedoch eher eine Frage der Perspektive, denn der Kritik: „Marta trifft Leute, die immer sagen, sie können helfen. Aber tatsächlich tun sie es nicht, weil das System zu verfahren ist. Daher ist es in meinen Augen eher eine Perspektive von Marta: In dem Auffanglager gibt es einfach keine Beziehung zwischen den Asylanten und den schwedischen Autoritäten.“ Tatsächlich nimmt der Film sehr strikt die Blickweise der Immigrantinnen und Immigranten ein. Das Rechtssystem erscheint dabei als gefühlskalt. Dass es sich hier um Schweden handelt, ist nebensächlich, die Geschichte selbst kann sich so beinahe überall abspielen. Man kommt in ein fremdes Land, ist in einem Camp untergebracht, hat keinen Kontakt zu Einheimischen. Nur zu Leuten, die die Sprache genauso wenig verstehen. Eine verfahrene und hoffnungslose Situation. „In Großbritannien ist es genauso“, ergänzt der Engländer Pantaleo. „Wenn Leute ins Land kommen, sehen sie sich damit konfrontiert, dass sie nicht sehr willkommen sind. Dieses Gefühl gibt man ihnen nicht. Erstmal werden sie entmutigt, um dann zu sehen, ob es ihnen wirklich ernst ist und ob sie tatsächlich Hilfe brauchen.“ Selten wurde dieses emotionale Wechselbad so aufwühlend dargestellt wie in Between two Fires.
Ein erschütterndes Beispiel, wie Integration keinesfalls funktionieren kann, zeigt auch der dänische Spielfilm Das Experiment. In den 1950er Jahren wurden 22 grönländische Kinder ihren Eltern entrissen und nach Dänemark zu Pflegefamilien gebracht. Nach dem Willen des dänischen Staates sollten sie sich den dänischen Gepflogenheiten anpassen und zu einer Art „Elite“ Grönlands herangebildet werden. Einige der Kinder wurden adoptiert, die restlichen kamen nach einem Jahr zurück in ihre Heimat. Allerdings nicht zu ihren Angehörigen, sondern in ein Pflegeheim. Das Experiment scheiterte: Die Kinder verlernten in der Fremde ihre grönländische Muttersprache, wurden weder in Dänemark noch in Grönland akzeptiert und litten teilweise ein Leben lang unter der Entwurzelung. Das Thema war sowohl in Dänemark als auch in Grönland lange Zeit tabu. Erst jetzt wird in der Öffentlichkeit verstärkt über dieses dunkle Kapitel der dänisch-grönländischen Geschichte gesprochen. Ein Verdienst der Regisseurin Louise Friedberg, die die Geschichte der Kinder einfühlsam aufarbeitet. „Als der Film heraus kam, gab es schon eine ziemliche Aufregung in den Medien, sowohl in Dänemark als auch in Grönland. Ich hoffe natürlich, dass daraus etwas Nützliches entsteht“, sagt Friedberg. „Es gab schon früher Diskussionen darüber, ob sich Dänemark entschuldigen sollte, das hat der Staat bislang nie getan. Der Premierminister hat es verneint, weil er meinte, man solle keine alten Wunden aufreißen. Die Debatte wurde damals schnell geschlossen, aber jetzt brandet sie wieder auf.“ Die Geschichte des gescheiterten Experiments zeigt, dass man Entwicklungen nicht erzwingen kann. Das galt in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht minder als heutzutage, wie Louise Friedberg unterstreicht: „Es ist im Film nicht mehr offensichtlich, aber wir haben während der Arbeit am Drehbuch viel über Parallelen zu unserem heutigen Verhalten gesprochen. Ich denke, in Dänemark ist es noch zehn Mal schlimmer als in Deutschland. Es wird dort heftig darüber diskutiert, dass es Ausländern nicht erlaubt sein sollte, ihre Muttersprache in der Schule zu lernen. Das ist ein Problem. Ich finde, wir tun ihnen damit dasselbe an, wie den Kindern damals. Man will den anderen anpassen, anstatt ihn zu akzeptieren. Für mich ist da eine Parallele zu heute.“
Doch es geht auch anders: Eine weitaus positiver verlaufende Form der Integration als in den beiden Spielfilmen weist Elsa Kvammes eingangs erwähnte Dokumentation Die Könige von Oslo auf. Zeigen, dass es trotz unterschiedlicher kultureller Hintergründe auch Schulklassen gibt, die zusammenhalten und füreinander einstehen, ist eines der Anliegen, das die Regisseurin mit ihrem Film verfolgt. Mit den titelgebenden Königen ist die siebte Klasse einer sogenannten „Barneskole“ in Oslo gemeint. Das Schulsystem in Norwegen ist ein anderes, erst ab der achten Klasse werden Noten vergeben. Bis dahin sind die Kinder nur nach ihren Altersstufen unterteilt. Die Folge: Länger als in Deutschland bleiben die Klassen gemischt. Hauptschulklassen mit über 90 Prozent Migrantenanteil findet man hier bei den Zwölf- bis 13-Jährigen noch nicht. Das alleine ist für Elsa Kvamme aber noch nicht ausschlaggebend für ein gelungenes Miteinander: „Ich glaube, es hat vor allem sehr viel mit der Energie der Lehrer zu tun. Dass sie alle Kinder ernst nehmen. Denn es gibt große Unterschiede in dieser Klasse. Einige haben ganz große Probleme, mitzukommen. Aber sie können sich alle an sozialen Diskussionen beteiligen, sie sind trainiert darin, zu diskutieren. Das ist sehr wichtig, dass alle ihre Meinung aussprechen können. Das hat mich an dieser Klasse wirklich fasziniert, und ich glaube, das ist fast wichtiger als das Fachliche: dass man den Kindern Selbstrespekt gibt und sie involviert sind.“ Ausgangspunkt ihres Films war der Wunsch Kvammes, ihre eigene Tochter Mina an der Schwelle zwischen Kind und Jugendlicher zu filmen, um sie so besser kennen zu lernen. Mina selbst ist äußerlich alles andere als typisch norwegisch, als Einjährige wurde sie in China adoptiert. Ihres anderen Aussehens ist sich die 13-Jährige bewusst, trotzdem fühlt sie sich zu 100 Prozent als Norwegerin. Genau wie ihr Klassenkamerad Haadi, der mit kindlicher Selbstverständlichkeit erklärt, er stamme ursprünglich aus der Küstenstadt Molde, nicht etwa aus Somalia. „Ich glaube, die Kinder haben eine grundsätzliche Positivität“, beschreibt Elsa Kvamme die Stimmung in dieser multikulturellen Klasse. „Wir haben an dem Film etwa sieben Monate geschnitten, wir haben also sehr viel mit den Kindern „gelebt“ im Schnittraum. Und alle, die daran beteiligt waren, haben es geliebt, mit den Kindern zusammen zu sein und in ihre Welt zu tauchen, wo es so viel positive Energie gibt. Das müssen Journalisten auch erkennen, nicht nur immer alles schwarz sehen.“