Dr. Susanne Eggert
- Redaktion
susanne.eggert@jff.de
+49 89 68 989 152
Arnulfstraße 205
80634 München
Vita
Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaften, Germanistik, Hispanistik und Psychologie in Leipzig und Trier, Promotionsstudium an der Universität Leipzig.
Ich bin bei merz seit 2001:
- 2001 bis 2006 Redaktionsmitglied
- 2006 bis 2015 verantwortliche Redakteurin
- 2015 bis heute Redaktionsmitglied
Aktivitäten
Seit 1998 wissenschaftliche Angestellte am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis; seit 2017 stellvertretende Abteilungsleiterin der Forschung.
Schwerpunkte
Familie und Medien, Migration und Medien, Inklusion und Medien, Medienaneignung Heranwachsender
Beiträge in merz
Kathrin Demmler/Susanne Eggert/Kati Struckmeyer: Editorial: Flucht nach vorne. Digitale Medien in der Bildung
Wir sind noch mittendrin und wagen dennoch schon einen kleinen Rückblick. Wie einschneidend die durch die Corona-Pandemie bedingten Veränderungen im Bildungsbereich sind, wird sich sicher erst in den kommenden Jahren zeigen.
Schon jetzt kann aber gesagt werden, dass die Pandemie uns deutlich vor Augen führt, wie wichtig soziale Beziehungen für uns Menschen sind. Am stärksten betroffen haben uns die Einschränkungen unseres sozialen Lebens. Sowohl die realen, ganz formalen Einschränkungen in Form von Ausgangsbeschränkungen oder Schulschließungen, als auch die ebenso notwendigen, aber eher gefühlten Einschränkungen im Hinblick auf das Abstand halten. ‚Mit Abstand die Besten‘ war das Motto vieler junger Menschen, die im Schuljahr 2019/2020 ihre Abschlussprüfungen absolvierten oder von der Grundschule in eine weiterführende Schule wechselten.
Während jene, die grundsätzlich gut in ihrem sozialen Umfeld eingebunden sind, dies leichter aktzeptieren konnten, war es für alle, die aufgrund ihres familiären Umfelds oder ihres aktuellen Lebensabschnitts auf (neue) Kontakte nach außen angewiesen gewesen wären, bitterer Ernst. Zur Ausbildung oder zum Studium in eine neue Stadt zu gehen, gehört zu den Momenten im Leben, die Menschen lange prägen. Genau hier wurde aber deutlich, dass die Potenziale digitaler Technologien sich erschöpfen, wenn es nicht darum geht, Beziehungen zu pflegen, sondern neue Beziehungen aufzubauen. Eine Ausnahme sind jene Gruppen junger Menschen, die auch unabhängig von der Pandemie sowieso Kontakte via digitaler Technologien anbahnen. Sei es, weil sie sich als Gamer*innen in einer stark mediengeprägten jugendkulturellen Szene verorten oder weil sie Gleichgesinnte über weite Distanzen via Internet finden, wie es beispielsweise in der Manga-Kultur oft der Fall ist.
Wie ist es der Bildungspraxis aber bisher gelungen, diese Ansatzpunkte für medienvermittelte Kommunikation aufzugreifen? Wie können wir Kanäle nutzen und schaffen, um auch jene zu erreichen, die ganz einfach Kontakte oder Ansprache suchen? So sehr uns die Pandemie individuell betroffen hat, so stark hat sie auch das Bildungssystem auf die Probe gestellt. Dabei ging es sowohl um die Frage, wie die Pädagog*innen für den Einsatz digitaler Technologien vorbereitet sind, als auch ganz grundsätzlich um den Stellenwert formaler, nonformaler und informeller Lern- und Begegnungsräume. Sicher ist, die Hausaufgaben sind begonnen worden, aber noch nicht gemacht, es bleibt viel zu tun. Ebenso sicher ist aber auch: Es gibt viele gute Beispiele beeindruckenden Engagements.
Mit dieser Ausgabe der merz | medien + erziehung möchten wir einen Überblick über unterschiedliche Blickwinkel auf die aktuellen Herausforderungen bieten und zur weiteren Diskussion einladen. Einleitend befasst sich Michaela Pfadenhauer unter dem Titel ‚Wie leben wir morgen in der Mit-Corona-Gesellschaft?‘ mit den gesamtgesellschaftlichen, gar globalen Erfahrungen und Konsequenzen der Pandemie und konstatiert: „Die Erfahrung unseres Umgangs damit wird Teil unseres gesellschaftlichen Wissensbestands sein und sich auch tief ins Bewusstsein eingeschrieben haben.“
Ulrich Deinet und Christian Reutlinger stellen erste Ergebnisse einer Studie zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Nordrhein-Westfalen vor. Unter dem Titel ‚Ist sozialräumliche Jugendarbeit auch digital? Forcierung digitaler Angebote der Jugendarbeit unter Covid-19-Bedingungen‘ befassen sie sich mit den Potenzialen klassischer Prinzipien der Jugendarbeit in Online-Räumen. „Die Nutzung virtueller Medien auch unter starker Beteiligung der Kinder und Jugendlichen hat sich in der Corona-Zeit enorm entwickelt und wird auch in Zukunft eine wichtige Rolle in der Jugendarbeit spielen.“
Horst Niesyto beginnt seinen Beitrag zu ‚‚Digitale Bildung‘ wird zur Einflugschneise für die IT-Wirtschaft‘ mit der Aussage: „Medienpädagogik ist gefragt wie nie zuvor, dennoch steckt sie in der Krise“. Auf Basis einer umfassenden Bestandsaufnahme der aktuellen Situation bzw. der Reaktionen von Medienpädagogik und Bildungspolitik auf die aktuelle Situation, appelliert der Autor an die Medienpädagogik sich klarer zu positionieren und bildungsbezogene Konzepte, Zielsetzungen und Interessen im Hinblick auf Digitalisierung kritisch zu hinterfragen.
Die Perspektiven werden durch einen Artikel von Gerhard Fischer, dem Direktor am Center for LifeLong Learning & Design (L3D) an der Universität von Colorado, Boulder ergänzt. Sein Beitrag trägt den Titel ‚Challenges and Opportunities of COVID-19 for Rethinking and Reinventing Learning, Education, and Collaboration in the Digital Age‘. Fischer liefert darin Ideen und Überlegungen für ein Neudenken der schulischen Bildung, die für kulturelle Transformationen nötig sind, um eine Krisensituation als Chance für eine andere und hoffentlich bessere Zukunft zu untersuchen.
Sophia Mellitzer und Sina Stecher stellen unter dem Titel ‚Wir waren schon online, bevor es beliebt wurde!‘ ihren Erfahrungsbericht zu der Frage vor, wie soziales Lernen online gestaltet werden kann. Sie präsentieren ihre Erfahrungen und formulieren darauf aufbauend Handlungsanregungen für gelingendes Online-Lernen. Eine zentrale Rolle in diesen Settings kommt der Moderation zu: „Neben den Referent*innen ist die Rolle der Moderation für gelungene Online-Formate essenziell und vielfältig.“
Judith Ackermann und Frank Früchtel befassen sich mit der ‚Lehre im Lockdown. Corona als Reallabor digitaler Hochschule‘. Sie stellen die Potenziale der Distanz-Lehre dar, ohne dabei die problematischen Aspekte zu vernachlässigen. Auch in der Hochschule spielen die fehlenden persönlichen Treffen eine wesentliche Rolle. „Um sich digital zu treffen, brauchte es einen konkreten Versammlungsanlass, was ein Manko digitaler Kommunikation aufzeigt, nämlich den Mangel an umgebenden Räumen für Kopräsenz ohne Interaktionsverpflichtung.“ „Das Reallabor zeigt, dass sich die physische Lehreinheit nicht 1:1 ins Digitale übersetzen lässt: Die digitale Umsetzung MUSS anders sein als die physische, um ihre spezifischen Potenziale entfalten zu können.“
Abschließend veröffentlicht das JFF – Institut für Medienpädagogik ein Diskussionspapier, das gemeinsam mit dem Vorstand des Trägervereins JFF – Jugend Film Fernsehen e. V. entwickelt wurde. Entlang von sieben Leitfragen wird den zentralen Veränderungen in der Krise nachgegangen. Darüber hinaus werden spezifische Anforderungen an die Fachdisziplin Medienpädagogik formuliert. Unter anderem ist „eine Stärke der Medienpädagogik […] die Zusammenarbeit mit verschiedenen Bildungsorten. So können übergreifend Themen gesetzt, niedrigschwellige Konzepte umgesetzt und im Umgang mit neuen Technologien Erfahrungen gebündelt werden.“
Die interdisziplinären Betrachtungen von Bildung und Digitalisierung werden ergänzt durch Einblicke in internationale Perspektiven aus Belgien, Tschechien, Österreich und Rumänien. Länderübergreifend wird hier deutlich, dass die Entwicklungen im Hinblick auf Bildung und Digitalisierung in einem Tempo vonstattengehen, das vor Corona nie denkbar gewesen wäre. Gleichzeitig wird betont, dass die digitalen Technologien zwar eine wertvolle Ergänzung in der Bildung sind, reale Kontakte aber im Zentrum stehen müssen. Ebenfalls übergreifend findet eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Tools und der Frage nach spezifischen Angeboten für die Bildung und der Nutzung der Räume, die Jugendliche im Alltag nutzen, statt. So formuliert Anu Poeyskoe vom Medienzentrum Wien Xtra: „Auch für die Zeit danach gilt es, eine gute Balance zu finden zwischen der Nutzung empfehlenswerter Alternativen und Jugendliche dort abzuholen, wo sie sind.“ Die Suche nach dieser Balance stellt relativ hohe Anforderungen an die Pädagog*innen. Entsprechend werden Appelle sowohl an die Ausbildung im Bereich der schulischen und außerschulischen Bildung formuliert als auch die Notwendigkeit von Freiräumen zum Experimentieren und Selbstaneignen im Arbeitsalltag dargestellt. Von Freiräumen schreibt auch Nicoleta Fotiade aus Rumänien, Gründerin und Vorsitzende der Initiative Mediawise Society, die das einzige ‚media literacy education program‘ für Kinder und Jugendliche in Rumänien anbietet. Sie hat beobachtet, dass Lehrkräfte während Corona mehr Freiheit hatten, die Lehrpläne individuell zu erstellen und anzupassen. Dies sollte unbedingt erhalten bleiben.
Die Fülle an Erfahrungen und Reflexionen ist so groß, dass wir ergänzend zur Printausgabe weitere Texte online veröffentlichen können, zu denen hier im Heft kurze Interviews zu finden sind. In den exklusiv online erscheinenden Texten geht es zum Beispiel um neue Entwicklungen beim digitalen Vorlesen, die digitale Lehre aus Sicht der Lehrenden und der Lernenden in Corona-Zeiten sowie den Versuch die Frage zu beantworten, was von der Organisation Schule übrig bleibt, wenn Schüler*innen und Lehrer*innen nicht mehr an einem Ort zusammenkommen.
Auch in unserem neuen Podcast mehr merz – der Medienpädagogik-Podcast geht es in kurzen Interviews um Fragen rund um das Thema: Bildung und Digitalisierung – was war, was kommt und was kann gerne wieder weg. Sie finden den Podcast auf allen gängigen Podcast-Plattformen.
Alle Autor*innen und Interviewpartner*innen sehen große Entwicklungspotenziale hinsichtlich des Lehrens, Lernens und der Beziehungspflege mit digitalen Medien. Gleichzeitig wird deutlich, dass leider erneut die Kinder und Jugendlichen aus weniger privilegierten Verhältnissen zu den Verlierer*innen gehören. Ihnen mangelt es manchmal an technischer Ausstattung, oft an Unterstützung und leider ebenfalls oft an Angeboten, die sie mit ihren Bedürfnissen und Problemlagen gezielt adressieren. Auf sie gilt es ein besonderes Augenmerk zu legen, sowohl in den kommenden Monaten als auch bei der generellen Weiterentwicklung von Bildungsangeboten, in Präsenz, online oder hybrid.
Kathrin Demmler ist Direktorin des JFF – Institut für Medienpädagogik und gemeinsam mit Prof. Dr. Bernd Schorb Herausgeberin von merz | medien + erziehung. Ihre Schwerpunkte sind Medien in Bezug auf die Förderung eines Wertebewusstseins, verschiedene Bildungsorte, Veranstaltungen und Netzwerke.
Dr. Susanne Eggert ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Forschung am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis München. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen Familie und Medien, Medien in der frühen Kindheit, Medienaneignung Heranwachsender sowie Inklusion und Medien.
Kati Struckmeyer ist verantwortliche Redakteurin der merz | medien + erziehung.
Ulrike Wagner und Susanne Eggert: Quelle für Information und Wissen oder unterhaltsame Action?
Aus vielen Untersuchungen geht hervor, dass zwischen dem Bildungshintergrund Heranwachsender und deren Medienumgang ein Zusammenhang besteht. Anhand ausgewählter empirischer Ergebnisse wird gezeigt, inwiefern Bildungsbenachteiligung den Umgang von Heranwachsenden mit Medien beeinflussen kann und skizziert, welche Bereiche dabei bislang wenig beachtet wurden und in welche Richtung eine differenzierte Betrachtungsweise einzufordern ist.(merz 2007-5, S. 15-23)
Ulrike Wagner und Susanne Eggert: Es gibt viele Gründe hinzuschauen
I realize that I can have everything in life. However, it takes timing, the right heart, the right actions, the right passion and a willingness to risk it all. (Lamin K., Senegal) 1
Lamin aus dem Senegal kam letztes Jahr nach Deutschland. Er ist Mitglied der Redaktion von KINO ASYL. Junge Menschen mit Fluchterfahrungen stellen in diesem Projekt ein Programm mit Lieblingsfilmen aus ihren Heimatländern zusammen und präsentieren es in verschiedenen Münchner Kinos – aus ihrer Perspektive. Sein Zitat verdeutlicht, was viele Menschen eint – egal welcher Herkunft sie auch sind. Sie wünschen sich Perspektiven für ihr Leben – mit Herz und Engagement. Es ist gleichzeitig ein Appell gegen die Gleichgültigkeit und gegen das alleinige Streben nach einer Sicherheit, die es wohl nirgends mehr geben kann, wie die Ereignisse in den Sommermonaten 2016 in Bayern gezeigt haben. Die Politik will uns aktuell das Gegenteil versichern – mit der weiteren Aushöhlung von Grundrechten und der Verschärfung der Bestimmungen gegenüber jenen, die Schutz und Sicherheit am notwendigsten brauchen.
Aus gesellschaftspolitischer wie pädagogischer Perspektive gibt es genügend Gründe, das Thema aufzugreifen, auch wenn vielerorts inzwischen durchaus das Gegenteil zu vernehmen ist. Es ist kein genuin medienpädagogisches Thema, das diese Ausgabe von merz in ihrem Schwerpunkt aufgreift, sondern eines, das Diskussionen aufwirft und Dissonanz erzeugt. Unser subjektiver Rückblick fällt dabei sehr zwiespältig aus: Bilder vom Leid vieler Geflüchteter und Geschichten über Einzelschicksale haben uns auf der einen Seite saturiert und irgendwie abgebrüht, und doch rühren uns vor allem die schrecklichen Bilder, die die Schicksale von Kindern auf der Flucht und in Kriegsgebieten in unsere Wahrnehmung bringen. Auf der anderen Seite verflacht die politische Diskussion über Fremdsein und das Fremde zu häufig in oberflächlichem bis dumpfem Populismus, der nicht nur in rechten Kreisen Oberwasser hat, sondern über alle Parteien hinweg und auch in der ‚seriösen' Berichterstattung längst angekommen ist.
Die handlungsorientierte Perspektive in Forschung und Praxis ist mehr denn je gefordert: Allzu leicht ist es, selbst in eine Art Kopf-in-den- Sand-Haltung zu gehen und zu sagen, dass uns das nichts anzugehen braucht und wir trotzdem weiter unsere (engagierten) Medienprojekte machen. Der zweite Weg bestünde vielleicht darin, sich ehrenamtlich als Teil der Willkommenskultur zu engagieren. Ein weiterer Weg ist wohl der holprigste: sich eine kritische Perspektive auf das Themenfeld zu erarbeiten und in die Auseinandersetzung zu gehen, wenn zum Beispiel mal wieder der starke Mann gefordert wird, der jetzt endlich für Ordnung und Sicherheit sorgen soll. Kritisch hinzusehen ist aber auch erforderlich in der Konzeption und Durchführung von pädagogischen Projekten und Aktivitäten. Abseits von Betroffenheitsrhetorik ist eine Auseinandersetzung darüber zentral, wie wir zukünftig in unserer Gesellschaft zusammenleben wollen. Dabei ist das Themenfeld Flucht und Migration komplex genug, aber eben gerade ohne die Medien für uns nicht zu fassen.
Immer wieder gab es in den letzten Jahrzehnten Diskussionen über die Frage der Interkulturalität unserer Gesellschaft, gespeist auch durch mediale Diskurse: Waren es in den 1960er- und 1970er-Jahren noch die damals sogenannten Gastarbeiter, die mit bestimmten Konnotationen des aufstrebenden und fleißigen Arbeitsvolkes belegt wurden, aber ansonsten bitte möglichst wenig auffallen sollten. So waren es Anfang der 1990er-Jahre zum einen die vielen Russlanddeutschen, die seit Mitte des 16. Jahrhunderts Deutschland verlassen hatten, um in Russland ein besseres Leben zu finden und die nun – aus ähnlichen Gründen wie damals – wieder in die frühere Heimat zurückkehrten. Zum anderen kamen zeitgleich Hunderttausende von Menschen aus den Balkanstaaten, die der Krieg aus ihrer Heimat vertrieben hatte. Damals wie heute wurden uns vor allem über die Medien bestimmte Bilder vermittelt.
Im Jahr 2015 sollten wir glauben, dass Flüchtlingsströme über Europa hereinbrechen und ein nie gekanntes Ausmaß annehmen. Wie vielfältig und gewaltig die Ströme der Migration insgesamt betrachtet sind, wird dabei häufig außer Acht gelassen. Der Diskurs um Flucht und Migration bewegt nun erneut auf vielen Titelseiten seit über einem Jahr Journalistinnen und Journalisten, aber auch Politik und Verwaltung und vor allem ‚die Bevölkerung', die als Publikum und als Voyeur von Einzelschicksalen am Geschehen teilnimmt.
„Die schiere Flut der Nachrichtenbeiträge im Herbst 2015 lässt ein Gefühl der Überforderung berechtigt erscheinen, auch wenn es den Alltag der meisten Bürgerinnen und Bürger nicht spiegelte“ – so beschreibt Friederike Herrmann von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt in ihrem Beitrag den Stimmungswandel im Land gegenüber der Flüchtlingsfrage. Sie zeigt auf, wie sich die Berichterstattung in den Medien innerhalb weniger Monate verändert hat. Weg von der Empathie auslösenden Beschäftigung mit Einzelschicksalen geflüchteter Menschen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, hin zu Darstellungen, in denen die weitgehend anonyme Masse der Flüchtlinge thematisiert wird, mit der sowohl der Staat als auch nichtstaatliche Hilfsorganisationen überfordert sind. Herrmann erkennt in dieser Entwicklung einen Erklärungsansatz für die allmähliche Veränderung von einer zunächst überwiegend positiven hin zu einer zunehmend skeptischen Einstellung der Bevölkerung zu geflüchteten Menschen. Als Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung gehört Heribert Prantl zu der von Herrmann analysierten Zunft.
Im Gespräch mit Ulrike Wagner erläutert er, welche Rolle der Journalismus in einer Zeit hat, in der ein Gutteil der Bevölkerung sich große Sorgen darum macht, wie die bundesdeutsche Gesellschaft die Herausforderung der vielen Flüchtlinge meistern kann. Außerdem präzisiert er die Verantwortung der Einzelnen, die Rolle der Medien und seine persönliche Haltung zum Umgang mit Populismus. Nadia Kutscher und Lisa-Marie Kreß schließlich haben in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kinderhilfswerk eine qualitativ- empirische Studie mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen durchgeführt, deren Ziel es war, Hinweise darauf zu erhalten, „inwiefern in deren lebensweltlichem Kontext digitale Medien als Zugänge für informelle Bildung und zur Realisierung von Teilhabeoptionen dienen“. Dabei zeigte sich, dass die Medien positive Potenziale in verschiedener Hinsicht bieten. Einerseits hinsichtlich des ‚bonding' und ‚bridging', also indem sie den Geflüchteten ermöglichen, Kontakt zu ihrer Familie und ihrem Freundeskreis zu halten (bonding) wie auch einen Zugang zum Aufnahmeland zu finden (bridging). Andererseits können Medien auch „erweiterte soziale Beziehungen [eröffnen]und neue Kenntnisse, Unterstützungsoptionen und Fähigkeiten zugänglich [ machen ]“. Kutscher und Kreß stellen jedoch fest, dass diese Möglichkeiten bisher nur von einem Teil der Geflüchteten genutzt werden, von den für sie Verantwortlichen bisher aber fast gar nicht.
Ein weiteres Problem, das die Untersuchung zutage bringt, ist die nahezu alternativlose Nutzung von Diensten wie Facebook oder WhatsApp, die personenbezogene Daten ihrer Nutzenden sammeln, was die jungen Flüchtlinge in eine prekäre Lage bringen kann. Hier sehen die Autorinnen auch die medienpädagogische Arbeit gefordert. Im zweiten Teil des Themenschwerpunkts stellen sich verschiedene Projekte aus der praktischen pädagogischen Arbeit mit geflüchteten jungen Menschen und Medien vor. Im vergangenen Jahr wurden zahlreiche Ideen entwickelt und umgesetzt, die geflüchtete Menschen unterstützen sollen, anzukommen und sich hier in Deutschland zurechtzufinden. Diese Projekte stellen für die Institutionen, insbesondere aber für die beteiligten pädagogischen Fachkräfte eine besondere Herausforderung dar. Nicht selten erschweren Sprachbarrieren dabei den Dialog. Aber auch andere Probleme wie beispielsweise traumatische Erfahrungen der Geflüchteten oder ein enges zeitliches Projektkorsett stellen die pädagogischen Fachkräfte vor schwierige Aufgaben. Die fünf vorgestellten Projekte machen deutlich, wie breit das Spektrum ist: Ein Refugee QR-Code-Poster, das in vielen Münchner Unterkünften und Einrichtungen hängt, zeigt geflüchteten Jugendlichen, welche Angebote in der Stadt für sie interessant oder hilfreich sein könnten. Besonders daran ist, dass das Poster von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen mit Unterstützung durch Medienpädagoginnen und Medienpädagogen des SIN – Studio im Netz selbst erstellt wurde. Auch diejenigen geflüchteten Jugendlichen, die bei medien+bildung.com ein Tandempraktikum machen, haben die Möglichkeit, anderen Menschen die Stadt, in der sie jetzt leben, nahezubringen.
Gemeinsam mit deutschen Schülerpraktikantinnen und -praktikanten erstellen sie Videobeiträge für das Webprojekt ludwigshafen, lernen dabei den Beruf der Mediengestalterin bzw. des Mediengestalters kennen, knüpfen Kontakte zu deutschen Jugendlichen und verbessern ganz nebenbei auch noch ihre Sprachkenntnisse. Das Erlernen und der Umgang mit der deutschen Sprache stehen in Mittelpunkt von Lesestart für Flüchtlingskinder, einem Projekt der Stiftung Lesen. Das Programm richtet sich an neu ankommende Familien mit Kindern im Alter bis fünf Jahre, denen in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen nicht nur Lese- und Medienboxen zur Verfügung stehen, die viele Gesprächsanlässe bieten. Daneben steht ihnen auch geschultes Personal zur Seite, das sie mit dem Vorlesen vertraut macht und ihnen dessen Vorzüge nahebringt. Das Projekt Perspektiven des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis hat einen inhaltlichen Zugang. In Übergangsklassen mit Schülerinnen und Schülern, die nur rudimentäre oder gar keine Deutschkenntnisse haben, sollten die Jugendlichen sich mit den Themen ‚Kinder- und Menschenrechte‘ und ‚Ankommen‘ auseinandersetzen und dazu mediale Produkte erarbeiten. Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet, um systematisch einzuschätzen, welche Potenziale die medienpädagogische Arbeit für die Auseinandersetzung mit einem Thema aber auch für die Sprachförderung bereithält.
Die Idee des letzten vorgestellten Projekt, das ebenfalls vom JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis durchgeführt wird, KINO ASYL, wurde inzwischen schon von anderen Städten aufgegriffen. KINO ASYL ist ein Filmfestival, das von jungen Geflüchteten wie Lamin aus dem Senegal organisiert wird. Mit Filmen aus ihren Herkunftsländern bieten sie den Zuschauerinnen und Zuschauern Einblicke in andere Teile der Welt. Wie kann es gelingen, die Menschen, die derzeit hierzulande Zuflucht suchen, in unsere Gesellschaft zu integrieren? Welche Schwierigkeiten sind damit verbunden und welche positiven Potenziale birgt die Situation? Mit dem merz-Themenschwerpunkt Medien, Flucht und Migration wollen wir uns mit diesen Fragen beschäftigen, Facetten der Diskussion beleuchten und – so unser Anliegen – auch kritisch-reflexive Auseinandersetzungen anstoßen. Dafür braucht es auch ein bisschen mehr von, wie Lamin es ausdrückt: "the right passion and a willingness to risk it all".
Dr. Ulrike Wagner ist Direktorin des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis sowie Leiterin des Arbeitsbereichs Forschung. Ihre Schwerpunkte sind Umgang von Kindern und Jugendlichen mit digitalen Medien und Medienkonvergenz, Mediensozialisationsforschung in sozial- und bildungsbenachteiligten Milieus, Partizipationsforschung sowie Methoden der Kindheits- und Jugendforschung.
Dr. Susanne Eggert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Ihre Schwerpunkte sind Medien in der Familie sowie Medien und Migration.
Anmerkung1
Nach Dublin-Verordnung wurde Lamin zwischenzeitlich nach Italien abgeschoben und ist ziemlich hoffnunglsos, dort seine Situation verbessern zu können.
Susanne Eggert und Friedrich Krotz: Sich orientieren oder orientiert werden?
Um sich in ihrer Welt zurechtzufinden halten Menschen Ausschau nach Beispielen von Personen, die mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind oder waren wie sie selbst, nach Situationen, die ihrer eigenen aktuellen Situation vergleichbar sind, sowie nach Handlungsmöglichkeiten für unterschiedliche Bedürfnislagen. Seit dem 18. Jahrhundert wird dieses Vorgehen als "sich orientieren" beschrieben. Da die Medien einen breiten Fundus an derartigen Angeboten vorhalten, werden sie oft als Orientierungsquelle herangezogen. Dass sie dabei insbesondere für Kinder und Jugendliche eine wichtige Rolle spielen, ist wissenschaftlich gut belegt (vgl. z. B. Theunert/Gebel 2000, Paus- Haase 1998). Die Bedeutung der Medien als Orientierungsinstanz und die damit verbundenen Möglichkeiten wurden von der Medienindustrie bald erkannt und (auch) für eigene Zwecke genutzt. Eine besondere Bedeutung kommt dabei heute auch dem sogenannten Social Web zu. Aufgrund der vielen persönlichen Daten, die die Nutzerinnen und Nutzer hier zum Teil freiwillig, zum Teil weil sie von den Anbietern dazu genötigt werden (bspw. weil die Angebote sonst nicht genutzt werden können) hinterlassen, ist es möglich, diese mit personalisierten, das heißt, auf ihr persönliches Profil zugeschnittenen Angeboten zu bedienen. Ob sie das auch wollen, steht dabei nicht zur Debatte. Dies kann auch als Manipulation bezeichnet werden.
Menschen nutzen die Medien also auch deswegen, um hier nach Orientierungsangeboten für ihr eigenes Leben Ausschau zu halten. Die Medien wiederum machen selbst aktiv Angebote, an denen die Menschen sich orientieren sollen. In Anbetracht dieser Ausgangslage stellen sich viele Fragen, was das Potenzial der Netze für Orientierung und Orientierungsleistungen angeht. Woran orientieren sich die Kinder und Jugendlichen von heute, über welche Themen und warum ist das so? Wie geht Medienpädagogik mit den Orientierungspotenzialen von medialen Angeboten um, wie beurteilt sie sie, wie hilft sie Kindern und Jugendlichen, damit umzugehen, inwieweit vermittelt sie selbst Orientierungen und wie transparent geschieht das? Über solche Fragen ist bisher viel zu wenig geforscht worden.Einen ersten Schritt in die Richtung, diese Intransparenz in Sachen Orientierungsfunktion der Medien aufzuhellen geht das vorliegende Heft – natürlich nur in einzelnen Beispielen.
In seinem einführenden Beitrag macht Friedrich Krotz deutlich, wie sich die Rolle der Medien als Orientierungsinstanz im Laufe der Zeit verändert hat. Um die Angebote der Medien nutzen zu können, mit dem Ziel, sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden und einen eigenen Standpunkt zu entwickeln, sind und waren schon immer spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten notwendig. Denn durch die Monopolstellung globaler Player wie zum Beispiel Google dienen viele Orientierungsleistungen in erster Linie wirtschaftlichen Interessen und die Nutzenden stehen vor der Herausforderung zu erkennen, worin der Nutzen für sie selbst besteht.
Folgt man Guido Bröckling ist hier insbesondere eine kritische Medienpädagogik gefordert, durch die die Nutzenden dazu befähigt werden, die Strukturen innerhalb der Medien zu durchschauen und sie ethisch zu bewerten: Nach welchen Kriterien geschieht die Auswahl von Information? Welchen Regeln folgen Meinungsbildungsprozesse in sozialen Netzwerken? Welche Rolle spielen dabei politische und kommerzielle Interessen? Dieses Wissen, mit dem die Komplexität der mediatisierten Welt reduziert werden kann, brauchen schon Kinder und Jugendliche, um die Angebote der Medien bewerten und souverän für ihre eigenen Bedürfnisse nutzen zu können.
Dass dies im konkreten Alltagserleben Jugendlicher keine einfache Aufgabe ist, zeigt der Beitrag von Nadine Tournier. Soziale Netzwerkdienste wie etwa der Messenger WhatsApp oder bildorientierte Dienste wie Instagram und Snapchat haben hohen Beliebtheitswert unter Jugendlichen. Diese nutzen die Dienste, um sich mit anderen zu vergemeinschaften und in diesen Gemeinschaften relevante entwicklungsbezogene Fragen zu bearbeiten. Dies geschieht aber nicht unbeeinflusst von den plattformbezogenen Vorgaben und Funktionen.
Einen Aushandlungsort von gesellschaftlichen Normen und Werten vor allem für Heranwachsende und junge Erwachsene stellen auch Casting Shows wie Germany’s next Topmodel (GNTM) dar. Dass diese derartigen Angebote dann oft auch kritisch gesehen werden, zeigt die Hashtag-Kampagne #notheidisgirl, die Miriam Stehling als ein Potenzial der Möglichkeiten in einer mediatisierten Welt analysiert.
Schließlich wird noch ein Blick auf die für Jugendliche wichtige Videoplattform YouTube geworfen. Christa Gebel und Andreas Oberlinner haben im Rahmen des vom BMFSFJ unterstützten Projekts ACT ON! untersucht, wie YouTube von Jugendlichen wahrgenommen und genutzt wird. Die Ergebnisse der im Anschluss durchgeführten Analyse der beliebtesten YouTuber und YouTuberinnen stellen sie in diesem Heft vor.
Die Wahrnehmung von YouTube-Stars durch ältere Kinder stand zudem im Mittelpunkt einer FLIMMO-Kinderbefragung. Michael Gurt fasst zusammen, inwiefern diese den Kindern als Orientierungsangebot dienen können.
Abgerundet wird der Themenschwerpunkt mit einem Text aus der medienpädagogischen Praxis (Ilona Herbert und Martin Noweck). Im Juni soll LiFE starten, ein neues medienübergreifend angelegtes Sendungsformat, in dem sich Jugendliche und junge Erwachsene als Redakteurinnen und Redakteure erproben können. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer können sich hier mit ihren Themen auseinandersetzen und dies in Fernseh-, Film- oder Radiobeiträgen oder auch Internet-Angeboten zur Diskussion stellen und sich so aktiv an der Gestaltung und Entwicklung der Gesellschaft, in der sie leben, einbringen.
Wir hoffen, dass wir mit diesem Spektrum Anregungen für eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie Orientierung in der komplexen Welt, in der wir leben, geben können und wünschen viel Spaß beim Lesen!
Literatur Paus-Haase, Ingrid (1998). Heldenbilder im Fernsehen. Eine Untersuchung zur Symbolik von Serienfavoriten in Kindergarten, Peer-Group und Kinderfreundschaften. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Theunert, Helga/Gebel, Christa (Hrsg.) (2000). Lehrstücke fürs Leben in Fortsetzung. Serienrezeption zwischen Kindheit und Jugend. BLM-Schriftenreihe, Bd. 63. München: Reinhard Fischer.Rösch, Eike/Demmler, Kathrin/Jäcklein-Kreis, Elisabeth/Albers-Heinemann, Tobias (Hrsg.) (2012). Medienpädagogik Praxis. Handbuch. Grundlagen, Anregungen und Konzepte für Aktive Medienarbeit. München: kopaed. 416 S., 25 €
Handreichungen „dürfen keine Rezepte sein, die nachgemacht werden, sondern Modelle, die durch fähige Medienpädagoginnen und Medienpädagogen in ihrem Umfeld und in ihrer Adressatengruppe entsprechend abgewandelt und so erfolgreich durchgeführt werden können.“ Diese Feststellung von Bernd Schorb, Professor für Medienpädagogik und Erwachsenenbildung an der Universität Leipzig findet sich auf S. 90 des Bandes Medienpädagogik Praxis. Handbuch. Und es ist der Leitgedanke, dem die Herausgeberinnen und Herausgeber, Kathrin Demmler und Elisabeth Jäcklein-Kreis vom JFF – Institut für Medienpädagogik und Eike Rösch und Tobias Albers-Heinemann, Verfasser des Medienpädagogik Praxis-Blog bei der Sammlung und Zusammenstellung der Projekte – oder besser: Konzepte, denn auf die zugrunde liegenden Projektkonzepte und die dabei zum Einsatz kommenden Methoden wird insbesondere Wert gelegt – für ihr Handbuch gefolgt sind. Auf gut 300 Seiten stellen mehr als sechzig Medienpädagoginnen und Medienpädagogen fast 100 erprobte und übertragbare Konzepte Aktiver Medienarbeit vor. Gegliedert sind sie nach den hauptsächlich eingesetzten Medien: Audio, Foto, Games, Mobile (Medien), Video und Web. Dazwischen findet sich auch ein Kapitel, das mit „Quer“ überschrieben ist. Die hier vorgestellten Projekte lassen sich nicht nach Medien kategorisieren, sondern haben beispielsweise bestimmte pädagogische Ziele im Blick, so zum Beispiel wenn Jugendliche und Seniorinnen und Senioren gemeinsam eine Kochshow auf die Beine stellen oder wenn mithilfe von selbst erstellten Fotostorys, Hörspielen ... Kinder dazuangeregt werden, genau hinzuhören oder Dinge anschaulich zu beschreiben und dadurch ihre sprachlichen Kompetenzen gefördert werden.
Hier finden sich aber auch Anregungen bzw. Erfahrungen, wie eine Kinderzeitung realisiert werden kann oder wie die Erstellung einer Kampagne durch Jugendliche gelingen kann. Die Darstellungen der Konzepte sind sehr übersichtlich und ansprechend aufbereitet. Mithilfe eines grafischen Elements wird auf den ersten Blick ersichtlich, welche Medien zum Einsatz kommen und welche Zielgruppe im Zentrum des vorgestellten Projekts steht. Die Projektbeschreibungen folgen alle dem gleichen Prinzip: Zunächst werden in kurzen Stichworten die Ziele der vorgestellten Methode aufgeführt sowie eine Checkliste, mit den wichtigsten Punkten, die bei der Realisierung beachtet werden müssen. Unter der Überschrift „Ab.lauf“ wird dann nicht nur beschrieben, wie ein entsprechendes Projekt ‚ablaufen‘ kann, sondern es werden auch die anfänglich stichwortartig genannten Ziele noch einmal aufgegriffen und näher erläutert und es finden sich hier auch Hinweise, wie die Methode in andere Kontexte übertragen werden kann. Anschließend werden weitere für das vorgestellte Projekt interessante Punkte abgehandelt: Welche Möglichkeiten gibt es, das Projekt abzuwandeln („Vari.anten“)? Gibt es hilfreiche Tipps und Kniffe, um ein entsprechendes Projekt erfolgreich durchzuführen („Tipps.Tricks“)? Aber auch Probleme, die im Zusammenhang mit dem Projekt auftreten können oder schon aufgetreten sind, werden nicht ausgespart, sondern als „Schwierig.keiten“ offen diskutiert und unter der Überschrift „Feed.back“ kann nachgelesen werden, wie das Projekt bei der Zielgruppe ankam. Abgerundet wird die Projektdarstellung durch den Punkt „Links.Material“.
In einem an jede Projektdarstellung angehängten „Steck.brief“ kann man erfahren, wer das Projekt schon durchgeführt hat und folglich Erfahrungen weitergeben kann; ein wichtiger Punkt, da es ein zentrales Anliegen der Publikation ist, Anregungen für die eigene Realisierung medienpädagogischer Projekte zu geben und mit Blick darauf möglichstviele Hürden schon im Vorhinein abzubauen. Im Zentrum aktiver Medienarbeit in pädagogischen Zusammenhängen steht die Vermittlung von Medienkompetenz. Dass diese nur vor einem entsprechenden theoretischen Hintergrund gelingen kann, wissen auch die Herausgeberinnen und Herausgeber des Medienpädagogik Praxis. Handbuchs. Den Konzeptdarstellungen, die das Herz der vorliegenden Publikation darstellen, ist deshalb ein theoretischer Teil vorangestellt, in dem relevante Basics aufgegriffen werden. Ulrike Wagner erläutert, welche grundlegenden Bedeutungen Medien für Kinder und Jugendliche haben, und beschreibt Veränderungen, die mit der Entwicklung des Social Web einhergehen. Die neuen Möglichkeiten, die die Medien Heranwachsenden bieten und damit verbundene veränderte Umgangsweisen der Mädchen und Jungen mit den Medien wirken sich auch auf die praktische medienpädagogische Arbeit aus. Kathrin Demmler und Eike Rösch legen dar, was nach wie vor der Kern aktiver Medienarbeit ist und sein muss, aber auch mit welchen neuen Herausforderungen und Erwartungen Medienpädagoginnen und Medienpädagogen heute konfrontiert sind. Theresa Schmidt schließlich erläutert „wegweisende Begriffe“ (S. 27), die das theoretische Fundament aktiver Medienarbeit, wie sie in diesem Handbuch vorgestellt wird, darstellen. Dieses Hintergrundwissen wird ergänzt durch praktische Grundlagen.
In fünf Kapiteln geht es darum, wie die Inszenierung medienpädagogischer Praxisprojekte gelingen kann (Albert Treber), was es bei der Projektplanung zu bedenken gibt (Sebastian Ring und Kati Struckmeyer), worauf zu achten ist, damit bei einem Projekt die Balance zwischen Prozess- und Produktorientierung nicht aus dem Lot gerät (Eike Rösch), wie es gelingt, eine Gruppe für ein Thema zu begeistern (Günther Anfang) und welche Bedeutung die Veröffentlichung der Ergebnisse medienpädagogischer Projektarbeit hat (Andreas Hedrich). Abschließend hat Elisabeth Jäcklein-Kreis in einem Glossar die wichtigsten Begriffe für das Arbeiten mit dem Handbuch zusammengestellt. So ist hier ein Gemeinschaftswerk mit zahlreichen guten Ideen und Anregungen für kreatives pädagogisches Arbeiten mit Medien in verschiedenen Situationen und mit den unterschiedlichsten Zielen entstanden, dem zu wünschen ist, dass es von einem Vielfachen der Anzahl der hier versammelten Autorinnen und Autoren immer wieder in die Hand genommen wird.
Darüber hinaus lohnt sich aber auch ein Blick ins Netz: Unter www.medienpaedagogik-praxis.net finden sich alle im Handbuch vorgestellten Konzepte und darüber hinaus noch einmal etwa genauso viele, die im Buch keinen Platz gefunden haben.
Dr. Susanne Eggert ist verantwortliche Redakteurin von merz | medien + erziehung.
Ingo Bosse, Susanne Eggert: Digitale Bildung inklusiv: Konzepte und Qualifizierung
Im März 2009 hat die Bundesregierung die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ratifiziert. Damit hat sich Deutschland zur umfassenden Inklusion von Menschen mit Behinderungen bekannt. Seither hat sich einiges getan und es sind Maßnahmen ergriffen worden, um Menschen mit Behinderungen mehr Teilhabe zu ermöglichen. Medien wird in der UN-Behindertenrechtskonvention eine Querschnittsfunktion zugewiesen. Ihre Funktionen für die Umsetzung gleichberechtigter Teilhabe werden beschrieben in den Artikeln Bewusstseinsbildung (Art. 8), Zugänglichkeit (Art. 9), Zugang zu Information, Bildung (Art. 24), Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben (Art. 29), Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport (Art. 30). Der Ausschuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen überprüft daneben in seinen Staatenberichten regelmäßig den Fortschritt in der Umsetzung dieses völkerrechtlichen Vertrags. Auf nationaler Ebene hat Deutschland dazu eine Monitoring-Stelle eingerichtet. Beide machen deutlich, dass es in der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention nach wie vor mehr offene Baustellen gibt als Ziele, die umgesetzt wurden. So stellt Valentin Aichele, Leiter der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte fest, dass es noch nicht gelungen ist, „das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen zum Normalfall und Sondereinrichtungen wie Förderschulen, Werkstätten und Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen überflüssig zu machen“ (Monitoring-Stelle UN-BRK 2019).
Elisabeth Wacker, Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats zum Teilhabebericht der Bundesregierung, zeichnet in der vorliegenden Ausgabe in ihrem Überblicksartikel zehn Jahre Zeitgeschichte
sowie Wirkungs- und Zukunftsgeschichte der Behindertenrechtskonvention nach und wirft einen Blick nach vorn.Gegenwärtig macht die wissenschaftliche Datenlage deutlich, dass Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben,besonders von medialer Exklusion betroffen sind (vgl. Bosse/Hasebrink 2016; Mayerle 2019). Dies gilt ebenso für Menschen, die eine Behinderung erst später erwerben. Gerade in Bezug auf eine mediale und digitale Teilhabe geht es aber auch um Beeinträchtigungen, wodurch Menschen beispielsweise aufgrund ihres Alters (Kinder oder Seniorinnen und Senioren), mangelnder Sprachkenntnisse oder ihres sozialen Status an bestimmten gesellschaftlichen Diskussionen und Entwicklungen nicht oder nur in beschränktem Maße beteiligt sind. Digitale Medien und das Internet bergen für diese Personengruppen Potenziale für eine bessere Teilhabe. Voraussetzung, um diese ausschöpfen zu können, ist ein souveräner Umgang mit Medien, den Geräten wie auch inhaltlichen Angeboten sowie Tools und Apps. Insbesondere Menschen mit Behinderungen sind in ihrem Alltag oftmals auf Assistenz angewiesen. Die Assistentinnen und Assistenten können sie auch beim Zugang zu und dem Umgang mit digitalen Medien und Internet unterstützen. Allerdings nur dann, wenn sie selbst über das nötige Wissen sowie die entsprechenden Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen. Die Teilgruppe, die dabei am stärksten von digitaler Exklusion betroffen ist, ist die Gruppe von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung, was mit einer im Durchschnitt schlechteren Geräteausstattung, einer geringen Anzahl barrierefreier Angebote, einer überdurchschnittlich häufigen Unterbringung in Wohneinrichtungen und fehlenden medienpädagogischen Konzepten zusammenhängt.
In der vorliegenden Ausgabe soll beleuchtet werden, welche Entwicklungen derzeit im deutschsprachigen Raum vorhanden sind, die sich mit der Qualifizierung von pädagogisch-pflegerischen Fachkräften wie auch Menschen mit Behinderungen im Umgang mit digitalen Medien und dem Internet beschäftigen. Ein Fokus wird dabei auf Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung gelegt. Geht es also um Digitale Bildung inklusiv, wie der Titel dieses Themenschwerpunkts behauptet, oder um zielgruppenspezifische Medienbildung?
Inklusive Medienbildung im Verständnis der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK), wie sie es in ihrem Positionspapier Digitalisierung. Teilhabe. Vielfalt: Medienbildung inklusiv gestalten (2018) formuliert, bezieht sich auf eine Vielzahl von Zielgruppen und Handlungsfeldern und zielt auf Partizipationsmöglichkeiten in einer digital geprägten Welt. Diese zu fördern ist, wie es das Frankfurt-Dreieck zur Bildung in der digital vernetzten Welt (Brinda et al. 2019) aufzeigt, auch insgesamt Ziel von Medienbildung und Medienkompetenzförderung. Ein Spezifikum inklusiver Medienbildung besteht in der Überwindung ausgrenzender Verhältnisse (vgl. Kronauer 2013). Dazu gehört im Sinne des Empowerments (vgl. Schluchter 2015), alle Individuen zu befähigen und den öffentlichen Diskurs mitzugestalten. Auf gesellschaftlicher Ebene geht damit der Anspruch auf Barrierefreiheit einher: Medien sind so zu gestalten bzw. zu verändern, dass sie für alle zugänglich und
nutzbar sind. Einen wesentlichen Beitrag kann dazu das Universal Design for Learning leisten. Neben der Barrierefreiheit wird Individualisierung als wesentliches Charakteristikum inklusiver Medienbildung im Vergleich zur Medienbildung im Allgemeinen beschrieben (vgl. Kamin et al. 2018). Als inklusiv verstehen wir Medienbildung, wenn gemeinsame Bedarfe von Menschen mit unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen berücksichtigt und vor diesem Hintergrund gemeinsame Bildungssituationen in der digital geprägten Welt gestaltet werden. Sowohl inklusive als auch zielgruppenspezifische Ansätze sind medienpädagogisch sinnvoll.Der Begriff inklusive Medienbildung etabliert sich allmählich als Begriff in Theorie und Praxis der Medienpädagogik. Zugleich wird inklusive Medienbildung in den unterschiedlichen Handlungsfeldern noch nicht umfassend bearbeitet. Dies ist auch darin begründet, dass zunächst zielgruppenspezifische Vertiefungen notwendig sind, um diese dann zu inklusionsorientierter Forschung und Praxis zusammenzuführen (vgl. Bosse et al. 2019). Die Professionalisierung in den Berufsfeldern – wie Behindertenhilfe, soziale Arbeit, Sonderpädagogik und auch Medienpädagogik –, die sich der Erhöhung von Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen besonders verpflichtet fühlen, hat bisher blinde Flecken in der Vermittlung von Medienkompetenz für Menschen mit Behinderungen.
Melanie Schaumburg macht in ihrem Beitrag deutlich, dass in der medienpädagogischen Praxis mittlerweile eine Vielzahl an Projekten unter dem Label ‚inklusive Medienbildung‘ angeboten werden. In der Praxis zeigt sich allerdings häufig eine Fokussierung auf spezifische Zielgruppen wie Menschen mit Behinderung oder mit Fluchterfahrung. Es stellt sich daher die Frage, wie diese zielgruppenspezifischen Angebote mit dem Begriff ‚Inklusion‘ vereinbar sind und wie die Medienpädagogik mit diesem Paradox umgeht.
Mit dem Anspruch, die Medienkompetenz aller Bürgerinnen und Bürger zu fördern, auch jener mit einer sogenannten geistigen Behinderung, hat die Bremische Landesmedienanstalt die Studie Medienkompetenz in der Behindertenhilfe (MeKoBe) in Auftrag gegeben. Ingo Bosse, Nadja Zaynel und Claudia Lampert stellen in ihrem Beitrag diese Studie und deren Ergebnisse vor, die in ein Fortbildungskonzept für Mitarbeitende und Klientinnen bzw. Klienten der Behindertenhilfe mündeten.
Auch das aktuell laufende Projekt PADIGI – Partizipative Medienbildung für Menschen mit geistiger Behinderung, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Europäischen Sozialfonds, widmet sich dem Thema Fortbildungen für pädagogisch-pflegerische Fachkräfte in der Behindertenhilfe. Die Partner entwickeln und erproben einen Blended-Learning-Kurs zu Bedeutung und Einsatz von digitalen Medien und Internet im Alltag von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Valerie Jochim, Susanne Eggert, Lisa Rußwurm, Thomas Weißgerber, Thomas Knieper und Michael Granitzer geben einen Einblick in das Projekt und die Entwicklung des Weiterbildungsangebots.
Melanie Schaumburg weist darauf hin, dass „sich die Inklusionsdimension nicht (nur) in Bezug auf Teilhabe an der Mediengesellschaft [vollzieht], sondern vor allem an der Teilhabe an Bildung“ (vgl. Seite 19 in dieser Ausgabe). Je nach Gruppenzusammensetzung sind entsprechend weitere Aspekte zu berücksichtigen. Bei Menschen mit Behinderungen ist dies häufig der Einsatz assistiver Technologien. Neben dem Fachwissen über Barrierefreiheit, assistive Technologien und Universal Design for Learning ist grundlegendes Wissen über Bildung in der digital geprägten Welt und über die Förderung von Medienkompetenz notwendig. In Bildungskontexten wie Schule darüber hinaus die Fachlichkeit zu bewahren, ist nur in Zusammenarbeit mit den Fachdidaktiken möglich. Jan-René Schluchter von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg stellt in seinem Beitrag zu Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten ein didaktisches Design für die Medienbildung mit dieser Zielgruppe vor.
Medien können den Alltag von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung erleichtern und Partizipationsmöglichkeiten erhöhen. Um dieses Potenzial auszuschöpfen und die Medien in diesem Sinn kompetent zu nutzen, sind sie auf die Unterstützung ihrer Assistentinnen und Assistenten angewiesen. Die Sensibilisierung der Fachkräfte sowie ihre Qualifizierung für die Integration digitaler Medien in ihren Arbeitsalltag spielt somit eine wichtige Rolle. Um Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung als Akteurinnen und Akteure im Umgang mit digitalen Medien geht es in den letzten beiden Artikeln des Themenschwerpunkts. Fabian van Essen stellt aus Perspektive des Instituts für Inklusive Bildung die Qualifizierung von Menschen mit Beeinträchtigung als Bildungsfachkräfte in der Hochschulbildung vor und verdeutlicht den Mehrwert und die Notwendigkeit der Arbeit von Betroffenen als Expertinnen und Experten in Bildungszusammenhängen – auch in Bezug auf Medienbildung. Mit der Bedeutung von Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Erkrankungen als Medienmacherinnen und -macher beschäftigt sich Ernst Tradinik schon seit vielen Jahren. Sein abschließender Beitrag ist ein Plädoyer für die Öffnung des ersten und zweiten Arbeitsmarktes im Bereich der Medienproduktion für diese Zielgruppe.
Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern eine spannende Lektüre und Inspiration für die zielgruppenspezifische und inklusive Medienarbeit.
Literatur:
Bosse, Ingo/Hasebrink, Uwe (2016). Mediennutzung von Menschen mit Behinderungen. Forschungsbericht. Unter Mitarbeit von Anne Haage, Sascha Hölig, Sebastian Adrian, Gudrun Kellermann, Theresa Suntrup. Hrsg. v. Aktion Mensch Die Medienanstalten. Berlin. www.kme.tu-dortmund.de/cms/de/Aktuelles/aktuelle-Meldungen/Langfassung-der-Studie-_Mediennutzung-von-Menschen-mit-Behinderungen_-veroeffentlicht/Studie-Mediennutzung_Langfassung_final.pdf [Zugriff: 17.08.2019]
Bosse, Ingo/Schluchter, Jan-René/Zorn Isabel (2019). Einleitung: Ziel des Handbuchs. In: Bosse, Ingo/Schluchter, Jan-René/Zorn Isabel (Hrsg.), Handbuch Inklusion und Medienbildung. Weinheim: Beltz, S. 9–13.
Brinda, Torsten/Brüggen, Niels/Diethelm, Ira/Knaus, Thomas/Kommer, Sven/Kopf, Christine/Missomelius, Petra/Leschke, Rainer/Tilemann, Friedrike/Weich, Andreas (2019). Frankfurt-Dreieck zur Bildung in der digital vernetzten Welt. Ein interdisziplinäres Modell. www.keine-bildung-ohne-medien.de/frankfurter-dreieck [Zugriff: 17.07.2019]
Kamin, Anna-Maria/Schluchter, Jan-René/Zaynel, Nadja (2018). Inklusion und Medienbildung – Perspektiven für Theorie und Praxis. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.), Inklusive Medienbildung. Ein Projektbuch für pädagogische Fachkräfte. Köln: BZgA, S. 15–42.
Kronauer, Martin (2013). Soziologische Anmerkungen zu zwei Debatten über Inklusion und Exklusion: W. Bertelsmann Verlag. www.ssoar.info/ssoar/bitstream/document/36929/1/ssoar-2013-kronauer-Soziologische_Anmerkungen_zu_zwei_Debattenuber.pdf [Zugriff: 02.09.2019]
Mayerle, Michael (2019). Berufsfeld Tagesförderung/Wohneinrichtungen. In: Bosse, Ingo/Schluchter, Jan-René/Zorn, Isabel (Hrsg.), Handbuch Inklusion und Medienbildung. Weinheim: Beltz, S. 170–180.
Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention (2019). Monitoring-Stelle – aktuell. www.institut-fuer-menschenrechte.de/monitoring-stelle-un-brk/meldung/article/pressemitteilung-10-jahre-un-behindertenrechtskonvention-in-deutschland-miteinander-von-menschen [Zugriff: 09.09.2019]
Schluchter, Jan-René (2015). Inklusive Medienbildung – Eine Skizze. In: Schluchter, Jan-René (Hrsg.), Medienbildung als Perspektive für Inklusion. Modelle und Reflexionen für die pädagogische Praxis. 1. Aufl. München: kopaed, S. 17–26.
Valerie Jochim, Susanne Eggert, Lisa Rußwurm, Thomas Weißgerber, Thomas Knieper, Michael Granitzer: Inklusiv digital: Entwicklung eines Blended-Learning- Kurses für pädagogisch-pflegerische Fachkräfte
Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung sind im Umgang mit digitalen Medien auf Assistenz angewiesen. Die sie unterstützenden Fachkräfte sind auf diese Aufgabe oft nicht vorbereitet, da dies in der Ausbildung bisher kaum eine Rolle spielt. Inklusiv digital ist ein Blended-Learning-Kurs für pädagogisch-pflegerische Fachkräfte, dessen Online-Anteile über die Lernplattform Moodle realisiert werden. Ziel des Kurses ist es, Fachkräfte zu befähigen, digitale Medien in der Arbeit mit ihren Klientinnen und Klienten einzusetzen.
Literatur
Al-Ajlan, Ajlan/Zedan, Hussein (2008). Why Moodle. Future Trends of Distributed Computing Systems, IEEE International Workshop. 58-64. 10.1109/FTDCS.2008.22. www.researchgate.net/publication/232615507_Why_Moodle [Zugriff: 18.08.2019]
Bosse, Ingo/Hasebrink, Uwe (2016). Mediennutzung von Menschen mit Behinderungen. Forschungsbericht. hrsg. v. Aktion Mensch e. V. und die medienanstalten – ALM GbR. www.kme.tu-dortmund.de/cms/de/Aktuelles/aktuelle-Meldungen/Langfassung-der-Studie-_Mediennutzung-von-Menschen-mit-Behinderungen_-veroeffentlicht/Studie-Mediennutzung_Langfassung_final.pdf [Zugriff: 14.08.2019]
Demmler, Kathrin/Rösch, Eike (2014). Aktive Medienarbeit in einem mediatisierten Umfeld. In: Kammerl, Rudolf/Unger, Alexander/Grell, Petra/Hug, Theo (Hrsg.), Jahrbuch Medienpädagogik 11. Diskursive und produktive Praktiken in der digitalen Kultur. Wiesbaden, Springer, S. 191–207.
Eggert, Susanne/Jochim, Valerie (2019). Inklusiv digital – Blended Learning als Lehr-Lern-Format für pädagogisch-pflegerische Fachkräfte zum Themenbereich „Inklusion durch digitale Medien“. In: Angenet, Holger/Heidkamp, Birte/Kergel, David (Hrsg.), Digital Diversity. Bildung und Lernen im Kontext gesellschaftlicher Transformationen. Wiesbaden, S. 291–302.
Kerres, Michael/Jechle, Thomas (2002). Didaktische Konzeption des Tele-Lernens. In: Issing, Ludwig J./Klimsa, Paul (Hrsg.), Information und Lernen mit Multimedia. Weinheim: Beltz, S. 226–281.
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Mandl, Heinz/Kopp, Birgitta (2006). Blended Learning: Forschungsfragen und Perspektiven. Forschungsbericht Nr. 182. München.
Mayerle, Michael (2015). „Woher hat er die Idee?“ Selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Lernschwierigkeiten durch Mediennutzung. Abschlussbericht der Begleitforschung im PIKSL-Labor. Siegen.
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Moodle™ (o. J.b). Activities: Interactive Content – H5P. mod_hvp. https://moodle.org/plugins/mod_hvp [Zugriff: 18.07.2019].
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Moodle™ (o. J.d). Moodle architecture. https://docs.moodle.org/dev/Moodle_architecture [Zugriff: 23.07.2019].
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Schluchter, Jan-René (2014). Medienbildung in der (sonder)pädagogischen Lehrerbildung. München: kopaed.
Stecher, Sina/Mellitzer, Sophia/Demmler, Kathrin (2019). Blended Learning in der Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. München. www.jff.de/veroeffentlichungen/detail/expertise-blended-learning-in-der-weiterbildung-loom [Zugriff: 17.07.2019]
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Susanne Eggert/Andreas Lange/Bernd Schorb: Editorial: Soziale Ungleichheit 4.0. Polarisierungen der Sozialstruktur und die Rolle der Medien(-pädagogik)
Das die Soziologie seit ihren Anfängen begleitende Dauerthema soziale Ungleichheit als analytische Vermessung der Ressourcenverteilung innerhalb einer Gesellschaft (Huinink/Schröder 2019) und das sozialphilosophische Begleitkonstrukt soziale Gerechtigkeit als normative Richtschnur der Verteilung von Gütern erleben seit geraumer Zeit eine intensivierte Zuwendung in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilöffentlichkeiten. Hintergrund für diese neue Aufmerksamkeit sind zum einen massive sozialstrukturelle Verwerfungen, die ihre unübersehbaren Spuren auch im Ungleichheitsgefüge auf globaler wie nationaler Ebene hinterlassen, als auch vermehrte wissenschaftliche und publizistische Anstrengungen, diese Entwicklungen zu beschreiben, zu verstehen und eventuell ansatzweise zu verändern. Auf internationaler Ebene haben insbesondere die voluminösen Veröffentlichungen des französischen Ökonomen Thomas Piketty (2013; 2020; s. auch Alvaredo et al. 2018) die Debatte enorm befeuert: In seiner ersten großen Publikation belegt er auf der Basis von Steuerdaten den historischen Verlauf von sozialer Ungleichheit in der westlichen Welt mit dem für uns wichtigen Befund, dass ein zwischenzeitliches Absinken der sozialen Spreizung von Vermögen und Einkommen bis etwa 1980 massiv konterkariert wird durch eine enorme Polarisierung in der Reichtumsverteilung zwischen ‚ganz unten‘ und ‚ganz oben‘. Die Gründe dafür sind ganz klar in der neoliberalen Restrukturierung des Wirtschaftslebens und der Vermarktlichung der Gesellschaft zu sehen, nicht zuletzt in einer unglaublichen und atemberaubenden, um nicht zu sagen einfach unverschämten Bevorteilung der ohnehin Privilegierten durch das Steuersystem, wie Saez/Zucman (2020) detailreich und entlarvend exemplarisch für die USA nachzeichnen. Neben der Rekonstruktion der jeweiligen Struktur der Ungleichheit spielt die Legitimation, die Begründung der ungleichen Verteilung eine fundamentale Rolle. Und das ist ein wichtiges Thema, das Piketty (2020, S. 22) in seiner jüngsten Publikation behandelt. Er spricht von der jeweiligen Ideologie der Ungleichheit – Ideologien verstanden als machtstabilisierende Formen der Wissens- und Rhetorikproduktion und als eigenständige Sphäre, die es sozialwissenschaftlich zu beachten gilt: „Dieser Ansatz unterscheidet sich von zahlreichen konservativen Diskursen, die uns erzählen wollen, Ungleichheit sei ‚naturgegeben‘. Es verwundert kaum, dass in ganz unterschiedlichen Gesellschaften, zu allen Zeiten und unter allen Breitengraden die Eliten es darauf anlegen, Ungleichheiten zu naturalisieren, also so zu tun, als hätten diese natürliche und objektive Gründe, um uns darüber zu belehren, die sozialen Ungleichgewichte seien nur zum Besten der Ärmsten und der Gesellschaft überhaupt …“ Dass diese Ideologien heute noch auf breite Resonanz stoßen, zeigen soziologische Umfragebefunde: Man stuft sich gerne hierzulande „in der Mitte“ ein (Beckers 2020) und zementiert so die unhinterfragte gesellschaftliche Hierarchie.
Und spätestens hier kommen die alten und die neuen Medien, die Medienwissenschaften und nicht zuletzt die Medienpädagogik ins Spiel, die aber auch über diesen Zusammenhang hinaus relevant werden:
- Alte und neue Medien können auf der inhaltlichen wie auf der formalen Ebene dazu genutzt werden, die elitenproduzierten Ideologien zu verbreiten oder sie zu relativieren.
- Der Mediengebrauch von Individuen, Mitgliedern sozialer Schichten bzw. Milieus steht in einem engen Zusammenhang mit Aspekten der sozialen Ungleichheit bzw. kann soziale Ungleichheit reproduzieren, verfestigen, aber eventuell auch modifizieren. Dies gilt in besonderer Weise auch vor der Folie der zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche.
- Die Medienwissenschaften im weitesten Sinne behandeln immer auch, wenn auch nicht schwerpunktmäßig, konzeptionell und empirisch, soziale Ungleichheiten, nicht zuletzt die Analyse der Repräsentationen von sozialer Ungleichheit entlang der Kategorien Schicht/Milieu, Geschlecht, Ethnizität.
Soziale Ungleichheit als Thema in der Medienpädagogik
In der Medienpädagogik spiegelt sich die Diskussion um soziale Ungleichheit, die in der BRD seit langem und mit Fug und Recht geführt wird, unter zwei Gesichtspunkten wider. Hier geht es erstens um die Frage nach der Aneignung von Medieninhalten, zweitens um die Frage der potenziellen Aneignung technischer Medien. Bis heute, etwa im Kontext von Streamingangeboten oder Internetplattformen, wird mit Medien konnotierte Ungleichheit als Ungleichheit der Nutzung von medialen Angeboten gefasst. Mit Blick auf Kinder und Jugendliche werden mögliche Wirkungen der Medien auf Denken und Handeln sowie auf die Entwicklung der Heranwachsenden analysiert. Eine zentrale Rolle spielten Gewaltdarstellungen im Film bzw. Video, im Fernsehen sowie in Computerspielen (vgl. Theunert 1996; Hausmaninger/Bohrmann 2002). Hier wurde vor allem herausgestellt, dass gesellschaftlich unterprivilegierte Personen, die selbst zu Gewaltanwendung neigen, auch eher bereit sind, mediale Gewaltdarstellungen als Vor-Bilder zu akzeptieren. Diese Frage nach der Wirkung medialer Gewalt wird heute trotz oder wegen der unübersehbaren Masse digitaler Angebote kaum noch gestellt. Über vier Dekaden, in denen diese Frage im gesellschaftlichen Diskurs, nicht nur im medienpädagogischen, wichtig war, wurde einerseits eine große Anzahl von Untersuchungen durchgeführt und es wurden andererseits Modelle entwickelt, um negativen Effekten medialer Botschaften entgegenzutreten, prophylaktisch durch Aufklärung oder verhindernd durch Jugendschutzmaßnahmen.
Allgemein wurden in der kommunikationswissenschaftlichen bzw. medienpädagogischen Forschung Verbindungen von sozialen Unterschieden und Medienaneignung untersucht. „Generell kann gesagt werden: je niedriger das Alter, der soziale Status und das Bildungsniveau, desto undifferenzierter ist die Mediennutzung“. Diese Aussage, die Baacke, Frank und Radde 1989 (S. 115) als Resümee einer ihrer Untersuchungen getroffen haben, ist im Kern heute noch gültig (vgl. Stegbauer 2012).
Neben der Frage nach unmittelbaren Wirkungen medialer Inhalte wurde mit zwei Schwerpunkten auch gefragt, welchen Einfluss das Medienensemble auf die Gesellschaft hat, ob und inwieweit die Medien selbst soziale Ungleichheit verstärken. Da ist zum einen die Theorie der Wissenskluft. Sie beinhaltet die Annahme, dass Bildungsprivilegierte im Gegensatz zu Bildungsbenachteiligten Medieninhalte nutzen, um ihr Wissensrepertoire zu erweitern und auf diese Weise ihre privilegierte Position stärken und die Kluft hin zu den Benachteiligten vergrößern zu können. Diese Theorie hat Müller (2019) bezüglich Social Media differenziert und aktualisiert. Die zweite Theorie, die der digitalen Kluft, ist verknüpft mit der Computerisierung der Gesellschaft. In diversen Varianten stellt sie im Kern die Behauptung auf, dass zum einen die Beherrschung der Rechner und ihrer Programme Privilegierte, die das hierfür notwendige Wissen vermittelt bekommen haben, weiter privilegiert und dass diejenigen, die den Zugang zu Soft- und Hardware haben, in einer mediatisierten Gesellschaft über Herrschaftswissen verfügen, welches sie wiederum privilegiert und die Kluft zwischen Handlungsmächtigen und dem Rest der Bevölkerung vertieft. Allerdings ist diese Theorie heute mit der allgemeinen Verfügbarkeit von Rechnern und bezogen auf die Masse konfektionierter Unterhaltungsprogramme, im Internet wie im Fernsehen, umstritten (Arnhold 2003). Jenseits des Unterhaltungssektors aber hat gerade die Corona Krise gezeigt, dass es im Bildungsbereich sehr wohl eine digitale Spaltung gibt. Die Schließung der Schulen und die Verlagerung des Lernens als digitales ins Internet verschärft die Benachteiligung Heranwachsender in prekären Lebensverhältnissen, die zu Hause keinen Computer besitzen, nicht zuletzt, weil sie hierfür keine staatliche Unterstützung erhalten. In sozialen Brennpunkten mehrerer Städte der Bundesrepublik werden Schüler*innen hierdurch vom digitalen Unterricht ausgeschlossen. Hier wird die digitale Spaltung durch staatliche Maßnahmen nicht allein verstärkt, sondern auch geschaffen.
Dieses aktuelle Beispiel verweist auch darauf, dass mediale Ungleichheit immer gebunden ist an soziale Ungleichheit als Kennzeichen der Gesellschaft sowie darauf, dass sie dort ihre primären Ursachen hat. Dem tragen neuere medienpädagogische Projekte Rechnung, etwa die Arbeit von Ingrid Paus-Hasebrink (2014). Sie ist auch in diesem Heft mit einem grundlegenden Artikel vertreten. In dem Sammelband Medien. Bildung. Soziale Ungleichheit (Theunert 2010) werden Medien im Kontext analysiert und dargestellt. Bezugspunkte sind hier die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in ihrer Einwirkung auf Sozialisation und Bildung. Herausgestellt sind die Familie, die Gleichaltrigen, die Schule, die Medien, sowie das Bildungssystem als Chancenverteiler. Diese neueren Ansätze tragen dem Fakt Rechnung, dass die Medien heute integraler Bestandteil der Lebenswelt sind, von dieser wiederum einerseits selbst bestimmt werden, insofern sie in das ökonomische und politische System des globalen Kapitalismus eingebettet sind und andererseits es in der Einwirkung auf die gesellschaftlichen Subjekte legitimieren und zementieren.
Soziale Ungleichheit und Medien: Verantwortlichkeiten und Herausforderungen
Vor dieser Folie beabsichtigen wir mit diesem merz-Themenheft, das Thema soziale Ungleichheit und Medien systematisch im Schnittpunkt von Sozialpolitik, allgemeiner Sozialwissenschaft, Medienwissenschaft und insbesondere Medienpädagogik diskursiv voranzutreiben: Den Auftakt macht der seit langem sich immer wieder in die Diskurse über Ungleichheit und vor allem der Extremform Armut einschaltende Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. Er beleuchtet in einem historischen Panorama die aus seiner Sicht eher unrühmliche Rolle, die Publizistik und Massenmedien in der Auseinandersetzung mit dem sozial schiefen Verteilungsgefüge seit der Nachkriegszeit gespielt haben. Insbesondere legt er die rhetorischen Strategien zur Individualisierung – Orientierung an Einzelfällen, Ausblenden struktureller Zusammenhänge – des Problems, damit der Ablenkung von den auch sozial und politisch von Menschen gemachten politischen Verhältnissen, schonungslos frei.
Diese an der gesellschaftlichen Makroebene angesiedelte Analyse von Christoph Butterwegge ergänzt Ingrid Paus-Hasebrink durch eine dezidiert mehrebenenanalytische Betrachtungsweise: Sie berichtet über das von ihr geleitete Panel zur Mediensozialisation Heranwachsender in benachteiligten Lebenslagen. Die Analyse des Ineinandergreifens von Sozialstruktur und Familie wird hier über die drei Konzepte Handlungsoptionen, Handlungsentwürfe und Handlungskompetenzen geleistet. Es kristallisiert sich aus der Ergebnisdarstellung ein Zusammenhang heraus, der auch aus anderen Forschungsgebieten wie zum Beispiel der Armutskonsequenzenforschung belegt ist: Sozioökonomische Benachteiligung führt zu Stress und Überforderung der Eltern, die aus diesem Grund nicht mehr über die Aufmerksamkeit und Feinfühligkeit verfügen, die notwendig sind, um eine liebevolle und lenkende Erziehung ihrer Kinder zu bewerkstelligen. Natürlich handelt es sich nicht um einen kausalen Automatismus, weil Persönlichkeitseigenschaften der Eltern und soziale Unterstützungsnetzwerke den Zusammenhang abfedern können. Gleichwohl ist tendenziell festzuhalten, dass gerade heute in Zeiten der ubiquitären Mediatisierung eine so anspruchsvolle Erziehungsaufgabe wie die Vermittlung von Medienkompetenz in der Familie wesentlich durch das Zusammenspiel sozialer, kultureller und ökonomischer Kapitalien beeinflusst wird und damit die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe auch an dieser Stelle ungerecht verteilt sind. Einer der wichtigsten Faktoren mit Blick auf gesellschaftliche Teilhabe ist der Bildungshintergrund bzw. die eigene Bildung.
Heidrun Allert setzt sich in ihrem Artikel damit auseinander, wie algorithmische Strukturen und Prozesse zunehmend auch in Bildungsprozesse Eingang finden und auf diese Einfluss nehmen. Sie macht deutlich, dass es das Wesen von Algorithmen ist, Ungleichheiten aufzuzeigen. Welche Konsequenzen damit verbunden sind, ob also Ungleichheiten als gegeben hingenommen und manifestiert werden und damit scheinbar vorgezeichnete Lebens- und Bildungswege noch schwerer zu ändern sind, oder ob das Wissen, das die Algorithmen liefern, dazu beiträgt, Ungleichheiten zu erkennen und vor diesem Hintergrund Weichen zu stellen und damit Chancen zu generieren, ist eine politische und im Bildungsbereich auch eine pädagogische Entscheidung. Entwicklungen und Entscheidungen dürfen nicht den Vorgaben der KI und der algorithmischen Strukturen überlassen werden, sondern müssen umgekehrt genutzt werden, um Freiräume zu schaffen und verantwortungsvoll zu handeln. Immer wenn es brenzlig und prekär wird, hofft man auf die Kavallerie, in unserem Falle also die zuständige Medienpädagogik.
Guido Bröckling attestiert dieser allerdings in seinem Artikel nur wenig Durchschlagskraft in Sachen Ausgleich soziokultureller Benachteiligungen von Kindern. Verantwortlich hierfür macht er sowohl allgemeine konzeptionelle Desiderata als auch praxisbezogene Leerstellen. Erstens moniert er, dass das Konzept von Medienkompetenz instrumentalistisch verkürzt neoliberalen Interessen im Sinne einer Zuschneidung auf ökonomische Verwertbarkeit geopfert und das Motiv der Unterstützung der emanzipatorischen Subjektbildung unterlaufen werde. Zweitens führe die Nichtreflexion des eigenen gesellschaftlichen Status‘ und damit verbundenen medialen Habitus‘ dazu, dass die genuinen Interessen der weniger privilegierten Kinder und Jugendlichen in den Projekten der Medienpädagogik nicht angemessen berücksichtigt werden und daher auch ein geringer Grad der Beteiligung seitens dieser Gruppe vorprogrammiert ist. Gleichzeitig müssten aber wirklich kompetenzfördernde Angebote für diese Zielgruppe auch deren Habitus überschreiten und Neues bieten – eine Ambivalenz, welche die Schwierigkeit emanzipatorischer Medienarbeit gut umreißt. Schließlich spricht der Autor weitere unhintergehbare Rahmenbedingungen für die ungleichheitssensible Bildungsarbeit an, die in technischen Ausstattungsmerkmalen und vor allem in Zeit und Vertrauen zu sehen sind.
Dass es durchaus schon Schritte in diese Richtung gibt, illustrieren die sich anschließenden Beiträge, die ihren Blick aus einer praktischen Perspektive auf das Thema richten. Mit ‚schwer erreichbaren Familien‘, was es so schwer macht, sie zu erreichen und wie dies aber doch gelingen kann, beschäftigt sich Katrin Schlör in ihrem Artikel. Als zentrale Hürde beschreibt sie den normativen Blick auf die Medienpraktiken der Familien, mit dem diese isoliert von den jeweiligen Lebenslagen betrachtet würden. Genau diese sind es aber, an denen angesetzt werden muss. Die individuellen Lebenslagen und die damit verbundenen Ressourcen der Familien müssen den Ausgangspunkt für jegliche Unterstützungsleistungen darstellen. Methodisch sind dabei partizipative Formate, die es Familien ermöglichen, sich als diejenigen zu erleben, die ihre Lebens- und Medienwelt gestalten, besonders wertvoll.
Eltern miteinander ins Gespräch über Erziehungsfragen zu bringen, ist eine Herangehensweise niedrigschwelliger Präventionsarbeit, die seit fast 20 Jahren erfolgreich im Projekt ELTERNTALK umgesetzt wird. Der eine Pfeiler des Projekts ist Kommunikation, der andere das Peer-to-Peer-Prinzip. Der Austausch auf Augenhöhe senkt die Hürde, sich mit den eigenen Erfahrungen und Problemen einzubringen. Da über die Jahre zahlreiche Eltern aus anderen Kulturkreisen, die zum Teil auch andere Sprachen sprechen, das Angebot von ELTERNTALK wahrgenommen haben, selbst die Rolle der Gastgeberin oder des Gastgebers übernommen oder sich zur Moderatorin bzw. zum Moderator haben weiterbilden lassen, ist die ELTERNTALK-Community inzwischen groß und vielfältig. Vor diesem Hintergrund und mit diesen Ressourcen gelingt es auch, geflüchtete Eltern zu erreichen. Nataša Eckert und Marianne Meyer beschreiben, welche Schwierigkeiten in diesen Familien im Vordergrund stehen und wie sie durch die ELTERNTALK-Runden unterstützt werden können.
Abschließend wendet sich Florian Seidel der Zielgruppe der jugendlichen Gamer*innen zu. Er macht deutlich, dass Computerspiele im Jugendalter milieuübergreifend eine wichtige Rolle als Kommunikations- und Handlungsraum und für die Identitätsarbeit spielen sowie als „verbindendes Element [fungieren] … und sich durch die heutigen technischen Möglichkeiten als zusätzliches Teilhabeinstrument anbieten.“ (S. 52 f.) Damit könnten sie ein wertvolles Instrument sein, um mit Jugendlichen unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund zu arbeiten. Dieses Potenzial wurde und wird in der (außerschulischen) Bildungsarbeit aber nur zögerlich genutzt; solange das Computerspielen keine bessere Lobby bekommt, wird sich daran wohl auch nicht viel ändern.
Welche Aufgaben ergeben sich nun aus unserer selektiven Zusammenstellung von Hot Spots des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit, Medienrezeption und Medienproduktion?
Vonnöten ist im gesamten Bereich der Medien- und Kommunikationswissenschaften eine stärkere integrale und systematische Berücksichtigung sozioökonomischer Variablen und Zusammenhänge, insbesondere auch im interdisziplinären Zusammenspiel mit Ökonomie und Soziologie. Im Feld der praktischen medienpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wie auch mit Familien gilt es, Medienangebote auf ihr Potenzial, sozialeUngleichheiten zu nivellieren, abzuklopfen und sie – wie am Beispiel von Computerspielen gezeigt – entsprechend gezielt zu diesem Zweck einzusetzen sowie sich wieder stärker am Konzept der Unterstützung der emanzipatorischen Subjektbildung zu orientieren.
Literatur
Alvaredo, Facundo/Chancel, Lucs/Piketty, Thomas/Saez, Emmanuel/Zucman, Gabriel (2018). Die weltweite Ungleichheit. Der World Inequality Report 2018. München: C.H. Beck.
Arnhold, Katja (2003). Digital Divide. Zugangs- oder Wissenskluft? Internet Research, Band 10. München: Fischer.
Baacke, Dieter/Frank, Günter/Radde, Martin (1989). Jugendliche im Sog der Medien. Medienwelten Jugendlicher und Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Beckers, Maja (2020). Die Mitte als Extrem. In: Hohe Luft, 2020 (3), S. 37–40.
Hausmanninger, Thomas/Bohrmann, Thomas (Hrsg.) (2002). Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven. München: Fink Verlag.
Huinink, Johannes/Schröder, Torsten (2019). Sozialstruktur Deutschlands. 3. Auflage. München: UVK (UTB).
Müller, Patricia (2019). Social Media und Wissensklüfte. Nachrichtennutzung und politische Informiertheit junger Menschen. Wiesbaden: Springer VS.
Paus-Hasebrink, Ingrid/Kulterer, Jasmin (2014). Praxeologische Mediensozialisationsforschung. Langzeitstudie zu sozial benachteiligten Heranwachsenden. Baden-Baden: Nomos.
Piketty, Thomas (2017). Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: C. H. Beck.
Piketty, Thomas (2020). Kapital und Ideologie. München: C. H. Beck.
Saez, Emmanuel/Zucman, Gabriel (2020). Der Triumph der Ungerechtigkeit. Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert. Berlin: Suhrkamp.
Stegbauer, Christian (Hrsg.) (2012). Ungleichheit. Medien- und kommunikationssoziologische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS.
Theunert, Helga (1996). Gewalt in den Medien – Gewalt in der Realität. Gesellschaftliche Zusammenhänge und pädagogisches Handeln. Reihe Medienpädagogik, Bd. 6. München: kopaed.
Theunert, Helga (Hrsg.) (2010). Medien. Bildung. Soziale Ungleichheit. Differenzen und Ressourcen im Mediengebrauch Jugendlicher. München: kopaed.
Susanne Eggert: ausdrucksstark - Medienarbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung
Integrative medienpädagogische Arbeit ist eine vergleichsweise neue Aufgabe. Modellprojekte sind in diesem Bereich Mangelware. Das Projekt ausdrucksstark wurde als solches konzipiert und einer wissenschaftlichen Evaluation unterzogen. Die Projekterfahrungen und die Ergebnisse der Evaluation wurden für eine interessierte Öffentlichkeit zugänglich gemacht. LiteraturMichaelis, Elke/Lieb, Oliver (Hrsg.) (2006). Ausdrucksstark. Modelle zur aktiven Medienarbeit mit Heranwachsenden mit Behinderung. München: kopaed
Andreas Oberlinner/Susanne Eggert/Senta Pfaff-Rüdiger: Digitale und mobile Medien in Familien mit kleinen Kindern. Ergebnisse der Langzeitstudie FamilienMedienMonitoring
Die Ergebnisse der Langzeitstudie FaMeMo zeigen, dass bereits die jüngsten Kinder mit digitalen und mobilen Medien intensiv in Kontakt sind. Es wird der Bedarf nach einer flexiblen, kindgerechten Medienerziehung deutlich, die an die jeweiligen familiären Bedingungen angepasst ist. So können Familien und besonders die Kinder profitieren und den Herausforderungen einer Lebenswelt gerecht werden, in der Medien allgegenwärtig sind.
Literatur
Eggert, Susanne (2019). Familiäre Medienerziehung in der Welt digitaler Medien: Ansprüche, Handlungsmuster und Unterstützungsbedarf von Eltern. In: Fleischer, Sandra/Hajok, Daniel (Hrsg.), Medienerziehung in der digitalen Welt. Grundlagen und Konzepte für Familie, Kita, Schule und Soziale Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer, S. 105–118.
Eggert, Susanne/Wagner, Ulrike (2016). Grundlagen zur Medienerziehung in der Familie. Expertise im Rahmen der Studie MoFam – Mobile Medien in der Familie. München. www.jff.de/fileadmin/user_upload/jff/projekte/mofam/JFF_MoFam1_Expertise.pdf [Zugriff: 16.03.2021]
Fleischer, Sandra/Hajok, Daniel (Hrsg.) (2019). Medienerziehung in der digitalen Welt. Grundlagen und Konzepte für Familie, Kita, Schule und Soziale Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer.
Lampert, Claudia/Schwinge, Christiane (2013). Zum Elterlichen Umgang mit Medien. Ein Überblick über den Stand der Forschung. In: Wagner, Ulrike/Gebel, Christa/Lampert, Claudia (Hrsg.), Zwischen Anspruch und Alltagsbewältigung: Medienerziehung in der Familie. Schriftreihe Medienforschung der LfM. Berlin: Vistas, S. 19–51.
Oberlinner, Andreas/Eggert, Susanne/Schubert, Gisela/Jochim, Valerie/Brüggen, Niels (2018). Medienrituale und ihre Bedeutung für Kinder und Eltern. Erster Bericht der Teilstudie „Mobile Medien und Internet im Kindesalter – Fokus Familie“ im Rahmen von MoFam – Mobile Medien in der Familie. München. www.jff.de/fileadmin/user_upload/jff/projekte/mofam/JFF_MoFam_Studie_T_Medienrituale.pdf [Zugriff: 16.03.2021]
Pfaff-Rüdiger, Senta/Eggert, Susanne/Oberlinner, Andreas/Drexl, Andrea (2021). "Gebe ich jetzt meine Daten preis oder nicht?" Privatheit und Datenschutz in der Frühen Kindheit. In: Amnicht-Quinn, Regina/Friedwald, Michael/Heesen, Jessica/Krämer, Nicole/Stapf, Ingrid (Hrsg.), Aufwachsen in überwachten Umgebungen - interdisziplinäre Positionen zu Privatheit und Datenschutz in Kindheit und Jugend. Tagungsband der Jahrestagung des Forum Privatheit 2019. Baden-Baden: Nomos (im Druck).
Pfaff-Rüdiger, Senta/Oberlinner, Andreas/Eggert, Susanne (2020). Zwischen Bibi Blocksberg und Alexa. Medienbiographische Erfahrungen von Eltern und ihr Einfluss auf die Medienerziehung. München. www.jff.de/fileadmin/user_upload/jff/projekte/mofam/JFF_MoFam_Studie_T_MedienbiografienEltern_20200924_gA__2_.pdf [Zugriff: 07.12.2020]
Theunert, Helga/Lange, Andreas (2012). „Doing Family“ im Zeitalter von Mediatisierung und Pluralisierung. In: merz | medien + erziehung. Zeitschrift für Medienpädagogik, 56 (2), S. 10–20.
Andreas Lange/Susanne Eggert: Editorial: Deutungshoheit und Sprachschlachten. Sprache in den Medien
Sei es das Gendersternchen, sei es die Flüchtlingsdebatte, sei es die Ökonomisierung weiter Bereiche der Gesellschaft: Die Medien transportieren ein Bündel von Vorstellungen, Bildern, Vorurteilen, Theorien in die Köpfe der Gesellschaftsmitglieder und tragen sie in unterschiedliche Diskurse und Diskursarenen. Obwohl die Visualität bzw. Ikonizität der Darstellungen in den öffentlichen Arenen auf dem Vormarsch ist, passiert der multisensorische Bedeutungstransport vornehmlich über Sprache. Die denunzierte Rede von der „Political Correctness“ (Degele 2020) ist hier ein, aber nicht das einzige wichtige Thema und es geht um Grundsätzliches: Wird von ‚Fremdbetreuung‘ im Umfeld der Kleinkindbetreuung gesprochen, werden andere Türen in unserem Bewusstsein aufgestoßen, als wenn wir von familienergänzender oder gar familienunterstützender institutioneller Betreuung sprechen. Ein ‚Konkubinat‘ mit seinem negativ konnotierten Bedeutungshorizont war noch in den 80er Jahren eine geläufige Bezeichnung für eine nichteheliche Lebensgemeinschaft, die heute semantisch ‚upgegraded‘ auch als ‚partnerschaftliche Verantwortungsgemeinschaft‘ läuft.
Die Beispiele sollen verdeutlichen: Sprache ist das Prädikat, welches immer wieder als das Merkmal genannt wird, welches den Menschen als solchen auszeichnet. Seit der antiken Rhetorik wird über die Wirkmächtigkeit dieses humanspezifischen Zeichensystems nachgedacht. Wenn auch unbestritten ist, dass die Medien über ihre je eigene Materialität und sonstigen Eigenschaften inhaltliche Botschaften mitformatieren, darf daher die sprachliche Formulierung nicht außen vor der medienwissenschaftlichen Debatte gelassen werden.
MÄCHTIGER EIGENSINN DER SPRACHE
Es gibt eine Reihe von Konstruktionsprinzipien der menschlichen Sprache, die in Wechselwirkung mit der auf Sozialität und Gegenseitigkeit hin angelegten Kognition des Menschen (Tomasello 2020) für die ‚Macht und Magie‘ sprachlicher Zeichen sorgen, wie unter anderem Schramm/Wüstenhagen (2015) auf der Basis einer breiten Forschungsliteratur rekonstruieren:
1) LAUTMALEREI UND KLANG DER SPRACHE LEGEN BESTIMMTE BEDEUTUNGEN NAHE
Eigentlich dürfte es einen solchen Zusammenhang gar nicht geben. Die klassisch-linguistische Theorie behauptet, dass der Klang der Worte völlig willkürlich, ohne Zusammenhang zur Wortbedeutung steht. Neuere Arbeiten und Positionen vor allem auch aus experimentiellen Arbeiten postulieren und weisen zumindest partiell nach, dass bestimmte Lautkonglomerate, sogenannte Phoneme, Bedeutungen von Worten mit festlegen. So wird behauptet, dass das I wie in Liebe, Paradies, Frieden gute Laune macht. Die Autorinnen sammeln dann Belege für die zumindest partielle Ikonizität: In der Sprache scheinen mehr ikonische Anteile zu stecken als bislang bekannt war: „Tatsächlich lassen sich in vielen Sprachen zumindest vereinzelt solche Zusammenhänge finden. Kleine Dinge etwa klingen erstaunlich oft auch klein. Als beliebte Beispiele dienen oft: ‚diminutive‘ oder ‚teeny-weeny‘ im Englischen, ‚klein‘ oder ‚winzig‘ im Deutschen, ‚mikros‘ im Griechischen oder ‚chico‘ im Spanischen. Schon die Wörter an sich scheinen dem Klang nach einen Hinweis auf die physische Eigenschaft der bezeichneten Sache zu geben. Alle diese Worte haben etwas gemeinsam: den i-Laut. Sie haben dies gemeinsam mit Spitznamen und anderen Verniedlichungsformen, die hierzulande häufig auf i enden, wie Hansi, Claudi oder Steffi, oder in Spanien auf ito/ita wie Señorita. So hat das schmale unscheinbare i offenbar erhebliche Ausdrucksstärke – weil es so gut als Signal für die kleinen Dinge fungiert.“ (Schramm/ Wüstenhagen 2015, S. 24). Umgekehrt verhält es sich dann mit Wörtern, die Großes indizieren. Diese beinhalten oftmals ein a oder o. Man denke an ‚grand‘ im Französischen, ‚makro‘ im Griechischen, und ‚groß‘ im Deutschen.
2) WORTE, KONZEPTE UND INSBESONDERE METAPHERN ‚SCHIEBEN‘ UNSER DENKEN IN BESTIMMTE RICHTUNGEN
Ein einziges Wort kann unser Urteil, Denken und Handeln signifikant beeinflussen, das zeigt die inzwischen umfängliche Forschung zu den Metaphern, also den Bedeutungsübertragungen von einer Quelle in ein Ziel: Elisabeth Wehling (2016), die hierzulande im Umfeld der Framingdebatte bekannt geworden ist, verdeutlicht die Wirkungskaskaden beim Wort- und insbesondere Metaphernverständnis: Um Worte zu begreifen, aktiviert das Gehirn große Wissensbestände – konkret motorische Schemata, Bewegungsabläufe, Emotionen, Gerüche und visuelle Eindrücke. Das tut es, um linguistischen Konzepten eine Bedeutung verleihen zu können. Bestimmte Worte bestimmen also nicht eine genau zugeschnittene Bedeutung, sondern einen mehr oder weniger großen Bedeutungsradius. Diese Macht der Metaphern wird in unterschiedlichen Forschungsrichtungen und von unterschiedlichen Autor*innen unterstrichen. Einer der renommiertesten unter ihnen ist George Lakoff, ein Linguist. Er geht sogar so weit zu sagen, dass Metaphern töten können. Dabei bezieht er sich auf die Rahmung der Regierung Bush nach dem 11. September 2001; zuerst wurde von Opfern gesprochen, dann von Verlusten – mit diesem Sprachwechsel wurde der Krieg gegen den Terror eingeläutet. Die Anschläge wurden vom Verbrechen zu einer Kriegshandlung, was dazu führt, dass die entsprechenden Gegenmittel eingesetzt wurden.
3) DIE REKURSIVE SYNTAX MENSCHLICHER SPRACHE ERMÖGLICHT MÄCHTIGE WEITERE SPRACHWERKZEUGE: NARRATIVE, GESCHICHTEN UND CO.
In einem fesselnden Sachbuch zum Thema ‚Wie Geschichten unser Leben bestimmen‘ zeigen El Ouassil/Karig (2021), dass die Möglichkeit, eine Rückbezüglichkeit innerhalb von Sätzen herzustellen, zum Beispiel durch Neben- oder Schachtelsätze, Grundlage dafür ist, dass wir entlang eines Zeitstrahls Ereignisse anordnen und wiederholen können. Grammatik ermöglicht es erst, zum einen die fiktiven Welten, die wir beim Lesen und Hören von Geschichten mental erschaffen, überhaupt zu entschlüsseln und auch selbstständig zu generieren. Syntax ermöglicht insbesondere den Ausdruck unseres linearen Zeitempfindens – also unserer Fähigkeit, chronologisch und in Kausalzusammenhängen zu denken. Im Gegensatz zu Tieren haben wir nicht nur eine Vorstellung davon, wie ein Zeitstrahl verläuft, sondern auch ein Konzept für zeitliche Koordination, für die ‚Wanns‘ auf diesem Zeitstrahl, sowie ein Gefühl für ein Davor und Danach. Unsere Kommunikation besteht in großen Teilen aus Aussagen darüber, wann Dinge passiert sind und/oder passieren werden.
Dieser kleine sprachwissenschaftliche Exkurs, der sicherlich noch um vielfältige Aspekte ergänzt werden könnte, zeigt, dass die Sprache eigensinnige Bedeutungsüberschüsse in sich trägt, die dann mit den Medienspezifika in eine Wechselwirkung treten. Besondere rhetorische Formeln und Sprachfiguren schmiegen sich organisch an bestimmte mediale Formate an, umgekehrt bilden neue Medien teilweise neue Sprachformen und -praktiken aus (Marx/ Weidacher 2020, S. 119 ff.): Es entstehen unter anderem neue Wörter und Abkürzungen, um die spezifische Temporalität des Mediums zu bedienen, hybride Kommunikationsformen zwischen mündlich und schriftlich und – besonders erwähnenswert: anders als es die Kulturkritik insinuiert, eine neue Form von Sprachsensibilität!
Vor dieser Folie haben wir einige ausgewählte Debattenbeiträge aus dem weitläufigen, noch systematischer und vor allem interdisziplinär zu beackernden Forschungsfeld versammelt: Den Anfang machen Andreas Lange und Nicole Svorc, die danach fragen, was eigentlich Familie ausmacht, wie Familie ‚hergestellt‘ wird? Sie stellen die These auf, dass Sprache hieran einen großen Anteil hat. Medien wiederum sind eine zentrale Quelle dafür, wie, also mit welcher Sprache und welchen (Sprach-)Bildern Familien sich ‚herstellen‘ und ihre familienbezogenen Wertvorstellungen entwickeln, beispielsweise, indem sie sich von medial diskutierten und mit bestimmten Begriffen konnotierten Familienbildern abgrenzen, sich diesen unterordnen oder zugehörig fühlen (wollen). Problematisch daran ist, dass die medial vermittelten Vorstellungen von Familie und ihre sprachliche Darstellung eine starke Komplexitätsreduktion bedeuten, die den vielfältigen Ausprägungen von Familie nicht gerecht wird, jedoch das Bild von Familie in der Gesellschaft beeinflusst. Vor diesem Hintergrund plädieren Lange und Svorc für eine „fürsorgliche Kommunikation“ in den Medien, durch die „Räume des Denkens und Handelns […] nicht beschränkt und eingeengt, sondern geöffnet werden“ (S. 22).
Kathrin Englert, Dagmar Hoffmann und David Waldecker nehmen sich der Frage an, ob eine gewissermaßen ‚wirkliche‘ sprachliche Interaktion mit Alexa und Co. möglich ist. Den vollmundigen Behauptungen der großen Techfirmen setzen sie die geballte Macht der theoretischen und empirischen Ressourcen der Forschung entgegen. Eine grundlegende Charakteristik der Interaktion ist dabei die großflächige Vermenschlichung, zumeist in Richtung weibliches Gattungsexemplar, die die Nutzenden vornehmen und den Sprachassistenzsystemen nicht zuletzt auch Persönlichkeitsmerkmale zuschreiben. In seinem eigenen Projekt geht das Siegener Team den subjektiven Zuschreibungen theorieanaloger Art nach, die die Menschen im alltäglichen Austausch mit Alexa und Co. entwickeln. Durchaus modifizieren demnach die Sprachsysteme den Interaktionshaushalt in vielerlei Hinsicht. Allerdings wird dieser Beitrag relativiert und es bilden sich durchaus unterschiedliche ‚Beziehungen‘ zu den Sprachgerätschaften heraus. Diese Beziehungen bedeuten auch zusätzliche Kommunikations- und Emotionsarbeit, die aber in mehr oder weniger unaufgeregtem Modus erbracht wird; schließlich sind die Geräte nicht essenziell für die alltägliche Lebensbewältigung, sondern, immerhin, ‚nice to have‘.
Auf der sprachlichen Ebene der Diskursaustragung lokalisiert Sebastian Zollner für die Gegenwart zahlreiche digitale invektive Konstellationen – womit die herabsetzende, entwürdigende Form von Kommentaren in Hate Speech, Verschwörungstheorien und Fake News gemeint ist. Als eine wichtige Maßnahme in diesem Zusammenhang gilt gemeinhin die Counter Speech, die Gegenrede. Der Autor zeigt auf der Basis linguistischer Überlegungen erstens die Vielschichtigkeit des Begriffs auf. Er macht unter anderem deutlich, dass die Gegenrede nicht zwingend von den Invektierten, also Betroffenen ausgehen muss, sondern es auch Fürsprache von Dritten geben kann – eine Einsicht, die nicht nur didaktisch, sondern auch zivilgesellschaftlich relevant ist. Zweitens breitet er den Fächer der Wissensbestände zu Counter Speech aus. Da ist zu nennen die sprachlich-kommunikative Realisierung in Praktiken, die auf etablierte Formeln zurückgreifen können und daher auch systematisch trainierbar sind. Ebenfalls weiterführend sind die Funktionen, die Counter Speech im Interaktionshaushalt von Gruppen, Organisationen und Gesellschaften einnehmen kann: Von der Positionierungs- über Irritationsarbeit bis hin zur Empathie und Verständnisarbeit reicht das Spektrum. Vor allem aber hat systematische, breit getragene Gegenrede das Potenzial zu verhindern, dass Vorurteile und Hassschablonen Teil des unhinterfragten, geteilten Alltagswissens, vulgo, des ‚gesunden Menschenverstandes‘ werden.
Drittens verweist Sebastian Zollner auf erfolgversprechende Möglichkeiten, sowohl in der außerschulischen Jugendarbeit, vor allem aber im Schulunterricht insbesondere sprachliche Mittel zu lehren, die einen kompetenten Umgang mit Hate Speech in der Lebenswelt der Schüler*innen ermöglichen. Guido Bröckling und Fabian Hellmuth schließlich setzen sich damit auseinander, welche Rolle Sprache in medienpädagogischen Projekten spielt. Eine Prämisse der aktiven Medienarbeit ist es, ihrer Zielgruppe, den Kindern und Jugendlichen, auf Augenhöhe zu begegnen, sich auf ihre Themen einzulassen und sie ernst zu nehmen. Das heißt auch, ihre Sprache zu akzeptieren und einen guten Weg der Kommunikation zu finden und dabei authentisch zu bleiben. In einem Kiez-Projekt in Neu-Kölln sollte mit Sprache gespielt und experimentiert werden – ‚spoken word poetry‘ sollte entstehen, wohl gewählte Worte, um sich kritisch zum Beispiel mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinanderzusetzen und dafür Medien kompetent in Gebrauch zu nehmen. Die Jugendlichen aber wollten ein Rap-Projekt. Ihre Idole, denen sie hier nacheiferten, sprechen eine Sprache, die diskriminierend, beleidigend und grammatikalisch falsch ist. Für die Medienpädagogen bestand die Herausforderung darin, ohne erhobenen Zeigefinger mit den Jugendlichen über die Aussagen ins Gespräch zu kommen und sie zu einem kritischen Blick und zum Austausch mit anderen zu motivieren. Rückblickend reflektieren sie, inwieweit ihnen das gelungen ist und was ein medienpädagogisches Projekt ausmacht.
Die Aufsätze illustrieren, dass und inwiefern es sich zukünftig lohnt, den feinen und komplexen Wechselwirkungen zwischen Sprache als eigensinnigem System, Sprache als sozialer Praktik auf der einen Seite und den unterschiedlichen ‚alten‘ und ‚neuen‘ Medien auf der anderen Seite näher unter die Lupe zu nehmen. Und das nicht nur in grundlagenwissenschaftlicher Manier, sondern mindestens ebenso intensiv in medienpädagogischer Hinsicht: im analytischen Sinne einer zu schulenden Dekodierungskompetenz für sprachliche Verführungen, Herabsetzungen und Diskriminierungen und in der Dimension der Gestaltungkompetenz als immer mitlaufende sprachliche Sensibilität bei der Produktion von Medieninhalten. Und auch hier ist Interdisziplinarität zu wünschen und produktiv. So könnten die Einsichten der kognitiven Medienlinguistik hierzu beigezogen werden. Bleibt zu hoffen, dass es in naher Zukunft zu intentional betriebenen, intensiven Verschränkungen medienwissenschaftlicher und sprachwissenschaftlicher Expertise kommt!
Dr. Susanne Eggert ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Forschung am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Familie und Medien, Medien in der Frühen Kindheit, Inklusion und Medien sowie Medienwandel und Bildung.
Dr. Andreas Lange ist Professor für Soziologie an der RWU Ravensburg-Weingarten an der dortigen Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Soziologien der Kindheit, Jugend und Familie, Medienwissenschaften sowie Zeitdiagnose.
Literatur
Degele, Nina (2020). Political Correctness – Warum nicht alle alles sagen dürfen – Mit einem Vorwort von Renate Künast. Weinheim: Beltz Juventa.
El Ouassil, Samira El (2021). Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen. Berlin: Ullstein.
Marx, Konstanze/ Weidacher, Georg (2020). Internetlinguistik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto.
mediensprache.net | Das Medienlinguistik-Portal (o.J.). www.mediensprache.net [Zugriff: 25.02.2022]
Schramm, Stefanie/ Wüstenhagen, Claudia (2015). Das Alphabet des Denkens. Wie Sprache unsere Gedanken und Gefühle prägt. Hamburg: Rowohlt.
Wehling, Elisabeth (2016). Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Köln: Herbert von Halem Verlag.
Daniela Cornelia Stix/Susanne Eggert: Editorial: Wo guter Rat nicht teuer ist
Menschen suchen in der Regel Rat, wenn sie in einer herausfordernden Situation oder Problemlage selbst keine geeigneten Lösungsmöglichkeiten sehen:
„Also betrifft das Überlegen die Dinge, die zumeist begegnen, die ungewiss sind, wie sie herauskommen, und bei denen unbestimmt ist, wie man handeln soll. Bei den großen Sachen nehmen wir Berater dazu, da wir uns selbst misstrauen und uns nicht für fähig halten, allein zu entscheiden.“ (Aristoteles, Eth. Nic 1112b, zit. n. DBSH 2002, S. 6)
Die hinzugezogenen Berater*innen sind dabei in ihrer Form so alt wie vielfältig. Neben der besten Freundin und dem guten Nachbarn im Privaten gibt es spezifische sozialprofessionelle und therapeutische Angebote. Auch die Medien bieten zahlreiche Möglichkeiten, sich in herausfordernden Situationen Rat einzuholen. Ratgeberliteratur, Rollenvorbilder in Serien und YouTube-Tutorials stellen hier unzählige massenmediale Angebotsformen dar. Nicht zuletzt werden (Massen-)Medien genutzt, um den Zugang zu individueller Beratung zu erleichtern. Insofern erscheint es konsequent, in dieser Ausgabe die Chancen von Social Media und Messengern für die Beratung aufzugreifen. Doch zuvor soll das Spektrum von (medialen) Ratgebern und Beratung differenziert werden.
Der Rat aus den Massenmedien
Der sicherlich bekannteste mediale Ratgeber ist das 1788 erschienene Buch Über den Umgang mit Menschen von Adolph Knigge. Wenngleich Knigge damals eine eher soziologische Aufklärungsschrift im Sinn hatte (Quelle Wikipedia), gilt uns das Buch heute vor allem als Benimm-Ratgeber. Das erste explizite Ratgeberbuch veröffentlichte der Schotte Samuel Smiles 1859. Mit seinem Titel Self-Help brachte er einen bis heute andauernden Prozess der boomenden Ratgeberliteratur ins Rollen, der sich unter anderem darin zeigt, dass der Spiegel eine eigene Bestsellerliste für die Kategorie ‚Ratgeber Leben & Gesundheit‘ führt. Die aktuell größte Bekanntheit dürften die Aufräum-Ratgeber von Marie Kondō erlangt haben. Wem Bücher zu teuer und zu dick sind, die*der findet auch in Zeitschriften Rat. Ein Beispiel zum Thema Gesundheit und Sexualität ist Dr. Sommer aus der Jugendzeitschrift BRAVO.
Der Zeitschriftenmarkt ist thematisch breit gestreut und wenngleich die Zeitschriften nicht als Ratgeber per se gelten, bieten doch die meisten ihren Leser*innen eine gewisse Orientierung und umfassen darüber hinaus in der Regel eine Kategorie, in der Fragen der Leser*innen beantwortet werden. Rat findet sich also nicht nur in Medien, die als solche deklariert sind. Ein weiteres Beispiel dafür sind Filme und Serien. Viele Menschen nehmen Schauspieler*innen bzw. von ihnen verkörperte Rollen als Vorbilder für bestimmte Lebenssituationen. Vorausgesetzt, dass diese lebensnah sind und ein diverses Rollenangebot umfassen. In der Serie GZSZ beispielsweise sind immer wieder queere Handlungsstränge integriert und im Sommer 2020 konnten die Zuschauer*innen den Outing-Prozess von Moritz Bode erleben. Jay Shetty formuliert dies sehr treffend: „So we’re often thrown into relationships with nothing but romantic movies and pop culture to help us muddle through“. Shatty ist der Autor des Ratgebers 8 Rules of Love, mit dem er im Jahr 2023 auf World Tour ist. Den Zuschauer*innen verspricht er im Rahmen seiner Show „a journey of finding, keeping, and even letting go of love. Including live meditations, experiments, and demonstrations“. Hier bekommt das Ratgeben also nochmal eine ganz neue interaktive massenmediale Form. Wer es audiovisuell etwas passiver mag, schaut sich Videos auf Tiktok, Instagram oder YouTube an. Dass sowohl Marie Kondō als auch Dr. Sommer inzwischen im Internet vertreten sind, ist keine Frage. Nicht nur auf YouTube hat Marie Kondō mit @MarieKondoTV einen eigenen Kanal und wer „aufräumen + kondo“ bei YouTube eingibt, findet nahezu unendliche viele weitere Videos, in denen erklärt wird, warum Ordnung für die Psyche wichtig ist, wie man ausmistet und wie Dinge richtig verstaut werden. Dr. Sommer ist natürlich ebenfalls mit @DrSommerTV auf YouTube vertreten und beantwortet auf der Webseite www.bravo.de gesundheit in klassischer Manier ‚Spannende Sex-Fragen‘. Die Selbstbeschreibung lautet hier: „Das Team ist beratend tätig und unterstützt bei Themen wie Pubertät, sexuelle Identität, Beziehungen, physische und psychische Gesundheit, Liebe, Sexualität und Entwicklung. Dennoch ersetzt unsere Beratung nicht den Besuch bei Facharzt, Anwalt oder Psychologen [sic!]. Hast du eine Frage an unser Team? Schreib uns unter: drsommerteam@bravo-family.de“.
Hinter dem massenmedialen Rat stehen einerseits Lai*innen mit entsprechender Erfahrung oder solche, die sich ihr Wissen autodidaktisch angeeignet haben und dieses weitergeben wollen. Andererseits finden sich hier auch Professionelle, also Praktiker*innen, die ihre Praxiserfahrungen weitergeben wollen oder Wissenschaftler*innen, die ihre Erkenntnisse einer breiten Gruppe zukommen lassen wollen und daher auf populärwissenschaftlicher Ebene öffentlich agieren.
Individuelle Beratung
Individuelle Beratung kann ebenfalls als Lai*innen- oder professionelle Beratung stattfinden und bietet auf unterschiedlichen Ebenen der Kommunikation und mittels unterschiedlicher Techniken (z. B. zuhören, Verständnis zeigen, Perspektiven darlegen, Ratschläge erteilen, pragmatische Tipps geben, Sachverhalte erklären, Informationen bereitstellen, psychotherapeutisch intervenieren) Erkenntnispotenzial, Orientierungsangebot und Hilfestellung für die persönlichen Herausforderungen. Laut Nando Belardi haben jedoch gesellschaftliche Veränderungen sowie ansteigende Komplexität und Unsicherheit eine Zunahme des professionellen Beratungsbedarfs bewirkt (vgl. Belardi 2011, S. 41). Zugleich stellt Belardi eine „Therapeutisierung der Gesellschaft“ fest (ebd., S. 43), weshalb im Folgenden zunächst eine Abgrenzung von Lai*innen- und professioneller Beratung bedeutsam erscheint, bevor auf die Merkmale sozialprofessioneller Beratung eingegangen wird.
Individuelle Beratung in Form der Lai*innen-beratung findet nahezu überall in Gesprächen zwischen Freund*innen, Kolleg*innen oder Familienmitgliedern statt. Außerdem nehmen häufig Menschen in Dienstleistungsberufen wie Taxifahrer*innen, Friseur*innen, Physiotherapeut*innen oder Bartender*innen beratende Rollen für Menschen ein. Lai*innen-beratung ist somit eine alltägliche zwischenmenschliche und lebensweltlich eingebettete Kommunikationsform und umfasst das Erteilen von Ratschlägen, die Klärung von Problemen oder Anregungen zur Auflösung von Krisensituationen. Insbesondere in den zuvor genannten Dienstleistungsberufen erstreckt sich die Beratungshandlung meist nur auf Aspekte wie das Zuhören, Verständnis zeigen und Mut geben (ebd., S. 36). Die Beratenden können, müssen aber nicht, Erfahrung mit ähnlichen oder gleichen Problemlagen haben. Durch die Verbalisierung und den Austausch wer- den ein Problem oder eine herausfordernde Situation erhellt, die eigenen Ressourcen erkannt und möglicherweise neue Handlungsoptionen aufgedeckt. An ihre Grenzen kommt die Lai*innenberatung bei komplexen Situationen, denn die erteilten Handlungsvorschläge sind subjektiv und von den Sichtweisen und Interessen der Beratenden geprägt und nicht zwangsläufig zum Besten der Ratsuchenden. Mediale Formen der Lai*innenberatung finden beispielsweise in Internetforen und Chats statt. Hier treffen sich Gleichgesinnte, um miteinander Probleme oder Fragen zu erörtern. Unter Apfeltalk treffen sich beispielsweise Mac-Nutzer*innen und unter Ubuntuusers beraten und unterstützen sich Nutzer*innen des entsprechenden Linux-Betriebssystems. Durch Nachrichtenmeldungen haben einige spezifische Foren wie Suizid- oder Abnehm-Foren traurige Bekanntheit erlangt. In diesen Foren haben sich die Teilnehmer*innen gegenseitig hinsichtlich der effizientesten Selbstmord- oder Abnehmmethoden beraten.
Die professionelle individuelle Beratung muss in die psychotherapeutische und die sozialprofessionelle Beratung unterteilt werden. Im psychotherapeutischen Setting kann statt von Beratung auch von einer (Heil-)Behandlung ge- sprochen werden. Sie findet in psychotherapeutischen Praxen oder Kliniken statt. Die Ratsuchenden sind dementsprechend Patient*innen und die Beratenden sind ausgebildete psychologische oder medizinische Psychotherapeut*innen oder Kinder- und Jugendpsychotherapeut*innen. Der Zugang für die Patient*innen ist relativ hochschwellig und erfolgt über Ärzt*innen, Beratungsstellen oder durch eigenes Bemühen um einen Therapieplatz. Abhängig vom Vorliegen eines ärztlichen Gutachtens erfolgt die Finanzierung über Krankenkassen. Die Behandlung umfasst meist einen längeren, vielfach Jahre dauernden Zeitraum. Während in der Sozialen Arbeit auch Kontakte zu anderen Einrichtungen hergestellt und gegebenenfalls verschiedene Maßnahmen koordiniert werden, ist der*die Psychotherapeut*in die einzige professionell mit der*dem Patient*in arbeitende Person und die Form der Hilfeleistung besteht ausschließlich im Gespräch.
Hier soll es um die sozialprofessionelle Beratung im Kontext Sozialer Arbeit gehen. Sie stützt sich auf fundiertes fachliches Wissen, auf spezifische Theorien sowie auf Methoden der Kommunikation und Interaktion. Damit zielt sie auf einen aktiven Verständigungsprozess, der sich durch Nachfragen auszeichnet und oberflächliche Interpretationen und eine vorschnelle subjektive Sicht auf die Situation vermeidet (vgl. DBSH 2002, S. 6). Die sozialprofessionelle Beratung ist folglich gekennzeichnet „durch ihre systematische, kontrollierte Erkenntnisgewinnung und ein erlerntes, strukturiertes Vorgehen“ (Straumann 2001, S. 81). Der Umgang mit den vielfältigen Beratungsinhalten und -situationen setzt bei den Sozialarbeiter*innen folglich eine hohe fachliche Kompetenz sowie professionelle Flexibilität voraus, denn jede Beratungssituation erfordert die gleiche professionelle und sowohl in die Breite als auch in die Tiefe gehende Vorgehensweise, um den in der Regel komplexen Gegenstandsbereich adäquat im Sinne einer „ganzheitlichen Hilfe“ (DBSH 2002, S. 5) zu erfassen. Das Ziel sozialprofessioneller Beratung ist „eine situationsadäquate, kommunikativ vermittelte und vereinbarte Unterstützungshandlung zur Verbesserung der Einsichts-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit von Einzelnen, Gruppen und Institutionen“ (vgl. DBSH 2002, S. 3). Die sozialprofessionelle Beratung umfasst mit der Leistungsberatung, der organisatorischen Beratung und der sozialpädagogischen Fallberatung, drei Beratungsformen. Die Leistungsberatung wird meist von Verwaltungsfachangestellten oder Sozialfachwirt*innen ausgeübt und umfasst vorwiegend das Informieren, das Auskunft geben sowie gegebenenfalls eine Wegweiserfunktion. Bei der organisatorischen Beratung handelt es sich genau genommen nicht um individuelle Beratung, sondern tendenziell eher um gruppenbezogene Beratungsgespräche, wie sie bei der Supervision, in Teamsitzungen, in Gremien, bei Hilfeplankonferenzen oder in Stadtteilkonferenzen. stattfinden. Unter sozialpädagogischer Beratung wird die fallspezifische Beratung verstanden, bei welcher sich Einzelne oder mehrere mit einem sozialpädagogischen Anliegen an die Sozialarbeiter*innen wenden. Sozialpädagogische Beratung sollte laut Belardi „den Betroffenen helfen, unerwünschte, aber eigentlich normale und manchmal sogar notwendige Probleme menschlicher Existenz zu meistern“ (Belardi 2011, S. 39). Häufig findet eine Beratung auf zwei Ebenen statt: Zum einen auf der Ebene, in der es um die Bearbeitung und Bewältigung einer akuten Aufgabe oder herausfordernden Situation geht. Zum anderen soll die*der Rat-suchende auf der zweiten, der pädagogischen Ebene befähigt werden, zukünftige herausfordernde Situationen weitgehend selbst lösen zu können. Daher bewegen sich Sozialarbeiter*innen bei der sozialpädagogischen Beratung auf einem Grat zwischen ‚systematische Lösung/Entscheidung vorgeben‘ und ‚Lösung selbst finden‘ bzw. ‚Entscheidung selbst treffen‘ lassen. Bei der Lösungs- und Entscheidungsfindung gilt es zu unterstützen, indem Handlungsalternativen aufgezeigt, Wissen vermittelt, Orientierung gegeben und Alternativen aufgezeigt werden. Unterstützung ist auch wichtig, wenn es darum geht, die Ursachen und Hintergründe zu erforschen und einzuordnen. Belardi weist dabei mit Nachdruck darauf hin, dass grundsätzlich eine Defizitorientierung zu vermeiden ist: „Die Ratsuchenden haben bis jetzt ihr Leben ohne fremde Hilfe gemeistert. Diese Fähigkeiten heißt es zu verstärken und nicht erst einmal in Frage zu stellen.“ (Belardi 2011, S. 45).
Im Vordergrund sollten daher die Eigenbemühungen, Kompetenzen und Ressourcen der*des Ratsuchenden stehen, die unterstützt, gefördert und erweitert werden können, indem kleine realisierbare Teilschritte gemeinsam mit dem*der Ratsuchenden erarbeitet werden (vgl. Belardi 2011, S. 45) oder Informationen gegeben und Kontakt zu anderen Hilfestellen vermittelt werden. Basis sind in jeder Hinsicht eine kooperative und vertrauensvolle Beziehung und ein offenes Gespräch, das die*den Ratsuchenden zu einer bewussten Wahrnehmung der Situation bringt und die dazu führt, dass er*sie seine*ihre Verhaltensmuster, Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Einstellungen verändert. Die sozialpädagogische Beratung zeichnet sich dadurch aus, dass sie viele unterschiedliche und sich ergänzende Aspekte umfasst und keinen ausschließenden Charakter hat, sich also inhaltlich nicht nur auf einen Aspekt konzentriert (vgl. Belardi 2011, S. 34). Mediengestützte sozialprofessionelle Beratung im Allgemeinen und sozialpädagogische Beratung im Speziellen hat durch Corona neue Aufmerksamkeit erlangt. Beratungsangebote wie das Krisentelefon und die Telefonseelsorge sowie seit den 1990er-Jahren die Onlineberatung, die in der Regel per Chat oder E-Mail erfolgt, waren und sind stark nachgefragt. Um den Zugang zu Beratungsangeboten niedrigschwellig zu halten, werden zunehmend auch Social Media und Messenger in die sozialprofessionelle Beratung eingebunden. Dass das Wissen aus dem Feld der Telefon- und Onlineberatung aber nur bedingt auf die Nutzung von Social Media in der Beratung übertragen werden kann, zeigen die Beiträge des Themenschwerpunkts dieser Ausgabe.
Nichtmenschliche AI-Based Beratung
In aller Munde ist derzeit die auf künstlicher Intelligenz basierende Software ChatGPT (siehe Wütscher 2023 in dieser Ausgabe, S. 5) des US-Unternehmens OpenAI. Ein der Software implizierter Chatbot erzeugt in kürzester Zeit Texte unterschiedlicher Textsorten (u. a. Text- zusammenfassungen, Dankschreiben, Reden, Bewerbungen, Seminararbeiten, Projektkonzepte). Darüber hinaus soll ChatGPT in der Lage sein, nahezu menschliche Antworten auf Fragen aller Art zu verfassen und komplexe Sachverhalte einfach zu erklären. Allerdings zeigte der erste Test (eine Zusam-menfassung eines von mir selbstverfassten Buches zu erstellen) noch deutliche Schwächen. Es scheint plausibel, dass diese darin begründet liegen, dass der Inhalt des Buchs zwecks Analyse zunächst ins Englische übersetzt und dann für die Antwort/Zusammenfassung rückübersetzt wurde, weshalb beispielsweise statt des in sozialarbeiterischen Kontexten gebräuchlichen Begriffs „Einrichtungen“ nun „Unternehmen“ genutzt wird. Ein zweiter und dritter eigens für dieses Editorial gemachter Versuch, löste zunächst eine Warnmeldung aus. Die Antwort auf die Aussage, „mein Freund hat Schluss gemacht“, umfasste vier Sätze, die einem bestimmten Schema folgten: (1) verstehendes Verständnis inklusive Zusammenfassung der Anfrage, (2) Empathiebekundung, (3) Ratschlag, (4) Verabschiedung. Die ChatGPT-Antwort auf meine dritte Anfrage stellt sich ähnlich dar (siehe Abb.). Dass der Chatbot damit an seine Grenzen stößt bzw. die dahinterstehenden Verantwortlichen damit bewusst möglichen Schadenspflichtansprüchen vorbeugen wollen, ist nachvollziehbar. Positiv ist dennoch, dass ChatGPT den Ratsuchenden zunächst durch die Empathiebekundungen das Gefühl vermittelt, wahr-und ernstgenommen zu werden. Und es stellt sich die Frage, ob dies Sozialprofessionellen in ihrem stressigen Alltag auch immer so gut gelingt ... Im Hinblick auf die technologischen Entwicklungen daher als Schlusssatz ein altes Sprichwort leicht abgewandelt: „Kommt Zeit, kommen neue Beratungsformen.“
Die Themenbeiträge
Die Nutzung von Messengern ist vermutlich für die meisten Leser*innen ein alltägliches Phänomen und Teil ihrer medialen Alltagspraktiken, insofern eröffnet Petra Riesau, die sich in ihrem Beitrag mit den Besonderheiten und Herausforderungen der Messengerberatung beschäftigt, einen alltagsnahen Einstieg in das Thema. Anschließend analysiert Marc Witzel in Form einer theoretischen Annäherung Social Media als Räume für Beratung. Im Fokus steht die Gestaltung digitaler sozialpädagogischer Orte als professionelle Herausforderung. Wie sich das konkret in der Praxis gestaltet, beschreibt Julian Erdmann am Beispiel der Digital Streetwork. Wobei er den Blick auf die Grenzen/-losigkeit und die damit einhergehenden Entgrenzungen lenkt. Nachdem mit den ersten Beiträgen die besonderen Rahmenbedingungen für Beratungssettings mit Social Media beleuchtet werden, gehen die beiden folgenden Beiträge auf die Perspektiven der am Beratungsprozess direkt involvierten Personen ein: Laura Best hat die Akzeptanz der Videoberatung aus der Kli-ent*innen-Perspektive untersucht und stellt ihre Erkenntnisse zusammengefasst vor. Inse Böhmig und Jessica Ranitzsch beschreiben, warum es eine Kunst ist, digitale*r Berater*in zu sein und welche Fähigkeiten und Kompetenzen es dazu braucht. Den Abschluss der Themenbeiträge bildet ein Interview mit Warc Weinhardt, in dem er die zukünftigen Möglichkeiten und Perspektiven der (digitalen) Beratung diskutiert.
Abgerundet wird das Thema durch die Vorstellung des Instituts für E-Beratung an der TH Nürnberg und ein themenorientiertes Glossar. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen und hoffen, mit dem Themenschwerpunkt einige Denkanstöße liefern zu können.
Literatur
Belardi, Nando (2011). Beratung. Eine sozialpädagogische Einführung. Weinheim/München: Beltz Juventa.
Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e. V. (DBSH) (2002). Qualitätsbeschreibung Sozialprofessionelle Beratung. Berlin. www.dbsh.de/media/dbsh-www/downloads [Zugriff: 15.03.2023]
Straumann, Ursula (2001). Professionelle Beratung: Bausteine zur Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung. Kröning: Asanger.
1Der Beitrag bezieht sich auf die Publikation: Stix, Daniela C. (2021). Praxishandbuch. Beraten mit Social Media.
Digitale Soziale Arbeit mit Jugendlichen. Weinheim: Beltz Juventa.Susanne Eggert/Andreas Lange: Editorial: Die ambivalente Ökonomisierung von Medien in Zeiten der Digitalisierung
Hoppla, ohne es zu wollen, habe ich zugestimmt, dass die Online-Plattform, auf der ich mich gerade befinde, Cookies einsetzt – und damit implizit mein Einverständnis zur Sammlung und Verarbeitung meiner persönlichen Daten gegeben. Möglich war das durch die Verwendung der Dark-Patterns-Technologie. Diese bringt Nutzer*innen mit Hilfe von Designelementen dazu, ihre Zustimmung zu Vorgängen im Internet zu geben, ohne dass sie sich dessen unbedingt bewusst sind. Dark Patterns sind nur eine Möglichkeit, wie Anbieter im Internet an die Daten von Nutzer*innen kommen. Und wenn sie diese Daten einmal haben, dann ist der Weg frei, sie zielgerichtet weiterzuverarbeiten. Die Daten von Nutzer*innen sind eine wichtige und wertvolle Währung für kommerzielle Akteure im Internet. Wenn es um die Verbindung von Ökonomie und Medien geht, sind sie der wichtige Faktor. Warum?
Zunächst einmal ist es sinnvoll, sich ein wenig genauer anzuschauen, was eigentlich hinter dem Begriff der Ökonomie steckt bzw. was unter Ökonomisierung zu verstehen ist. Ökonomisierung ist einer der wichtigsten gesellschaftlichen Mehrebenenprozesse, der die Struktur und Dynamik der späten Moderne, des digitalen Kapitalismus (Fuchs, 2023), prägt. Ökonomisierung meint differenzierungstheoretisch betrachtet (Hedtke, 2014) das imperialistische, kolonialisierende Übergreifen ökonomischer Logiken in andere Systeme und Lebenswelten von Menschen. Zu diesen Logiken gehört das Schema Zahlung – Nichtzahlung, die Quantifizierung und damit zwangsweise Vereinheitlichung von Sachverhalten und der Export des homo oeconomicus als Leitbild. Schließlich werden alle Beziehungen marktförmig modelliert. Im Gefüge der Systeme erfolgt also eine Aufwertung der ökonomischen Logik und diese realisiert sich in erster Linie in den Organisationen der Teilsysteme; sprich in den Krankenhäusern, Universitäten, Redaktionen und Produktionsstudios. Allerdings ist dies kein linearer Prozess, weil die Eigenlogiken der anderen Systeme und Organisationen sich daran reiben und abarbeiten. Schon früh indes hat es solche Beziehungen zwischen den noch um endgültige Ausdifferen zierung ringenden Systemen, Medien auf der einen, und Wirtschaft auf der anderen Seite, gegeben. Spätestens mit dem Buchdruck haben die großen Druckhäuser und die medienrhetorisch versierten Theologen gezeigt, dass gutes Marketing zu ökonomischem Gewinn durch Medien führen kann (Kaufmann, 2022). Sie nutzten großflächig die Tatsache, dass zwar die Erstproduktion von Medienprodukten kostenintensiv ist, aber die nachfolgenden Skalenvorteile diesen Anfangsnachteil mehr als wettmachen. Im Interview zeigt Friedrich Krotz auf, wie sich das entwickelt hat, warum Gutenberg eigentlich den Buchdruck erfunden hat und wie die Entwicklung anschließend weiterging. Er macht deutlich, dass die Ökonomisierung von Medien insbesondere hinsichtlich der Weiterentwicklung der Technik und den damit einhergehenden Bildungschancen für die Menschen ein großes positives Potenzial enthält. Dieses Potenzial gilt es verantwortungsvoll zu nutzen, und zwar umso mehr vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung der Gesellschaft. Denn mit dem stetigen Zuwachs an neuen Medientechnologien und -formaten sowie deren Vermarktung entstand zum einen eine Aufmerksamkeitsökonomie (Franck, 2007). Angesichts der Überfülle des Medienangebots und der zunehmenden Notwendigkeit einer werbemäßigen Refinanzierung sind die Anbieter darauf angewiesen, wahrgenommen zu werden, um überleben zu können. Das damit verbundene Buhlen um Clicks und Abos schlägt sich zum Teil in Qualitätseinbußen nieder und kann dazu führen, wie das Beispiel Dark Patterns zeigt, dass Wege gesucht werden, die für die Nutzenden nicht mehr so leicht zu erkennen sind. Zum anderen forcieren die Digitalisierung und die Sozialen Medien nochmals die Ökonomisierung jedweder Kommunikation und die Ausbeutung der User*innen durch informatorische Arbeit. Vor allem führen sie auch zu einer Hypersingularisierung (Reckwitz, 2017) und einer zunehmenden Konsumorientierung sowie einer an Verhaltensvorhersagen orientierten Kontrolle des ökonomischen Denkens und Handelns von Menschen aller Altersgruppen (Zuboff, 2018), die durch die Sammlung ihrer persönlichen Daten möglich wird.
Wo in dieser Entwicklung die Fallstricke für Verbraucher*innen liegen, damit beschäftigt sich Verena Halm von der Verbraucherzentrale Bayern. Sie zeigt auf, welche Wege der Werbung sich im Internet entwickelt haben und warum sie für die Nutzer*innen oft so schwer zu erkennen sind. Dank der unzähligen persönlichen Daten, die wir regelmäßig im Internet zur Verfügung stellen, lassen sich unsere Bedürfnisse sehr genau analysieren. Genau hier setzen die Akteur*innen an und genau damit erreichen sie auch, dass wir nicht mehr so genau hinschauen. Das in diesem Text nun schon mehrfach bemühte Verfahren der Dark Patterns ist einer dieser Wege. Rudolf Kammerl und sein Team haben für die Bayerische Landeszentrale für Neue Medien die Bedeutung von Dark Patterns und Digital Nudging in Sozialen Medien untersucht. Sie stellen fest, dass Dark Patterns in fast allen Angeboten, die bei Kindern und Jugendlichen beliebt sind – seien es Apps oder Spiele –, vorkommen. Neben älteren Personen und Menschen mit geringerer formaler Bildung sind es aber gerade Kinder, die sich besonders schwertun, diese Mechanismen zu erkennen, was das Thema für den Verbraucher- und Jugendmedienschutz, aber auch für die Medienpädagogik besonders virulent macht. Die Bedeutung, die die Verbindung von Medien und Ökonomie für die Bildung und ihre Verbreitung haben kann, wurde bereits angesprochen. Während aber die (kostengünstige) Verfügbarkeit von Informations- und Bildungsmedien nicht hoch genug bewertet werden kann, birgt die Digitalisierung zunehmend die Gefahr, dass Bildung von ökonomischen Interessen bestimmt wird. Mit diesem Thema setzt sich die Initiative Bildung und Digitaler Kapitalismus auseinander. In einem gerade erst erschienenen Positionspapier wirft die Initiative einen kritischen Blick auf das Verhältnis zwischen Kapitalismus und digitalen Technologien und skizziert das Verhältnis zwischen Digitalem Kapitalismus und Bildung. Daraus entwickelt sie bildungspolitische Perspektiven und Forderungen. Gregor Eckert und Nina Grünberger sind Teil der Initiative. In ihrem Beitrag gehen sie auf das Vorgehen bei der Erarbeitung des Positionspapiers ein, bei dem unter anderem Wert darauf gelegt wurde, dass möglichst unterschiedliche Perspektiven berücksichtigt wurden, und erläutern außerdem zentrale Begriffe des Textes. Insgesamt wird sehr deutlich, dass das Verständnis der Ökonomisierung der Medien und die Durchdringung des Zusammenspiels und der Verflechtungen zwischen Medien und Ökonomie vor dem Hintergrund unserer heutigen mediatisierten und digitalisierten Welt eine wesentliche Voraussetzung für einen kompetenten Einbezug digitaler Medien in eine souveräne Lebensführung sind und insofern ein zentraler Inhalt für die praxisorientierte Medienpädagogik. Wie dies umgesetzt werden kann, damit setzen sich die Beiträge von Charlotte Horsch, Tina Drechsel und Valentin Dander auseinander. Charlotte Horsch stellt das webhelm-Starterkit zum Thema Influencer*innen vor, das pädagogische Fachkräfte dabei unterstützt, mit Jugendlichen zu Influencer*innen und dem dahinterstehenden Geschäftsmodell zu arbeiten. Tina Drechsel stellt zwei Methoden vor, wie im Rahmen des Projekts ACT ON! – Aufwachsen zwischen Selbstbestimmung und Schutzbedarf die Reflexion ökonomischer Strategien und Strukturen unterstützt wird. Valentin Dander hat sich im Rahmen eines Praxis-Forschungs-Projekts damit auseinandergesetzt, wie das komplexe Themenfeld Daten und digitaler Kapitalismus mit Jugendlichen ab 14 Jahren umfänglich bearbeitet werden kann und dafür Methoden entwickelt. In einer kritischen Reflexion der Erprobung dieser Methoden stellt er fest, dass diese von pädagogischen Fachkräften positiv bewertet wurden, die teilnehmenden Jugendlichen aber immer wieder an Grenzen kamen. Vor diesem Hintergrund plädiert er dafür, Erfahrungen und Methoden aus der kritischen ökonomischen und politischen Bildung sowie Methoden aus dem Bereich der Critical Data Literacies in medienpädagogische Bildungssituationen einzubeziehen. Bei der Vorbereitung dieses Themenschwerpunkts zeigte sich, wie komplex und zum Teil schwer zu fassen und zu durchschauen das Thema Medien und Ökonomie ist. Wir hoffen, wir können mit den gewählten Perspektiven und Texten Anregungen zum Weiterdenken und Weiterdiskutieren geben und wünschen eine spannende Lektüre.
Literatur
Franck, G. (2007). Ökonomie der Aufmerksamkeit: Ein Entwurf. dtv.
Hedtke, R. (2014). Was ist sozio-ökonomische Bildung? Perspektiven einer pragmatischen fachdidaktischen Philosophie. In A. Fischer & B. Zurstrassen (Eds.), Sozioökonomische Bildung (pp. 81-126). Bundeszentrale für politische Bildung.
Kaufmann, T. (2022). Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte. C. H. Beck.
Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp.
Zuboff, S. (2018). Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus.
Friedrich Krotz/Susanne Eggert: Am Anfang war der Buchdruck. Die Verbindung von Medien und Ökonomie | Gespräch mit Friedrich Krotz
Medien und Ökonomie haben nie unabhängig voneinander existiert. Als es möglich war, Bücher zu drucken und dadurch mehrere Exemplare von einer Vorlage herzustellen, war der Grundstein für die kommerzielle Verwertung von Medien gelegt. Susanne Eggert hat sich mit Friedrich Krotz darüber unterhalten, wie sich die Verbindung von Medien und Ökonomie bis heute entwickelt hat.
ONLINE EXKLUSIV: Susanne Eggert. "Ansonsten nutze ich es im Moment einfach, um Essen auf den Tisch zu kriegen."
Kinder fühlen sich schon früh von Bildschirmmedien angezogen. Eltern werden immer wieder darauf hingewiesen, dass eine frühe Nutzung von Smartphone, Laptop oder Fernseher sich negativ auf die kindliche Entwicklung auswirken könnte, deren Nutzung durch Kleinkinder folglich zu vermeiden sei. Die Langzeitstudie FaMeMo zeigt, wann und warum sich Kinder in den ersten Lebensjahren Bildschirmen zuwenden.
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Creative Commons Lizenzvertrag
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Eggert, Susanne (2024). "Ansonsten nutze ich es im Moment einfach, um Essen auf den Tisch zu kriegen.". Kontexte der Bildschirmnutzung in der frühen Kindheit. In: merz | medien + erziehung,68 (1), S. 97–106. https://www.merz-zeitschrift.de/fileadmin/user_upload/merz/merz_24_1_ONLINE_EXKLUSIV_Eggert_Kontexte_der_Bildschirmnutzung.pdf
Literatur
Eggert, S., Oberlinner, A., Pfaff-Rüdiger, S. & Drexl, A. (2021). Familie digital gestalten. FaMeMo – eine Langzeitstudie zur Bedeutung digitaler Medien in Familien mit jungen Kindern. München: kopaed. Verfügbar unter: https://jff.de/veroeffentlichungen/detail/familie-digital-gestalten
Fleischer, S. (2014). Medien in der Frühen Kindheit. In A. Tillmann, S. Fleischer & K.-U. Hugger (Hrsg.), Handbuch Kinder und Medien (Digitale Kultur und Kommunikation, Bd. 1, S. 303–311). Wiesbaden: Springer VS.
Götz, M. (2020). Selbstreflektierte Medienkompetenz in Pandemiezeiten. Strategien von Heranwachsenden zur Regelung ihrer Mediennutzungszeiten. Televizion, 33(2), 29–32. Verfügbar unter: https://br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/33_2020_2/Goetz-Selbstreflektierte_Medienkompetenz.pdf
Linke, C. (2011). Aufwachsen mit mobilen Medien. Rituale und Kommunikation im Alltag von Kindern und Jugendlichen. In P. Grimm & O. Zöllner (Hrsg.), Medien – Rituale – Jugend. Perspektiven auf Medienkommunikation im Alltag junger Menschen. Gefälligkeitsübersetzung: Media – rituals – youth. Perspectives of media communication in the everyday lives of young people. (Medienethik, Bd. 9, S. 81–97). Stuttgart: Steiner.
Madigan, S., Eirich, R., Pador, P., McArthur, B. A. & Neville, R. D. (2022). Assessment of Changes in Child and Adolescent Screen Time During the COVID-19 Pandemic: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Pediatrics, 176(12), 1188–1198. https://doi.org/10.1001/jamapediatrics.2022.4116
Oberlinner, A., Eggert, S., Schubert, G., Jochim, V. & Brüggen, N. (2018). Medienrituale und ihre Bedeutung für Kinder und Eltern. Erster Bericht der Teilstudie „Mobile Medien und Internet im Kindesalter – Fokus Familie“ im Rahmen von MoFam – Mobile Medien in der Familie. Verfügbar unter: https://jff.de/fileadmin/user_upload/jff/projekte/mofam/JFF_MoFam_Studie_T_Medienrituale.pdf
Franziska Koschei/Lena Schmidt/Susanne Eggert: Zukünftige Gestaltung Digitaler Bildung im Grundschulalter
Wie soll Digitale Bildung in Zukunft aussehen? Der Beitrag gibt konkrete Handlungsempfehlungen zur zukünftigen Gestaltung Digitaler Bildung im Grundschulalter auf Basis des Forschungsprojekts ‚DiBiGa – Zukunftsperspektiven Digitaler Bildung im Grundschulalter‘. Im Projekt wurden die Auswirkungen des pandemiebedingten Distance-Schooling untersucht und daraus bedarfsorientierte Empfehlungen abgeleitet.
Literatur
Autorengruppe Frankfurt-Dreieck (2019). FrankfurtDreieck zur Bildung in der digital vernetzten Welt: Ein interdisziplinäres Modell. dagstuhl.gi.de/fileadmin/ GI/Allgemein/PDF/Frankfurt-Dreieck-zur-Bildung-in-derdigitalen-Welt.pdf
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Kultusministerkonferenz (KMK) (2017). Bildung in der digitalen Welt: Strategie der Kultusministerkonferenz. kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_ beschluesse/2016/2016_12_08-Bildung-in-der-digitalen-Welt.pdf
Petschner, P., Dertinger, A., Lampert, C. & Müller, J. (2022). ‹Ich habe eigentlich das Gefühl, so, wie es jetzt im Augenblick läuft, wird diese Lerntätigkeit auf die Eltern abgewälzt›. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 46, 179–197. doi.org/10.21240/ mpaed/46/2022.01.19.X
Unger, H. von (2014). Partizipative Forschung: Einführung in die Forschungspraxis. Springer VS. doi. org/10.1007/978-3-658-01290-8.
Senta Pfaff-Rüdiger/Andreas Oberlinner/Christin Winter/Susanne Eggert: "Wir sind schon ein bisschen in der Bambus-Zahnbürsten-Bubble"
Was bewegt Jugendliche nach jahrelangen Einschränkungen durch die Corona- Pandemie, in einer Zeit, die von Kriegen und der Klimakrise geprägt ist? In diesem Forschungs-Praxis-Projekt erhalten Jugendliche eine Stimme und es wird deutlich, wo sie Unterstützung brauchen.
Literatur
Anselm, S. & Weigand, A. (2023). Design-Thinking: Außerhalb der Box denken. https:// bne-box.lehrerbildung-at-lmu.mzl.
lmu.de/design-thinking
Barysch, K. N. (2016). 18 Selbstwirksamkeit. In D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Werte: Von Achtsamkeit bis Zivilcourage – Basis-wissen aus Psychologie und Philosophie (S. 478–503). Springer.
Brüggen, N., Dirr, E., Schemmerling, M. & Wagner, U. (2014). Jugendliche und Online-Werbung im Social Web. JFF – Institut für Medienpädagogik.
Brüggen, N. & Schober, M. (2020). Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit Self-Tracking im Freizeitsport: Explorative Studie im Rahmen des Projekts „Self-Tracking im Freizeitsport“.
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) (Hrsg.) (2022). Zukunft? Jugend fragen! – 2021. Umwelt, Klima, Wandel – was junge Menschen erwarten und wie sie sich engagieren. https:// bmuv.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Broschueren/
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Hurrelmann, K. (2007). Lebensphase Jugend: Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung (9. Auflage).
Juventa.
Hurrelmann, K. (2023). Polarisierung der Gesellschaft – Erkenntnisse aus der Jugendforschung. merz | medien + erziehung, 67(1), 24–31.
Oberle, M., Hahn-Laudenberg, K., Ditges, P. & Stamer, M.-M. (2023). Politische Sozialisation im Jugendalter: Ein Systemativ Review des internationalen Forschungsstands auf Basis empirischer Studien in englisch-sprachigen Zeitschriften. Deutsches Jugendinstitut.
Reiß, F., Kaman, A., Napp, A.-K., Devine, J., Li, L. Y., Strelow, L., Erhart, M., Hölling, H., Schlack, R. & Ravens-Sieberer, U. (2023).
Epidemiologie seelischen Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse aus 3 Studien vor und während
der COVID-19- Pandemie. Bundesgesundheitsblatt, 66, 727–735.
Salisch, M. von & Vogelgesang, J. (2018). Entwicklungspsychologische Grundlagen der Empathiefähigkeit. BPjM aktuell (4), 9–12.
Seiffge-Krenke, I. (2021). Die Jugendlichen und ihre Suche nach dem neuen Ich: Identitätsentwicklung in der Adoleszenz (2. aktualisierte Auflage). Kohlhammer.
Werteatlas. (2023). Optimistisch oder verzweifelt. Wie blickt Bayerns Jugend in die Zukunft? Eine Studie von Brunswick und
der Stiftung Wertebündnis. https://wertebuendnis-bayern.de/wp-content/uploads/2024/01/Studie-Brunswick-x-Stiftung-
Wertebuendnis-Ergebnisse_Langversion.pdfHelga Theunert und Susanne Eggert: Virtuelle Lebenswelten
Der einführende Beitrag setzt sich damit auseinander, welche Rolle virtuelle Erfahrungswelten in der Lebenswelt von Individuen spielen. Die Möglichkeit der interaktiven Nutzung und die Realitätsnähe der virtuellen Welten werfen die Frage auf, ob diese Alternativen zur Realität darstellen können. Anonymität, Identitätsspiele und die damit verbundenen möglichen Grenzüberschreitungen und Tabubrüche machen den Reiz der Fantasiewelten aus. Je nachdem, wie sehr sich ein Individuum auf die virtuellen Angebote einlässt, kann dies zur Reflexion des eigenen Selbst, aber auch zu Risiken für das Individuum in seiner realen Lebenswelt führen. Für die Medienpädagogik gilt es, das Bewusstsein für die Unterscheidung realer und virtueller Welten zu schärfen und Konzepte für eine sichere und gewinnbringende Nutzung virtueller Räume zu erstellen.Der Artikel schließt mit einer Kurzdarstellung der folgenden Beiträge.
This introductory article discusses the role of virtual spaces for the everyday life of individuals: Do interactive and lifelike virtual worlds offer alternative realities? What makes imaginary worlds attractive, is the opportunity of being anonymous, of faking one’s identity and – related to that – of crossing borders and breaking taboos. Depending on how much the individual gets involved in virtual spaces, this involvement can lead to self-reflection, but also to problems concerning the handling of everyday reality. The task of media education is to make people aware of the differences between real and virtual worlds and to provide concepts for using virtual spaces in a safe and successful way.The article closes with an abstract of the following essays.
Susanne Eggert: Digital Crossroads
„Wir sind erstaunt, wie viele interessante Projekte und wie viel Forschung aus unterschiedlichen Perspektiven es zum Thema Medien und Migration weltweit gibt“, resümierte Sandra Ponzanesi am Ende der dreitägigen Tagung Digital Crossroads. Media, Migration and Diaspora in a Transnational Perspective (www.digital-crossroads.nl). Ponzanesi ist Associate Professor for Gender Studies and Postcolonial Critique im Fachbereich Media and Culture Studies der Fakultät für Humanwissenschaften an der Universität Utrecht. Seit 2006 erforscht sie im Rahmen des internationalen und interdisziplinären Projektes wired up, wie Jugendliche mit Migrationshintergrund sich die digitalen Medien zunutze machen (vgl. www.uu.nl/wiredup). Die Tagung Digital Crossroads war der festliche Abschluss des Projektes, zu dem die Veranstalter um Sandra Ponzanesi Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt eingeladen hatten, um ihre Projekte vorzustellen und zu diskutieren. Mehr als 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler folgten dieser Einladung und trafen sich vom 28. bis 30. Juni 2012 in Utrecht.
Die Palette der Projekte war breit gefächert und reichte von der Arbeit mit Laptops in griechischen Schulklassen mit hohem Migrationsanteil über eine Plattform, die simbabwische Frauen im Land wie auch Frauen, die das Land verlassen mussten, ermutigen soll, ihre Vorstellungen von Frau-sein und ihren Bezug zu ihrer nationalen Identität zu diskutieren (www.herzimbabwe.co.zw) bis hin zur Analyse der Darstellung von Menschen mit Migrationshintergrund im Film und der empirischen Untersuchung der Bedeutung von Medien für die Identitätsfindung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Unterbrochen wurde der Projektemarathon durch täglich zwei Keynotes, die unterschiedliche Aspekte und Ansätze zur Erforschung des Feldes vorstellten. Den Auftakt machte Lisa Nakamura von der University of Illinois, die sich mit Trash Talk und Rassismus in Computerspielen wie Counterstrike, World of Warcraft oder Halo und den user generated media campaigns gegen dieses Verhalten auseinandersetzte. Radhika Gajjala (Universität von Pittsburgh) stellte ihre Überlegungen zur audiovisuellen Identitäts- und Netzwerkarbeit mit Hilfe von Machinimas vor.
Die weiteren Keynotes nahmen junge Menschen mit Migrationshintergrund in den Blick. Liesbet van Zoonen von der Loughborough University konnte sehr anschaulich darstellen, wie junge Erwachsene die Videoplattform YouTube nutzen, um eigene Identitätsfacetten darzustellen und öffentlich zu diskutieren. Kirsten Drotner von der University of Southern Denmark stellte die Ergebnisse einer Untersuchung dar, in der der Medienumgang von 13- bis 23-Jährigen mit und ohne Migrationshintergrund verglichen wurde. Dabei zeigte sich, dass sich die jungen Migrantinnen und Migranten den Medien besonders eifrig zuwenden. Sie nutzen sowohl alte als auch neue Medien und sind aktiver in Social Networks als die jungen Däninnen und Dänen. Eva Lam (Northwestern University) betrachtete den Umgang Jugendlicher mit Migrationshintergrund mit den kommunikativen Möglichkeiten des Internets und deren Rolle für die Identitätsfindung von Mädchen und Jungen chinesischer Abstammung in den USA.
Shakuntala Banaji von der London School of Economics and Political Science schließlich setzte sich mit der Bedeutung des Internets für die politische Partizipation von jungen Migrantinnen und Migranten auseinander. Neben vielen inhaltlichen Anregungen bot die Konferenz aber auch die Gelegenheit zum internationalen Networking und kann es sich sicherlich als Erfolg auf die Fahnen schreiben, Expertinnen und Experten zum Thema Medien und Migration aus aller Welt zusammengebracht und für die Arbeit der jeweils anderen sensibilisiert zu haben.
Susanne Eggert: Grundschulkinder fit machen fürs Internet
Jäcklein-Kreis, Elisabeth (2016). Erste Hilfe ins Internet. (Kriterien zur) Beurteilung von Unterstützungsangeboten für Kinder. München: kopaed. 506 S., 27,80 €.
„Auch und gerade für Kinder, die bereits vor dem Grundschulalter Erfahrungen im Umgang mit online agierenden Medien gesammelt haben, scheint es angebracht, […] unterstützend zu wirken, denn auch ihre Mediennutzung erfährt mit dem Schuleintritt eine Zäsur: Wo vorher Spiel und Unterhaltung über bekannte Apps oder voreingestellte Lesezeichen möglich war, eröffnet die neu erworbene Lese- und Schreibfähigkeit nun ganz andere Wege der Nutzung und Aneignung.“ (S. 46) Dieses Zitat aus der Dissertation von Elisabeth Jäcklein-Kreis, die als Band 3 in der von Gudrun Marci-Boehncke und Matthias Rath herausgegebenen Schriftenreihe MedienBildungForschung erschienen ist, fasst das Anliegen der Autorin zusammen, das sie dazu bewogen hat, sich mit der Palette an Angeboten zu beschäftigen, die dazu beitragen sollen, Kinder bei der Entwicklung eines souveränen Umgangs mit dem Internet zu unterstützen. Eine zentrale Rolle spielt aus ihrer Sicht dabei die Grundschule als Vermittlerin wichtiger Kompetenzen für eine souveräne Lebensführung. Diese Sichtweise teilt sie mit der Wissenschaft, der Politik und auch den Eltern. Sie stellt jedoch fest, dass Medien in der Schule „längst keinen adäquaten Platz" gefunden haben.
In der großen Mehrheit der Bundesländer gibt es bisher nur vage Ideen und Anregungen in den allgemeinen Teilen der Lehrpläne sowie einen sehr unklar gefassten Medienbegriff“ (S. 120). Das erste Kapitel ist nicht nur eine Einführung in das Thema, sondern gleichzeitig ein engagiertes Plädoyer für die Verankerung von Medien und Medienerziehung in der Grundschule. Folgerichtig soll die Arbeit auch dazu dienen, motivierten Lehrkräften Anhaltspunkte für die Bearbeitung des Themas Internet im Unterricht zu liefern. Auf stattlichen 500 Seiten überprüft Jäcklein-Kreis Materialien in Printform oder als Online-Angebote unterschiedlicher sowohl kommerzieller als auch nicht-kommerzieller Anbieter, die dazu beitragen sollen, Kindern im Grundschulalter den richtigen Weg ins Internet zu weisen. Zunächst setzt sie sich dabei mit den Begriffen der Medienkompetenz, Medienbildung und Medienerziehung auseinander und stellt einschlägige Definitionen sowie relevante Positionen vor, um anschließend die Bedeutung und Verwendung der Konzepte im Rahmen ihrer Arbeit zu umreißen.
Als Grundlage der anschließenden Analyse – dem Kernstück ihrer Dissertationsschrift – identifiziert Jäcklein-Kreis verschiedene Menschenmodelle, an denen sich die Materialien orientieren, sowie unterschiedliche Sichtweisen auf Medien und damit verbundene medienpädagogische Ansätze, die den Materialien zugrunde liegen und deren Ausrichtungen und Zielsetzungen beeinflussen. In der Auseinandersetzung mit diesen erarbeitet sie Kriterien, entlang derer sie die Analyse der Materialien durchführt, und entwickelt anschließend ein Raster, das eine differenzierte Einordnung der Materialien ermöglicht.
Die Analyse von 25 ausgewählten Materialien nach formalen, didaktischen und inhaltlichen Merkmalen macht deutlich, dass der Großteil der Broschüren, Bücher und Online-Angebote zur Unterstützung von Kindern bei der Entwicklung eines souveränen Umgangs mit dem Internet ein endogenistisches Menschenmodell zugrunde legt, das weder dem Kind selbst noch dessen Umwelt eine aktive Rolle bei der Entwicklung von Medienkompetenz zuschreibt, sondern davon ausgeht, dass es sich bei der Entwicklung eines Kindes um einen vorgegebenen Fahrplan handelt, der jedoch darin unterstützt werden kann, wie schnell ein Ziel erreicht wird. Lenkt man den Blick dabei auf Materialien, die sich an Eltern richten, so weisen diese eine Tendenz zu einer bewahrpädagogischen Sichtweise auf, während an pädagogische Fachkräfte gerichtete Angebote eher darauf ausgerichtet sind, ein reflektiertes Medienhandeln zu unterstützen. Materialien, die Kinder adressieren, verfolgen tendenziell ein aufklärerisches Ziel und setzen darauf, Kindern die Bedeutung von Medien an sich, deren Funktionsweisen sowie Potenziale und Gefährdungen aufzuzeigen.Elisabeth Jäcklein-Kreis hat mit dieser Arbeit einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, medienpädagogische Unterstützungsmaterialien, die sich an Eltern, pädagogische Fachkräfte aber auch an Kinder selbst richten, einzuschätzen und anhand verschiedener Kriterien für den eigenen Bedarf auszuwählen. Dennoch bleibt die Leserin bzw. der Leser am Ende der Lektüre ein wenig unbefriedigt und ratlos zurück. Dies liegt einerseits daran, dass die eingangs gestellte Frage nach der Tauglichkeit von medienpädagogischen Materialien für den Einsatz im Rahmen des Unterrichts in der Grundschule nicht zufriedenstellend beantwortet wird. Hinweise darauf geben die Ergebnisse der Analyse, deren Anwendbarkeit jedoch eine Herausforderung bedeutet. In einer umfänglichen Tabelle stellt Jäcklein-Kreis die Bewertung der analysierten Angebote dar und macht sie damit auch vergleichbar. Da diese Tabelle aufgrund der darin enthaltenen Fülle von Informationen nicht auf eine Buchseite passt, steht diese auch online als PDF-Datei zur Verfügung, was an sich eine positive Lösung ist. Allerdings fehlt bei der Grafik im Netz eine Legende, die die Verwendung der Farben erläutert, so dass diese nur gelesen werden kann, wenn das Buch daneben liegt. Insgesamt ist die Verwendung von Grafiken im Buch nicht sehr gelungen. Dies betrifft insbesondere diejenigen Abbildungen, die Ergebnisse differenziert und ‚materialgenau‘ darstellen und in denen pro Material eine eigene Farbe, das heißt ein anderer Grauton verwendet wird (z. B. Abb. 47). Diese Abbildungen enthalten eigentlich interessante Informationen, die der Grafik jedoch nicht zu entnehmen sind. Hier wäre es sinnvoller gewesen, auf die Abbildungen zu verzichten und die wichtigsten Ergebnisse im Text darzustellen.
Unter dem Strich liefert die Arbeit zum einen eine gründliche Einschätzung der Bedeutung von Medien in der Grundschule, indem sie die Ist-Situation beschreibt und daraus die entsprechenden Konsequenzen zieht. Zum anderen bietet sie einen fundierten Kriterienkatalog zur Einschätzung und Beurteilung medienpädagogischer Materialien und leistet dadurch einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung von Kindern im Grundschulalter bei der Entwicklung eines souveränen Medien- und Internetumgangs.
Susanne Eggert ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Forschung des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Ihre Schwerpunkte sind Medien in der Familie sowie Medien und Migration.
Susanne Eggert: Heimaterleben mit Medien
Wenn Menschen ihren Herkunftsort verlassen und sich an einem anderen Ort niederlassen, müssen sie vieles von dem zurücklassen, was für sie Heimat bedeutet. Medien können dazu beitragen, einen Teil dieser Heimat zu bewahren oder eine neue Heimat zu finden.Eggert, Susanne (2010). Medien im Integrationsprozess: Motor oder Bremse? Die Rolle der Medien bei der Integration von Heranwachsenden aus der ehemaligen Sowjetunion. München: kopaed.
Eggert, Susanne (2013). Gut hin – und nicht ganz weg. Wie Medien im Integrationsprozess unterstützen können. In: Hartung, Anja/Lauber, Achim/Reißmann, Wolfgang (Hrsg.), Das handelnde Subjekt und die Medienpädagogik. Festschrift für Bernd Schorb. München: kopaed,S. 187-195.
Hepp, Andreas/Bozdag, Cigdem/Suna, Laura (2011). Mediale Migranten. Mediatisierung und die kommunikative Vernetzung der Diaspora. Wiesbaden: VS Verlag.
Hugger, Kai-Uwe/Özcelik, Ferdal (2010). Interethnische Jugendgesellungen in Internet als essource. In: Hugger, Kai-Uwe (Hrsg.), Digitale Jugendkulturen. Wiesbaden: VS. S. 119-147.
Reutter, Jörg/Schindler, Daniel Artur/Schulz, Charlotte/Unterberger, Markus (2009). Heimatmedien und Medienheimat. Empirische Herleitung eines Modells zur Klassifizierungder Heimatmediennutzung durch Migranten. In: Zöllner, Oliver (Hrsg.), Medien, Migration, Identität. Migranten und ihre Mediennutzung. Drei Projektberichte aus der Urbanregion Stuttgart. Hochschule der Medien Stuttgart, S. 7-41.
www.opus.bsz-bw.de/hdms/volltexte/2012/718pdf/medien_migration_identitaet.pdf [Zugriff: 01.09.2014].
Schlör, Katrin (2012). „Wo is’n dein papa? – Im skype, ne?“ Doing family und intergenerative Medienbildung im Kontext von Multilokalität. In: merzWissenschaft, 56(6), S. 57-66.
Widmann, Marc (2014). Seemann, lass das Träumen. Mädchen Rum und Reeperbahn: Hamburgs Hafen lebt vom Mythos der Matrosen. In Wahrheit aber ist der Beruf knallhart. Diejenigen, die über die Weltmeere fahren, fühlen sich nicht selten wie auf einem Sklavenschiff. In: Süddeutsche Zeitung vom 26.08.2014, S. 3.
Zambonini, Gualtiero (2009). Medien und Integration. Der ARD-Weg: Vom »Gastarbeiter«-Programm zur Querschnittsaufgabe. In: ARD-Jahrbuch 2009, S. 87-94 www.ard.de/download/463500/ARD_Jahrbuch_09__Medien_und_Integration.pdf [Zugriff: 01.09.2014]
Susanne Eggert: Kinder und Online-Werbung
Das Internet ist auch schon für Grundschulkinder attraktiv. Zahlreiche Angebote wenden sich direkt an die Altersgruppe. Da das Internet auch ein kommerzieller Raum ist, stoßen sie bei Streifzügen durchs Netz immer wieder auf Werbung. Anne Schulze hat sich im Rahmen ihrer Dissertation „Internetwerbekompetenz von Kindern“ damit auseinandergesetzt. Seit 2013 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hans-Bredow-Institut, wo sie im Projekt „Kinder und (Online-)Werbung“ beschäftigt ist.
Susanne Eggert hat mit ihr darüber gesprochen, mit welchen Formen von Werbung Kinder im Netz konfrontiert werden und welche Strategien im Umgang mit Werbung sie haben.
Susanne Eggert: Klangraum Internet
Seit 2003 untersucht das Forschungsprojekt Medienkonvergenz Monitoring unter Leitung von Prof. Dr. Bernd Schorb (Universität Leipzig), gefördert von der SLM, mit Hilfe eines Panels die Aneignung des konvergenten Medienensembles durch 12- bis 19-Jährige. Aktueller Untersuchungsgegenstand war die Bedeutung des Internets für die Aneignung von Musik im Jugendalter. Zentrale Ergebnisse lauten: „CDs schon auch noch, aber eher online“ – Die Bedeutung von Musikangeboten im Internet hat in den letzten Jahren stark zugenommen, sodass sich die Nutzung auf den Online-PC als Musikabspielgerät verlagert. „Musik höre ich auf YouTube“ – Musik im Internet zu hören, heißt vor allem, Videoplattformen zu nutzen.
Hier stellen sich die Jugendlichen ‚ihre‘ Musik individuell zusammen. „Da schau ich dann auch mal, wie die Moderatoren so aussehen“ – Die Jugendlichen folgen den Hinweisen im UKW-Radio auf die sendereigenen Websites. Das Angebot im Internet ergänzt das klassische Radio. „Ich ziehe mir nur so Technomäßiges, weil man das besser schneiden kann“ – Vor dem Hintergrund neuer technischer Möglichkeiten vollzieht sich ein Wandel: Musik machen ist nunmehr auch Samplen und das Zusammenschneiden audiovisueller Sequenzen mit Hilfe professioneller Software. „So hab ich meine Musik immer dabei“ – Das Handy öffnet heute als mobile Schnittstelle das Tor zum Klangraum Internet, um zu jeder Zeit und an jedem Ort Musik zu genießen.
Die Studie ist abrufbar unter www.medienkonvergenz-monitoring.de
Susanne Eggert: Migration und Medien: Vernetzung und Partizipation
Deutschland schafft sich ab! lautet der Titel des Buches von Thilo Sarrazin, das im Herbst 2010 auf den Markt kam und noch vor seinem Erscheinen hohe Wellen schlug. Von der Sorge, dass in einigen Jahren Deutsch nicht mehr die Sprache der Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland sein könnte, ist darin die Rede, davon dass die Menschen nicht mehr von den Kirchenglocken der christlichen Kirchen geweckt werden könnten, sondern vom Rufen der Muezzine. Außerdem werden wir darauf hingewiesen, dass Integration eine Bringschuld sei und es ein Fehler war, in den 60er Jahren Arbeitsmigranten nach Deutschland zu holen – heute seien wir schlauer und würden die Fabriken ins Ausland verlagern. Komplett vermeiden lässt sich die Arbeitsmigration dadurch aber offensichtlich nicht.
Am 18./19.07.2011 war verschiedenen Zeitungen zu entnehmen, dass die Bundesagentur für Arbeit gezielt hochqualifizierte Arbeitslose aus Südeuropa anwerben möchte ... Migration ist hierzulande ein Thema, das auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert wird und das auch von Seiten der Wissenschaft unter die Lupe genommen wird. Mit der vorliegenden merz wollen auch wir uns wieder einmal in die Debatte einbringen. Ausgehend von der Tatsache, dass in vielen Ländern dieser Erde Menschen leben, die ihre Heimat verlassen haben, um an einem anderen Ort ein neues Leben zu beginnen – oder auch nur eine gewisse Zeit zu überbrücken, bis sie wieder zurückkehren können –, gehen die Autorinnen und Autoren der Frage nach, wie die Migrantinnen und Migranten die Medien dazu nutzen, einerseits Kontakte zu unterschiedlichen Gruppen zu knüpfen oder zu pflegen und andererseits an den Angeboten und Entwicklungen der Gesellschaft teilzuhaben, der sie sich jetzt – zeitweise oder auf Dauer – zuordnen und sich dadurch in dieser verorten. Den Auftakt machen Andreas Hepp, Cigdem Bozdag und Laura Sūna (Universität Bremen). Sie haben die kommunikative Vernetzung von Migrantinnen und Migranten marokkanischer, russischer und türkischer Herkunft untersucht und dabei festgestellt, dass die je individuelle Netzwerkarbeit auf unterschiedliche Migrationstypen zurückzuführen ist. Diese lassen sich als „herkunftsorientiert“, „ethnoorientiert“ und „weltorientiert“ bezeichnen. Auch die kommunikative Vernetzung der Untersuchungsgruppe kann als „Herkunftsvernetzung“ (zu diesem Netzwerk gehören in erster Linie Personen aus der Herkunftskultur), „bikulturelle Vernetzung“ (die Vernetzung zeichnet sich hauptsächlich durch Kontakte zu Personen aus der Herkunftskultur sowie zu Deutschen aus) und „transkulturelle Vernetzung“ (diese Netzwerke reichen über Länder- und Nationengrenzen hinweg) klassifiziert werden.
Es zeigte sich, dass „herkunftsorientierte“ Personen nicht notwendigerweise eine „Herkunftsvernetzung“ aufweisen, der „ethnoorientierte“ Typ sich nicht unbedingt „bikulturell“ vernetzt und die Vernetzung der „Weltorientierten“ nicht immer „transkulturell“ ist, allerdings ist dies verstärkt zu beobachten und unterstützt die jeweiligen Typen. Der Fokus des zweiten Artikels von Thanh Tam Nguyen richtet sich auf Musik. Nguyen, Absolventin an der Universität Leipzig und selber vietnamesischer Herkunft, erläutert die besondere Bedeutung vietnamesischer Musik für junge Migrantinnen und Migranten aus Vietnam. Vor allem in der ersten Zeit gibt ihnen die mitgebrachte Musik ein Gefühl von Zughörigkeit und Vertrautheit und hilft ihnen, sich ihrer Identität zu versichern. Darüber hinaus nutzen sie die Musik aber auch, um anderen ihr vietnamesisches Lebensgefühl und ein Stück ihrer Kultur zu vermitteln und so einen interkulturellen Dialog anzustoßen und sich in die Gesellschaft einzubringen. Wie Medien genutzt werden (müssen), um an gesellschaftlichen Angeboten und Vorgängen zu partizipieren, ist Gegenstand des dritten Schwerpunktbeitrags. Gesellschaftliche Partizipation wird auf drei Stufen beschrieben: erstens als interkultureller Austausch zwischen Gleichaltrigen. Diese „Partizipation im ‚Kleinen‘„ läuft besonders bei Heranwachsenden auch über – vor allem globalisierte – Medien(-angebote), die Gesprächsanlässe liefern und einen Austausch auf Augenhöhe ermöglichen. Als zweite Stufe, die erklommen werden muss, wird die „Organisation des privaten Alltags in der Gesellschaft“ beschrieben. Informationen über den örtlichen Nahverkehr, die Öffnungszeiten öffentlicher Einrichtungen, Veranstaltungshinweise et cetera lassen sich zwar auch auf anderen Wegen in Erfahrung bringen, weniger aufwändig ist es aber, dafür einen kurzen Blick ins Internet zu werfen. Um sich dort zurechtzufinden, ist es aber nötig – zumindest hierzulande – die Landessprache zu verstehen. Diese Hürde zu überwinden fällt vielen Menschen mit Migrationshintergrund schwer. Die dritte Stufe schließlich ist die „Partizipation an gesellschaftlichen Vorgängen“.
Hier spielen die digitalen Medien eine immer größere Rolle. Verschiedenen Untersuchungen lassen sich vorsichtige Hinweise darauf entnehmen, dass diese Entwicklung Menschen mit Migrationshintergrund neue Wege eröffnet. Partizipation mithilfe digitaler Medien ist auch das Thema des Artikels von Oliver Hinkelbein. Aus der Perspektive des „angewandten Ethnologen“, der das Projekt einerseits mitentwickelt hat, es andererseits auch durchführt, stellt er die Implementierung des Projektes Integration@Partizipation.NDS vor. Ziel dieses Projektes der Erwachsenenbildung ist es, Menschen mit Migrationshintergrund die notwendigen digitalen Kompetenzen zu vermitteln, die ihnen politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Partizipation ermöglichen. Den Abschluss des Schwerpunktthemas bildet ein Gespräch mit Tamer Ergün Yikici, Geschäftsführer des deutsch- und türkischsprachigen Radios Radyo Metropol FM. Vor zwölf Jahren hat er mit seinem Geschäftspartner das Radio für die deutschtürkische Community vor allem in Berlin gegründet, seither hat sich viel getan. Das Radio hat sich „mit der Zielgruppe entwickelt“. Das Ziel ist aber das Gleiche geblieben: Metropol FM will den Deutschtürken zeigen, dass sie hierher gehören und setzt dort an, wo diese Schwierigkeiten haben, sich mit der Gesellschaft zu identifizieren, lässt ihnen aber trotzdem ihre ‚emotionale Heimat‘. Unter dem Stichwort „Kultursensibilität“ macht er außerdem deutlich, wo die deutsche Gesellschaft im Hinblick auf ihre Migrantinnen und Migranten noch Nachholbedarf hat. Nun wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre, die ihnen hoffentlich Lust macht, sich auch weiterhin mit dem Thema zu beschäftigen.
Susanne Eggert: Mobile Medien – Eltern sind gefordert
Familienalltag ohne mobile Medien gibt es heute nicht mehr. Schon die Jüngsten dürfen ab und zu auf dem Familien- Tablet oder dem Smartphone der Eltern Fotos anschauen oder auch schon mal ein kleines Spielchen spielen. Dank der einfachen Bedienbarkeit der Touchscreens, gelingt es ihnen bald, hier etwas zu bewirken. Dass die Ergebnisse jedoch oft dem Zufall entspringen, weil die Kinder die Geräte aufgrund ihres motorischen, vor allem aber ihres kognitiven Entwicklungsstandes noch nicht zielgerichtet bedienen können, ist vielen Eltern nicht bewusst.
Die Frage, wie die Aneignung mobiler, digitaler Medien mit der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zusammenhängt, stand im Mittelpunkt einer Expertise, die 2016 am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis im Rahmen der Studie Mobile Medien in der Familie erarbeitet und unter dem Titel Grundlagen zur Medienerziehung in der Familie veröffentlicht wurde. Im empirischen Teil der Studie ging es darum herauszufinden, worin aus der Perspektive von Eltern und Fachkräften der Erziehungsberatung mit Blick auf mobile Medien die Herausforderungen in der elterlichen Medienerziehung liegen und an welchen Stellen und in welcher Form Eltern und Fachkräfte auf Unterstützung angewiesen sind.
Die Ergebnisse der Studie, die vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration gefördert wurde, stehen zum kostenfreien Download zur Verfügung und können darüber hinaus beim JFF – Institut für Medienpädagogik, Arnulfstr. 205, 80634 München angefordert werden.
Susanne Eggert: Partizipation mittels Medien?!
Veranstaltungen, Telefonnummern, örtliche Ansprechpartner, Jugendgruppen – solche Informationen findet man heute in vielen Fällen (bisweilen ausschließlich) online – Teilnahme am gesellschaftlichen Leben setzt Mediennutzung schon fast voraus. Doch was bedeutet das für Menschen, die neu in einem Land sind, erst immigriert sind und sich mit Sprache, Gepflogenheiten et cetera noch nicht gut auskennen? Ist die medienvermittelte Kommunikation eine Chance, um früher oder stärker an der ‚neuen‘ Gesellschaft zu partizipieren oder wirft dies neue Probleme auf?
Literatur
ARD/ZDF-Medienkommission (2008). Migranten und Medien 2007. Ergebnisse einer repräsentativen Studie der ARD/ZDF-Medienkommission. www.unternehmen. zdf.de/uploads/media/Migranten_und_Medien_2007_-_Handout_neu.pdf [Zugriff: 26.07.2011]
Bucher, Priska/Bonfadelli, Heinz (2007). Mediennutzung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Schweiz. In: Bonfadelli, Heinz/Moser, Heinz (Hrsg.), Medien und Migration. Europa als multikultureller Raum? Wiesbaden: VS-Verlag, S. 119-145.
Delgado, Manuel J. (1972). Die „Gastarbeiter“ in der Presse. Eine inhaltsanalytische Studie. Opladen: Leske.Eggert, Susanne (2010). Medien im Integrationsprozess: Motor oder Bremse? Die Rolle der Medien bei der Integration von Heranwachsenden aus der ehemaligen Sowjetunion. München: kopaed.
Geißler, Rainer/Pöttker, Horst (2006). Mediale Integration von Migranten. Ein Problemaufriss. In: Dies. (Hrsg.), Integration durch Massenmedien. Medien und Migration im internationalen Vergleich. Bielefeld: transcript, S. 13-75.
Hepp, Andreas/Bozdag, Cigdem/Suna, Laura (2011). Mediale Migranten: Mediatisierung und die kommunikative Vernetzung der Diaspora. Wiesbaden: VS-Verlag.
Hermann, Thomas/Hanetseder, Christa (2007). Jugendliche mit Migrationshintergrund: heimatliche, lokale und globale Verortungen. In: Bonfadelli, Heinz/Moser, Heinz (Hrsg.), Medien und Migration. Europa als multikultureller Raum? Wiesbaden: VS-Verlag, S. 237-271.
Hugger, Kai-Uwe (2009). Junge Migranten online. Suche nach sozialer Anerkennung und Vergewisserung nationaler Zugehörigkeit. Wiesbaden: VS Verlag.Katz, Vikki (2010). How Children of immigrants Use Media to Connect Their Families to the Community. In: Journal of Children and Media, 4: 3, pp. 298-315.
Kissau, Kathrin (2008a). Das Integrationspotenzial des Internet für Migranten. Wiesbaden: VS-Verlag.Kissau, Kathrin (2008b). Internetnutzung von Migranten – Ein Weg zur Integration? In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte, 39/2008, Bonn, S. 29-34.
Lünenborg, Margreth/Fritsche, Katharina/Bach, Annika (2011). Migrantinnen in den Medien. Darstellungen in der Presse und ihre Rezeption. Bielefeld: transcript. Mansel, Jürgen/Spaiser, Viktoria: Befragung von Jugendlichen, Institut für interdisziplinäre Konflikt-/Gewaltforschung, Universität Bielefeld, Dezember 2009-2010 (unveröffentlicht). www.digitale-chancen.de/content/presse/stories.cfm/key.223/key2.1 [Zugriff: 18.07.2011]
Rydin, Ingegerd/Sjöberg, Ulrika (Eds.) (2008). Mediated Crossroads: Identity, Youth Culture and Ethnicity: Theoretical and Methodological Challenges. Göteborg: Nordicom.
Susanne Eggert: Vergessen werden wir die Eindrücke nicht so schnell
Etwas ist anders und zwar nicht nur, was die 'Ausmaße' der Terroanschläge am 11.September 2001 betrifft. Auch die Art, wie die Medien sich mit den Ereignissen auseinadnergesetzt haben, bzw. dies immer noch tun, ist in vielerlei Hinsicht nicht vergleichbar mit ähnlichen Situationen in der Vergangenheit. "Ähnliche Situationen", damit sind zum Beispiel Katastrophen wie das Erdbeben in der Türkei im vergangenen Jahr gemeint, bei dem Zigtausende von Menschen ums Leben kamen und Hunderttausende über Nacht kein festes Dach über dem Kopf mehr hatten und plötzlich von Seuchen bedroht waren, die man längst unter Kontrolle zu haben glaubte. Und es damit kriegerische Auseinandersetzungen wie in Ex-Jugoslawien oder der Golfkrieg gemeint.Einige Punkte, die aus medienpädagogischem Blickwinkel überdenkenswert sind:- Am auffälligsten war wohl die Totalität der Berichterstattung über mehere Tage hinweg. Im Fernsehen folgte eine Sondersendung der anderen. Unterhaltungsprogramme, die sonst als Institutionen gelten, an denen niemand rütteln möchte, wie die "Harald-Schmidt-Show", wurden ausgesetzt. Der Strom an Interviews mit Experten, Betroffenen und Hilfskräften in Fernsehen und Radio riss nicht ab, und auch die zeitungen und das Internet lannten kein anderes Thema mehr.
Selbst wenn man es gewollt hätte, gab es keine Möglichkeit, der Informationsflut zu entkommen - auch nicht für Kinder.- Zum ersten Mal erlebten die Zuschauer vor dem Bildschirm eine reale Katastrophe 'live'. Live-Berichterstattung von Katastrophenorten hat es auch schon früher gegeben, sei es aus Überschwemmungs- oder Erdbebengebieten, sei es von Kriegsschauplätzen, an denen gefallene Angehörige beklagt wurden. Doch es waren immer die Folgen eines Geschehens, mit denen man konfrontiert wurde, niemals aber das Ereignis selbst. Diesmal waren wir von Anfang an dabei. Und die Bilder von den Flugzeugen, die in die Gedächtnisse eingebrannt. Ist das ein Grund dafür, dass das Entsetzen so groß war?- Rund um die Uhr bis spät in die Nacht gingen am 11- September immer wieder die gleichen Bilder von den einstürzenden Türmen des World Trade Centers sowie von Menschen, die voll Angst und Schrecken um ihr Leben liefen, über den Bildschrim. Im Vordergrund versuchten Journalisten Erklärugen für das, was geschehen war, abzuliefern, Meinungen dazu, was nun zu tun sei, einzufangen, im Hintergrund aber immer wieder dieselben Aufnahmen. Fragen drängen sich auf: Welchen Grund hatte es, dass diese Bilder immer wieder gezeigt wurden? Lag es daran, dass keine anderen passenden Bilder verfügbar waren oder steckte eine andere Überlegung dahinter? Welche Reaktionen wurden damit bei den Zuschauerinnen und Zuschauern vor den Bildschirmen ausgelöst? So viel ist sicher: Vergessen werden wir diese Eidrücke ihct so schnell.- Sehr schnell nach den Anschlägen wurde in den Medien die Frage laut, wie wohl Kinder mit dem Geschehen umgehen und wie man sie bei der Verarbeitung dieser Informationen unterstützen könnte.
Im Gegensatz zu früheren Ereignissen bestand kein Zweifel daran, dass sie mitbekommen hatten, was geschehen war, und dass dies Ängste und Unsicherheiten bei ihnen auslösen musste, mit denen sie nicht allein gelassen werden durften. Damit zeigten die Medien ihrem jüngsten Publikum gegenüber eine Sensibilität, wie das bisher nicht der Fall war.- Ohne lange zu zögern, nahmen sich manche Programmanbieter auch ihrer heranwachsenden Zuschauer an. Am schnellsten reagierte der KI.KA. Mit klaren Worten und ohne das Grauen durch unnötiges Bildmaterial oder spekulative Kommentare zu strapazieren, wurde erklärt, was geschehen war. Es wurden Experten hinzugezogen, wo dies sinnvoll war, den Kindern wurden Räume zum Reden und zum Austausch geöffnet, es wurde eine Hotline eingerichtet und auf den Internetseiten des KI.KA gab es die Möglichkeit, seine Überlegungen, Fragen und Ängste per E-mail loszuwerden. Die Angebote wurden von den Kindern angenommen. Aber der KI.KA war nicht der einzige Sender, der mit seinem Programm auf die Kinder und Jugendlichen reagierte. Als Beispiel soll noch VIVA genannt werden, denn dort wurde ganz abgeschaltet und wenige Tage später mit dem Publikum darüber diskutiert, wie man weitermachen soll.
Der 11. September liegt nun schon einige Wochen zurück, und der erste Schrecken hat sich gelegt. Aber es grassiert immer noch eine diffuse Angst, denn mit den Terroranschöägen allein ist es ja nicht vorbei. Die militärischen Vergeltungsschläge in Afghanistan mit allen Begleiterscheinungen eines Krieges, die Anschläge mit Milzbrandregen, die Aktivitäten unzähliger Trittbrettfahrer bestimen die Nachrichten. Für medienpädagogisches Denken und hendeln bedeutet das, dass es an der Zeit ist, sich wieder einmal intensiv mit der Medienberichterstattung auseinander zu setzen. Zwei Aspekte sind dabei von besonderer Relevanz:- Der Aspekt der Analyse. Anlässe hierfür sind z.B. die penetrante Wiederholung von TV-Bildern, teilweise unangemessen als Kunstobjekte verfremdet, oder die Hysterie und Angstmacherei durch die Medien.- Der Aspekt, wie Kinder und Jugendliche mit derartigen Informationen umgehen und wie sie dabei sinnvoll unterstützt werden können.
Susanne Eggert: Bridge-IT – Brücken bauen mit dem Internet
Strahlender Sonnenschein an einem wunderschönen Frühlingsmorgen – so begrüßt Barcelona die über 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die aus 16 Ländern zur Abschlusskonferenz des von der Europäischen Kommission geförderten Projekts Bridge- IT am 10. und 11. März 2011 angereist sind. Bridge-IT ist ein Netzwerk, dem mehr als 20 Partnerinstitutionen in Europa angehören, die gemeinsam das Ziel verfolgen, die gesellschaftliche Teilhabe von Immigrantinnen und Immigranten und ethnischen Minderheiten in Europa mithilfe der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), voranzubringen (www.bridge-it-net.en).
Die zweijährige Projektarbeit war bestimmt von drei Schwerpunktthemen: Bildung, Arbeitsmarktintegration und Partizipation am öffentlichen Leben. Vor diesem Hintergrund entstand ein Booklet mit goodpractice-Beispielen aus den beteiligten Ländern. Darüber hinaus wurden Guidelines (Richtlinien) erarbeitet, wie IKT zur Förderung von sozialer und digitaler Inklusion und kultureller Verschiedenheit genutzt werden kann.Die Abschlusskonferenz stand unter dem Motto „ICT for Social Inclusion and Cultural Diversity!“ Networking und Erfahrungsaustausch standen insgesamt im Mittelpunkt der Konferenz und wurden von den Teilnehmenden auch ausgiebig genutzt. In mehreren Arbeitsgruppen wurden die Schwerpunktthemen weiter diskutiert und Erfahrungen ausgetauscht.Daneben stand am Ende des ersten Abends ein Social Dinner auf dem Programm, bei dem Kontakte geknüpft und vertieft werden konnten.
Am darauffolgenden Tag gab es die Gelegenheit, auf einem ‚Markt der Möglichkeiten’ die eigenen Projekte und Initiativen zu präsentieren.Die Konferenz markierte nicht nur den Endpunkt des Projekts, sondern gab auch Anregungen für neue Projekte und mögliche Kooperationen. Es wurde deutlich, wo Handlungsbedarf besteht,aber auch wo es aus Sicht der Forschung noch Leerstellen gibt, die es zu bearbeiten gilt.
Susanne Eggert und Helga Theunert: Medien im Alltag von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund
Ein beachtlicher Teil der in Deutschland lebenden Menschen, etwa 9% der Gesamtbevölkerung, hat eine nicht-deutsche Herkunft. Bunt und sehr heterogen sind die hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund. „Arbeitsmigranten, ihre Kinder und Kindeskinder, deutsche Spätaussiedler aus den osteuropäischen Ländern, Asylanten, Asylsuchende und Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge und EU-Ausländer, die im Rahmen der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union nach Deutschland kommen, sie alle bilden eine heterogene Population, die als Deutsche oder Nicht-Deutsche, als lange hier Lebende, vielleicht hier Geborene oder gerade erst Eingewanderte sehr unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, und die auch hinsichtlich ihres (ausländer-)rechtlichen Status nicht vergleichbar sind.“ (Stellungnahme der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung 2000, S. 149)
Balancieren zwischen den KulturenDie verschiedenen Migrantengruppen bringen – neben spezifischen individuellen und kollektiven Erfahrungen, die beispielsweise bei Kriegsflüchtlingen oder Asylsuchenden oftmals drastisch oder traumatisch sind – eine gewachsene kulturelle Identität mit. Auch wenn sie schon lange hier leben, auch wenn die Kinder und Enkelkinder schon hier geboren sind, Religion, Normen und Wertvorstellungen, Sitten und Gebräuche der Herkunftskultur haben vielfach über Generationen Bestand und spielen auch im Alltag derjenigen eine – mehr oder weniger große – Rolle, die sie nur noch rudimentär oder gar nicht mehr aus eigener Anschauung und Erfahrung kennen. Je größer und vor allem je augenfälliger die Entfernung zur hiesigen Kultur und Lebensweise ist, desto fremder erscheinen die hier lebenden Migrantengruppen.
Ein 14-Jähriger bringt es treffend auf den Punkt: „Wenn ein Schwede nach Deutschland kommt, dann sagt man irgendwie ‚hallo’, und wenn jetzt irgendwie ein Türke oder ein Russe kommt, dann hat man natürlich schon so’n komischen Blick oder man denkt sich schon so’n bisschen was dabei.“ Auch die schwedische Kultur ist anders als die deutsche, aber die Unterschiede sind nicht so groß und nicht unmittelbar an Äußerlichkeiten ersichtlich. Die ‚kopftuchtragende Türkin’ hingegen fällt auf. Und ihre Herkunftskultur differiert erheblich von der deutschen Lebensweise, jedenfalls dann, wenn sie von moslemischer Religion und von traditionellen Familienstrukturen, Rollenverteilungen und Wertvorstellungen geprägt ist. Das jedoch gilt längst nicht mehr für alle Türkinnen, weder für die in der Türkei, noch für die in Deutschland lebenden. Die ‚kopftuchtragende Türkin’, die in einer von Männern dominierten Gesellschaft in Abhängigkeit lebt, ist nur ein Bild türkischer Kultur und Lebensweise, das sich jedoch – nicht zuletzt aufgrund häufiger medialer Präsenz – hartnäckig als das Bild des Ganzen zu behaupten versucht...( merz 2002/05, S. 289 - 300 )
Bernd Schorb, Susanne Eggert: Editorial
E-Learning ist heute aus keinem pädagogischen Lehrraum mehr wegzudenken. In allen Bereichen von Schule über die berufliche bis zur universitären Ausbildung und besonders im Bereich der beruflichen Weiterbildung und Schulung hat es sich etabliert. Allerdings, unter E-Learning wird sehr häufig die bloße Multiplikation von PowerPoint-Präsentationen erfasst. Eine oft schon erprobte Lehreinheit wird visualisiert, statt mit Plastikfolien mit PowerPoint als dem roten Faden eines Vortrages. Die elektronischen Folien werden anschließend für die Nachbereitung im Netz belassen. Auch die Information – manches Mal auch Auflockerung – mittels auditiver Materialien wie Interviews und Vorträgen sowie visueller Grafiken, Fotografien und Videos in Curricula und Seminaren wird als E-Learning bezeichnet. Ebenso häufig ist E-Learning nichts anderes als der Ersatz von schriftlichen Materialien durch digitale. An den Universitäten beispielsweise nutzen die Lehrenden die vorhandenen Lernplattformen, um ihren prüfungsrelevanten Lehrstoff zu lagern und abrufbar zu machen: ihr Vorlesungsskript und die Pflichtliteratur. Gemeinsam ist den meisten Vorhaben, dass sie das Etikett elektronisches Lernen nutzen, aber keine Konzeption oder gar ein ausgearbeitetes Modell zugrundegelegt ist. Eher selten finden sich bis heute durchgestaltete, technisch und didaktisch fundierte Projekte, die sich bereits bewährt haben, sich einer ständigen Evaluation unterziehen und sich als Vorbilder für andere eignen.
Die Gründe dafür, dass es heute viele – zumindest nominelle – E-Learning Projekte gibt, sind vielfältig. Zum einen sind in den letzten zwanzig Jahren gezielt öffentliche Mittel, aber auch Zuwendungen von Stiftungen wie beispielsweise der VW-Stiftung in die Entwicklung von Modellen des E-Learning geflossen und sie fließen noch immer. Die vielen Modelle, die in Aus- und Weiterbildung finanziert wurden, haben sich in der Weise niedergeschlagen, dass heute fast flächendeckend Lernplattformen genutzt werden. Zugleich hat die Etablierung von E-Learning Plattformen bei den Bildungseinrichtungen zu einem Ausbau der Infrastrukturen und neuen Arbeitsbereichen geführt. Die Anbieter kommerzieller Plattformen verdienen gut am E-Learning Boom und die Anpassung, Betreuung und Weiterentwicklung der zum Einsatz kommenden Software braucht sachkundiges Personal.So hat jede Universität heute einen eigenen Bereich, der mit unterschiedlichen Benennungen, die diversen E-Learning Aktivitäten berät und mehr oder minder auch betreut. Die notwendige Betreuung ist nur für den technischen Betrieb von Plattformen gewährleistet, sie sorgt dafür, dass sie ‚funktionieren‘. Aber auch hier gibt es, je nach Finanzausstattung noch viele offene Wünsche. Die kommerziellen E-Learning Plattformen sind häufig nicht auf eine kooperative, offene und flexible Gestaltung des Lehr-Lernprozesses ausgerichtet und haben mangelhafte Mitgestaltungsmöglichkeiten für die Lernenden, außerdem sind sie teuer. Die frei zugänglichen, nichtkommerziellen Plattformen werden oft nicht ausreichend gewartet und/oder überfordern die technisch-organisatorischen Kapazitäten der Einrichtungen, die die E-Learning Anwendungen betreuen. Drei besondere Problembereiche sind hier zu nennen: Bedienung, Interaktivität und Einbindung anderer Medien. Die Bedienung der Lernplattformen folgt oft einer eigenen Logik, in die sich die Nutzenden erst einarbeiten müssen.
Das hat zur Folge, dass die betreuenden Bereiche damit ausgelastet sind, Lehrende und Lernende in die Nutzung der Plattformen einzuweisen und ihnen die Zeit zur Wartung und Weiterentwicklung der Plattformen fehlt. Damit direkt in Verbindung steht die mangelnde Interaktivität vieler Plattformen. Die interaktiven Möglichkeiten werden nicht genutzt, weil die Schwierigkeiten in der Bedienung und vor allem die komplizierte Struktur der Wege und Möglichkeiten die Nutzenden überfordern. Auch technische Mängel mancher Plattformen wie die Unmöglichkeit, Dateiordner, Filme oder Sprache einzubinden, verhindern eine interaktiv gestaltende Nutzung der Angebote. Das Hauptproblem aber ist die Didaktik. Bei der Einführung neuer Medien in Bildungseinrichtungen hat sich schon immer eine Diskrepanz aufgetan zwischen dem technischen Aufwand und der pädagogischen Qualität der Nutzung der Technik. Die Geschichte des programmierten Lernens, das schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Unterrichtung der Lernenden mittels Medien effektivieren und optimieren sollte, zeigt, dass zwar Staat und Wirtschaft Mittel für die Hardware zur Verfügung gestellt haben, dass aber pädagogische Konzepte für deren Einsatz ebenso fehlten, wie die Motivation der Lehrenden die Medientechniken zu nutzen.
Programmiertes Lernen beispielsweise wurde in aufwändigen Modellprojekten finanziell gefördert, fand aber nie Eingang in die Wirklichkeit des institutionalisierten Lehrens und Lernens. Video-und Sprachlabore, von den späten 60-er bis in die 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts en vogue, sind heute weitestgehend verschwunden. Selbst E-Learning war über mindestens ein Jahrzehnt an den Universitäten ein aufwändiger Experimentalbereich einzelner Projekte, der zwar keinerlei Breitenwirkung hatte, aber gut finanziert war und nützlich für den Ruf der Hochschule als modern und aufgeschlossen. Der pädagogisch nicht ausreichend fundierte Einsatz von E-Learning liegt, neben den bereits benannten technisch-organisatorischen Problemen, darin begründet, dass es an mediendidaktischen Konzepten mangelt. E-Learning unterscheidet sich von anderen medialen Optimierungstechniken dadurch, dass nahezu alle Funktionen, die die Lernplattformen anbieten, den Lernenden prinzipiell bekannt sind: Lesen und Schreiben von Texten, Abrufen von audiovisuellen Medien, Kommunikation mit anderen, Interaktives Handeln bei gemeinsamen Interessen, Präsentation von eigenen Werken. Alle diese Spezifika der Plattformen finden sich auch auf den Netzplattformen, die dem sozialen Austausch oder der Unterhaltung dienen. Allerdings orientieren sich die Bedienungsvorgaben hier im Gegensatz zu den Lernplattformen an den Interessen der Nutzenden an Kommunikation, Information und Unterhaltung. Die gewünschten Funktionen sind für die Nutzenden einfach und schnell zu entdecken und zu bedienen. Die Lernplattformen richteten sich bislang weniger an den Interessen ihrer Nutzenden aus als an den technischen Möglichkeiten, vorgestaltet portioniertes Wissen zu verbreiten. Zu heutigen E-Learning Angeboten werden Instruktionstechniken, theoretisch orientiert an Modellen der Kognitionspsychologie angeboten. E-Learning Modelle zeichneten (und zeichnen sich häufig noch immer) durch die Aufbereitung und Umsetzung von Lehrstoffen aus, wobei der Inhalt des Gelehrten ebenso wie die Voraussetzungen der Lernenden von sekundärer Bedeutung sind. In den letzten Jahren jedoch gerieten neben der Technik und bildungstechnologischen Lerntheorien auch andere Theorien der Mediendidaktik ins Blickfeld. Eine der heute (wieder) diskutierten Theorien ist die des ‚Instructional Design‘, die zwar schon in den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts von Gagné aufgestellt wurde, sich zwar am Lernstoff orientiert, aber sich zumindest in ihrer Methodik an Empirie orientiert, also statt bloß Vorgaben zu machen, deren Effektivität überprüft. Weiter entwickelt wird dieser Ansatz in ‚Design based‘ Modellen, die die didaktischen Innovationen im Prozess des Lehrens und Lernens entwickeln und evaluieren. Überraschend ist, dass die nahezu vergessene Handlungs- und Aktionsforschung im Kontext elektronischen Lernens wieder diskutiert wird. Sie ist auf dem Umweg über die USA und die Diskussion um den Ansatz des ‚Design based research‘ in die Debatte um die Didaktik des E-Learnings einbezogen worden. Insbesondere die Beteiligung der Lernenden an der Gestaltung der vermittelten Informationen und der Prozesscharakter, der Lehren und Lernen als Ermöglichung, nicht als geschlossene Vorgabe sieht, werden hier herausgestellt.
In diesen Ansätzen einer Mediendidaktik als Strukturierungsangebot für einen offenen Lernprozess werden auch die Erfahrungen von Pädagoginnen und Pädagogen einbezogen, die gehofft hatten, mittels der Techniken des E-Learnings von der einseitigen Vermittlung reinen Lehrstoffs entlastet zu werden und sich mehr den Möglichkeiten des handelnden, exemplarischen und sozialen Lernens widmen zu können. Gerade die Frage der sozialen Einbettung des Lernens ist ein nicht gelöstes Desiderat des E-Learnings. Wissensaneignung ist ein sozialer Prozess ist, der vor allem dort, wo Wissen vertieft und in Zusammenhängen erfasst werden soll, der unmittelbaren Kommunikation bedarf und nicht nur auf elektronischem Wege vermittelt werden kann, weil die Kommunikation grundsätzlich einseitig durch die technischen Bedingungen der Lehrplattformen bestimmt werden und die Möglichkeiten sozialen Lernens marginal sind. Zwar sind die meisten E-Learning Angebote heute zugleich solche des ‚Blended Learning‘, das heißt, dass eher anonymes elektronisches Lernen abwechselt mit Lernen in realen Seminargruppen, die es erlauben, alle positiven Möglichkeiten der personalen Kommunikation in den Lehr-Lernprozess einzubeziehen. Aber solange im Rahmen instruktionstechnischer Modelle des E-Learnings unter Gruppenarbeit die kollektive Ausrichtung einer Gruppe Lernender auf den identischen Lehrstoff und dessen kollektiver Messung in Klausuren verstanden wurde, konnte soziales Lernen nicht als Problem oder gar Notwendigkeit entdeckt werden. Mit der Einsicht, dass mittels Instruktionstechnologie nur Wissensbestände distribuiert und die subjektive Speicherung gemessen, aber keine komplexen Denkvorgänge gefördert werden, wurden Tore für die Überwindung dieses Mangels geöffnet. Wenngleich die meisten aktuellen Modelle des E-Learnings noch dem instruktionalen Einweglernen verpflichtet sind, so geht die Entwicklung doch dahin, die vorhandenen technischen Möglichkeiten den Notwendigkeiten eines sozial orientierten Lernens anzupassen, das heißt, handelndes und gestaltendes Lernen zu ermöglichen. Eine erfolgversprechende Entwicklung geht dahin, Lernplattformen mit den technischen und didaktischen Mitteln auszurüsten, die es erlauben, den Lehr-Lernprozess zu einem gemeinsamen von Lehrenden und Lernenden zu machen. Sollen Lernplattformen akzeptiert werden, so sollten sie sich der Fähigkeiten bedienen, die sich die Menschen im Umgang mit dem Netz angeeignet haben. Hierzu gehört zum Beispiel die Möglichkeit, Themen und Probleme zu vertiefen, medial zu gestalten und sie über die Plattformen den Mitlernenden anzubieten und einen kritischen Diskurs über das Gelernte zu führen.
Vor 14 Jahren zu Beginn der Debatte um elektronisches Lernen habe ich am Beispiel virtueller Seminare in merz Postulate für E-Learning formuliert, die sich gegen die Verabsolutierung elektronischer Lernangebote wenden, aber sie sehr wohl als Ergänzung und Weiterentwicklung des Lehrens und Lernens sehen: „Sieht man sie nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung der konventionellen Ausbildung und legt man vor allem Wert auf eine entsprechende lerntheoretische Fundierung, didaktische Gestaltung und hochschuldidaktische Einbettung […], so könnten sie geeignet sein, […] Sachverhalte […] differenziert aufbereitet und veranschaulicht […] orts- und zeitunabhängig weiterzugeben.“ Die vorliegenden Artikel zeigen, welche vielfältigen Wege E-Learning heute geht und wie weit es gekommen ist. Karla Spendrin setzt sich in ihrem Beitrag mit dem allgemeindidaktischen Berliner Modell und dessen Bedeutung für das E-Learning auseinander. Das Berliner Modell, das in den 60-er Jahren im Hinblick auf schulische Unterrichtssituationen entwickelt wurde, erläutert, welche Faktoren auf Lehr- und Lernprozesse einwirken und wie diese jeweils zusammenhängen. Da E-Learning nicht nur im schulischen Kontext angesiedelt ist, muss das Berliner Modell im Hinblick auf alle gestalteten Lehr- und Lernprozesse erweitert werden. Julia Glade und Anett Hübner greifen sich hier das Beispiel Hochschule heraus. Die zunehmende Bedeutung des E-Learnings ist hier nicht zu übersehen. Der richtige Weg, Online- und Präsenzlernen zu verbinden, bedeutet aber oftmals (noch) eine Herausforderung. Glade und Hübner zeigen, dass es hier vor allem auf didaktische Überlegungen ankommt. Anhand ihrer Erfahrungen aus dem E-Learning Projekt an der Universität Leipzig haben sie Handlungsanleitungen für die Konzeption und Durchführung von Blended Learning-Szenarien entwickelt.
Dass E-Learning auch schon in der voruniversitären Bildung ‚in der Schule‘ seinen Platz hat, zeigt Jochen Hettinger. Er macht allerdings auch deutlich, dass „E-Learning im Sinne des Lehrens und Lernens mit Hilfe von Lernmanagementsystemen“ für die Schule zu eng gefasst ist. Um „das Potenzial der digitalen Medien für Schule zu entfalten und zu nutzen“ stellt er das Konzept des ‚mediengestützten Lernraums Schule‘ vor, dessen Ziel es ist, pädagogisch strukturierte Handlungs- und Erfahrungsräume zu schaffen. Weniger bestimmte Strukturen als vielmehr besondere Zielgruppen hat Christian Pfeffer-Hoffmann im Blick. Pfeffer-Hoffmann ist seit vielen Jahren in Forschungs- und Bildungsprojekten für bildungsbenachteiligte Zielgruppen engagiert. Menschen, die in ihrem Lernen durch Behinderung, Lernschwächen, Sprachschwierigkeiten oder den beschränkten Zugang zu Lernangeboten (zum Beispiel Menschen im Strafvollzug) eingeschränkt sind, werden auch im Hinblick auf die Entwicklung von Online-Lernangeboten bisher am wenigsten berücksichtigt. Dabei stecken im online-basierten Lernen gerade für diese Menschen immense Potenziale. Pfeffer-Hoffmann stellt einige herausragende Angebote vor und erläutert außerdem, warum die Verbreitung von Social Media einen „Quantensprung im Zugang zu digitalen Lernangeboten“ für bildungsbenachteiligte Zielgruppen bedeuten kann. Abschließend stellt Martin Ebner die ganz grundsätzliche Frage, ob die Technologie des E-Learnings überhaupt sinnvoll und notwendig ist, wenn es um eine Weiterentwicklung des Bildungsbereiches geht.
Die Antwort ist eine positive. Allerdings nur dann, wenn Lehrende und Lernende hinreichend medienkompetent sind, um sich die Möglichkeiten der Medien von heute zunutze zu machen und zukünftigen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen sind. Ergänzt werden die inhaltichen Überlegungen durch die Erläuterungen von drei Stichworten, die in der Diskussion um E-Learning immer wieder fallen: Julia Glade stellt Open Educational Resources(OER) vor, Karla Spendrin Massive Open Online Courses (MOOCs) und Anett Hübner stellt dar, warum Lernplattformen trotz Web 2.o und Social Net nach wie vor sinnvoll sind. E-Learning ist zwar schon seit einiger Zeit in aller Munde. Was genau diese Form des Lehrens und Lernens aber bedeutet, welche Herausforderungen damit verbunden sind und welcher Voraussetzungen es bedarf, dass E-Learning einen Mehrwert hat, ist meistens nicht so ganz klar. Wir möchten mit dieser merz einige Antworten liefern, vor allem aber dazu anregen, die Entwicklung des E-Learnings kritisch zu verfolgen.
Andreas Lange und Susanne Eggert: Medienaneignung und Aufwachsen im ersten Lebensjahrzehnt
„Die aktuelle Ausgabe von merzWissenschaft nimmt die Wechselbeziehungen zwischen den Bedingungen des Aufwachsens und aktuellen medialen Entwicklungen in den Blick. Im Fokus stehen dabei Prozesse der Medienaneignung im ersten Lebensjahrzehnt.“ So steht es im Call for Papers für die vorliegende Fachpublikation. Die Bedeutung der Medien und medialen Entwicklungen im Aufwachsen der jüngsten Mitglieder der Gesellschaft beschäftigt die Medienpädagogik und benachbarte Disziplinen schon seit einiger Zeit. Dennoch gibt es zu diesem Thema bislang noch wenig gesichertes Wissen. Angela Tillmann, Sandra Fleischer und Kai-Uwe Hugger haben mit dem 2014 erschienen Handbuch Kinder und Medien einen strukturellen Überblick über den aktuellen theoretischen und empirischen Forschungsstand herausgegeben. Aber auch hier ist die jüngste Zielgruppe nur sehr schwach vertreten. merz hat mit der zweiten Ausgabe in diesem Jahr den Versuch unternommen, die Altersspanne der frühen und mittleren Kindheit aus medienpädagogischer Perspektive in den Fokus zu nehmen (merz 2/2015 Medien und Kindheit) und zeigt verschiedene Ansatzpunkte in der medienpädagogischen Forschung und Praxis. Mit merzWissenschaft wurde das Spektrum noch einmal geöffnet für den Blick anderer Forschungsdisziplinen auf das Feld Medienaneignung und Aufwachsen im ersten Lebensjahrzehnt. Die zügig voranschreitende Mediatisierung der Lebenswelten hält sowohl die davon betroffenen Akteurinnen und Akteure als auch die Forschung und die Theoriebildung auf Trab. Diese Beschleunigung und das permanente Gefühl hinterher zu hecheln dürfen aber nicht dazu verführen, den Kopf in den Sand zu stecken und die Entwicklungen als solche zu notieren, ohne sie zu analysieren und zu evaluieren. Das breite Spektrum der Beiträge zu dieser Ausgabe von merzWissenschaft qualifiziert sich dadurch, dass einerseits aktuelle mediale Entwicklungen aufgegriffen und andererseits konzeptionelle und theoretische Deutungsversuche vorgelegt werden.
Von Mediennutzung bis Kinderglück
In ihrer Auswertung des Medienzusatzmoduls im Rahmen des DJI-Surveys Aufwachsen in Deutschland konzentrieren sich Alexander Grobbin und Christine Feil auf die Eltern von Kindern im Klein-, Vorschul- und Grundschulalter. In ihrem Beitrag Informationsbedarf von Müttern und Vätern im Kontext der Internetnutzung von Klein-, Vor- und Grundschulkindern wird deutlich, dass Eltern heute herausgefordert sind, die mit den technologischen Innovationen einhergehenden sozialen und persönlichen Implikationen praktisch im Alltag zu bearbeiten, was insbesondere auch heißt, sich mit Fragen des Kinder- und Jugendschutzes auseinanderzusetzen. Aus den Daten geht hervor, dass Eltern auch der Jüngsten die digitalen und mobilen Medien selbstverständlich in ihren Alltag einbinden. Aber sie sind in großem Ausmaß bemüht, die Kinder im genannten Altersbereich im Internet persönlich zu begleiten. Auch in Haushalten Alleinerziehender gehen Kinder selten oder nie alleine ins Internet. Dabei werden in der überwiegenden Anzahl der Familien Regeln betreffend der Inhalte und der Nutzungsdauer festgelegt. Bemerkenswert ist die größere Offenheit der Väter, das Internet als Erziehungsthema anzusehen, was auf eine stärker eingeschätzte eigene Internetkompetenz zurückgeführt werden kann. Die Relation familialer und institutioneller Medienerziehung ist dadurch geprägt, dass die Eltern die Kindertagesstätten nicht als Ort der zusätzlichen Einführung in den Mediengebrauch und der entsprechenden Begleitung ansehen. Das ändert sich entscheidend mit dem Schuleintritt. Schule soll aus Sicht der Eltern ihren Beitrag zum Bildungsbereich Medien leisten. Darüber hinaus wünschen sich Eltern insgesamt vor allem direkt umsetzbare Informationen zu den Kinderschutzeinstellungen. Etwas weniger ausgeprägt ist das Informationsbedürfnis bezüglich kindgerechter Internetseiten und Apps. Die neuen Möglichkeiten des Internets und der Internetapplikationen stellen ein Werkzeug zur Selbstermächtigung dar. In der frühen Kindheit werden beispielsweise mit einem Wischen über oder Tippen auf das Tablet Bilder und andere Kreationen möglich. Dass aus dieser Selbstermächtigung auch eine Förderung der positiven Eltern-Kind-Interaktionen entstehen kann, thematisiert Sandra Michaelis in ihrem Artikel Welchen Einfluss haben Mobile Apps auf die frühe Eltern-Kind-Beziehung? Dazu benennt sie die anthropologisch-entwicklungspsychologischen Voraussetzungen unter Rekurs auf die Arbeiten von Tomasello (2010). Auf diese Weise gewinnt die Medientheorie eine veränderte Perspektive auf die Art der Nutzung unterschiedlicher Medien mit besonderem Fokus auf den sozialinteraktiven Aspekt, der auf geteilte Intentionen und geteilte Aufmerksamkeit angewiesen ist. Plastisch gemacht wird ebenso, dass die Identifizierung von Elementen einzelner Apps für Kinder aufgrund ihrer Zweidimensionalität und kindgerechten Nutzungsmöglichkeiten einen hohen kognitiven Aufwand erfordert. Ein weiteres Fundament der Erörterungen bilden Aspekte der Gebrauchsforschung aus der Medieninformatik. Nur in einem solchen interdisziplinären Zugriff wird es gelingen, Apps zu entwickeln, die produktiv von Eltern und Kindern genutzt werden können.
Während hierzu noch so gut wie keine Forschung existiert, werden im Beitrag von Jutta Wiesemann, Clemens Eisenmann und Inka Fürtig Medienpraxis in der (frühen) Kindheit Ethnografische Exploration des familiären Smartphonegebrauchs erste eigene explorative Daten und Auswertungen für das multifunktionale, polymediale Smartphone und seine Einbettung in familiale Praktiken vorlegen. Dazu wurden drei Orte systematisch unter die Lupe genommen: Sondiert wurde daheim in den Familienwohnungen, an den Übergängen zu institutionellen Zusammenhängen und an öffentlichen Orten, an denen die Familien als Familien präsent sind (Gaststätten, Spielplätze). Berichtet werden Situationsanalysen aus dem öffentlichen Raum – Situationen, in denen durch das Smartphone präsente Dritte die Interaktion von Eltern und Kind beeinflussen. Als neue Sozialisationskonstellation wird hier eine, durch Präsenzerfordernisse mitbedingte, quasi-symbiotische Inkorporation des Handys in die Eltern-Kind-Interaktion herausgearbeitet.Diese ist zwar störungsanfällig, besticht aber gleichzeitig durch ihre Kreativität. Das Smartphone ‚wirkt‘ also nicht linear-kausal auf die Familieninteraktionen, sondern wird eingewoben in den Teppich der Herstellung von Familie und verändert gleichzeitig in noch zu erforschendem Ausmaß die Textur des Teppichs. Während das Öffentliche bei Wiesemann et al. als Forschungssetting vorausgesetzt ist, begibt sich Michael Viertel auf die Spuren der Entstehung der Differenz des Öffentlichen zum Privaten durch die Medien am Beispiel von Hörmedien in der mittleren Kindheit. Seine Schlussfolgerungen entwickelt er in dem Text Vom Beginn des Privaten und Öffentlichen. Zum Phänomen eines öffentlichen und privaten Sprechens von Kindern am Beispiel der Aneignung von Hörkassetten und Hör-CDs in der mittleren Kindheit. Das Private gilt seit der bürgerlichen Moderne als bevorzugter Raum der Persönlichkeitsentwicklung. In der Ontogenese etabliert sich das Verständnis der Differenz zwischen Öffentlichkeit und Privatheit nicht zuletzt auch in Gestalt der Nutzung von Medien. Nach einer historischen Skizze, welche die relative Neuheit eines Verständnisses privater Kindheit unterstreicht, berichtet der Autor über sein Forschungsprojekt. Dessen Datenbasis bilden Gruppendiskussionen und Einzelinterviews. Hörgeschichten entpuppen sich durch diesen doppelten Zugriff einerseits als Praxis der Entlastung im Rahmen des Einschlafens, welches in der mittleren Kindheit nicht mehr so stark von den Eltern begleitet wird wie im Kleinkindalter. Ferner dienen die Hörgeschichten zum ‚Runterkommen‘ nach der Schule. Andererseits stellen sie die Zielscheibe einer Stigmatisierung des öffentlich bekundeten Hörens von bestimmten Geschichtengenres dar. Diese werden als dem schon erreichten Alter nicht mehr angemessen abgewertet, und damit der Hörer oder die Hörerin ebenfalls. Zusammengebracht bedeutet dies, dass Hörgeschichten einerseits private Kontinuität sichern, andererseits man sich öffentlich, in kindspezifischen Öffentlichkeiten allemal, unter Umständen vehement davon distanziert. Eine noch selten bedachte Facette der Mediatisierung von Familie und Kindheit besteht darin, wie Helen Knauf in ihrem Beitrag Soziale Netzwerke als Instrument der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit Familien in Kindertageseinrichtungen unter Bezug auf deutsche und amerikanische Daten darlegt, dass Kindertagesstätten den Austausch mit Eltern über die unmittelbare Face-to-Face-Situation bei Elternabenden hinaus durch den Einbezug sozialer Medien wie Facebook und Twitter ergänzen. Diese Überlegung resultiert aus den in der Literatur breit abgehandelten Barrieren der Kooperation zwischen Fachkräften und Eltern, die in der unterschiedlichen Auffassung von Kooperationsformat und Kooperationsinhalt sowie in dem ohnehin schon dicht getakteten Alltag der Familien gesehen werden. Ins Visier der empirischen Erhebung nahm die Autorin dabei ausgewählte Posts der Einrichtungen und unterzog sie einer inhaltsanalytischen Auswertung. Drei Hauptfunktionen schälten sich heraus: Dokumentieren, Informieren und Verbinden, jeweils noch differenziert in Unterkategorien. Im Vordergrund steht dabei, im Unterschied zu anderen Organisationen, das Dokumentieren als Vehikel der Demonstration von Transparenz, vor allem über den Tagesablauf der Kinder.Zudem ergeben sich nach Ansicht der Autorin neue Möglichkeiten der neutralen Bildungsdokumentation.
Die Erschütterung der ontologischen Gewissheiten im Sinne der selbstverständlich unterstellten Ko-Präsenz als Grundlage des Familienlebens ist eine weitere mögliche Konsequenz der Mediatisierung, wie Heike Greschkes Artikel „Mama, bist Du da?“ Zum prekären Status von Anwesenheit in mediatisierten familialen Lebenswelten zeigt. So wird das Familienleben im Normalfall, unter stationären Bedingungen, von Medien mitgestaltet und durchdrungen. Im Falle multilokaler und transnationaler Familien haben sie aber einen ungleich höheren Stellenwert. Sie können als ein Katalysator und Stifter sozialer Kontakte der Familienmitglieder untereinander gelten und eventuell in bestimmten Fällen als erleichternder oder gar ausschlaggebender Impuls, ‚zerstreute‘ Formen der Familie überhaupt einzugehen oder zu etablieren. Überdies liefert die Autorin Argumente dafür, Abschied zu nehmen von einer normativ-kulturpessimistischen Bevorzugung der leiblichen Kopräsenz als „besserer Form der Interaktion“ und sich zu öffnen für die Hybridkonstellationen von leiblich und medial vermittelten Formen von Präsenz. Typisch für die späte Moderne sind dann Grade von Anwesenheit, die in differenzierter Art und Weise von Medien mitreguliert werden und die in neuer Form immer wieder auszuhandeln sind. Ebenfalls eine mehrkulturelle Note weist der Beitrag von Ilka Goetz, Habib Güneşli und Gudrun Marci-Boehncke auf, überschrieben mit Migration und Gender: Medienaneignung in der frühen Bildung in intersektionaler Perspektive. Auseinandersetzungen mit der Bildungsgerechtigkeit sind im Feld des Medienzugangs und der Medienrezeption heute in theoretisch anspruchsvoller Weise bevorzugt als intersektionale Analyse zu betreiben: Es geht den Autorinnen und dem Autor konkret um das Zusammenwirken der Faktoren Soziales Milieu, Kultureller Hintergrund und Geschlecht in einem ersten Zugriff auf Daten zur Benachteiligung im Bildungssystem, danach in einer Darstellung eines eigenen, interventionsorientierten Forschungsprojektes. Hier zeigen sich markante Unterschiede der Einschätzung eines Medienkompetenzzuwachses entlang der Beurteilungsposition Eltern versus Erzieherinnen, der erst dann deutlich wird, wenn der kulturelle Hintergrund und das Geschlecht des Zielkindes betrachtet werden. Daraus ergeben sich Notwendigkeiten der unterschiedssensiblen medienpädagogischen Arbeit in Kitas. Für einen engeren Dialog mit der neuen Kindheitssoziologie plädiert Andreas Lange im abschließenden Aufsatz Glück und Medien in der spätmodernen Kindheit. Dort hat sich in jüngerer Zeit vor allem die Auseinandersetzung mit den Bedingungen des kindlichen Wohlbefindens, kindlicher Lebensqualität und kindlichen Glücks als ein Schwerpunkt der Forschung und der praktischen Umsetzung etabliert. Überträgt man dieses Ansinnen der Dechiffrierung der Bedingungen des Kinderglücks auf die Medien, öffnen sich interessante neue Perspektiven auf Fragen der Medienwissenschaft und der Medienpädagogik.
Wirkung und soziale Praxis beachten
Die Zusammenschau der Artikel erlaubt einige übergreifende Trends zu identifizieren und Aufgaben für die Forschung und praktische Arbeit zu formulieren. Hervorgehoben werden soll an erster Stelle, dass die Artikel nicht alleine für den medienpädagogischen und medienwissenschaftlichen Diskurs neue Einsichten bergen, sondern vor Augen führen, dass wir Zeugen der Umstellung basaler Formen von Sozialität in der späten Moderne werden. Medien und Medienartefakte fädeln sich in den Strom der alltäglichen Praktiken in Familie, Schule, Kita und öffentlichen Settings ein und weben gemeinsam mit den menschlichen Akteurinnen und Akteuren ein dichtes, gleichwohl sich permanent veränderndes Netz der graduellen Kopräsenz und Konnektivität. Übergreifende Herausforderungen an den Umgang damit sind darin zu sehen, dass an den elterlichen Haushalt oder andere ‚stationäre‘ Settings gebundene Mediennutzungsmodi ergänzt werden durch solche, die im öffentlichen Raum, abseits von Familie und Bildungsinstitutionen, genutzt werden können und damit einem autonomen Gebrauch durch die Kinder in die Hände spielen. Auf einer forschungsstrategischen Ebene kristallisiert sich bei der Lektüre die Botschaft heraus, dass die komplexe Medienwelt und die subtilen Aneignungspraktiken sich nur angemessen in einer interdisziplinären und multimethodischen Allianz verstehen und erklären lassen. Hierbei sollte das gesamte Spektrum an Methoden, insbesondere auch non-verbaler Datenerhebungen, ausgeschöpft werden. Ein zweiter Punkt, der hier genannt werden soll, nimmt die Vielfalt der Medien, die damit verbundenen zahllosen situations- und bedürfnisspezifischen Funktionen, die diese zu erfüllen versprechen und dies zum Teil auch tun sowie ihre Präsenz in unterschiedlichsten Nutzungssettings in den Blick. Damit verbunden sind nicht nur Fragen nach der immanenten Mediatisierung des familiären Alltags, sondern auch die Forderung nach einer Methodenvielfalt, um die Bedeutung dieser Mediatisierung zu erforschen und sie dadurch in ihren verschiedenen Facetten zu verstehen. Es genügt nicht, einen klassischen Survey zu Nutzung und Umgang durchzuführen. Ein solcher kann nur einen ersten Anhaltspunkt für tiefergehende Fragen nach Motiven und Gründen geben, hat damit aber in jedem Fall seine Berechtigung. Ergänzt werden muss so ein quantitativer Überblick durch weitere Methoden und interdisziplinäre Kooperationen entsprechend der Fragen, die es zu beantworten gilt. Auch wenn die Medienpädagogik im ersten Moment vielleicht wenig Anknüpfungspunkte mit der Medieninformatik aufweist, so sind die Erkenntnisse aus medieninformatischen Gebrauchsstudien doch hilfreich und notwendig, wenn es darum geht, einerseits Medien und Medienangebote in Kinderhänden kritisch einzuschätzen und das Medienverhalten von Kindern zu verstehen. Andererseits können basierend auf diesen Erkenntnissen gekoppelt mit Ergebnissen aus eigenen medienpädagogischen Untersuchungen Forderungen zur Weiterentwicklung medialer Produkte formuliert werden, die sich an altersentsprechenden Fähigkeiten und Herangehensweisen orientieren und somit die kindliche Aneignung im Hinblick auf einen souveränen Medienumgang unterstützen können. Einen ganz anderen Weg als die Usability-Forschung verfolgen Studien, die einem ethnografischen Vorgehen folgen und deren Ziel es ist, Medienaneignung eingebettet in den je individuellen Kontext zu erfassen. Diese Beispiele – und das zeigen auch die Beiträge in diesem Heft – machen den Wert deutlich, den eine Methodenvielfalt sowie ein interdisziplinärer Austausch haben, wenn es um das Verstehen und die Unterstützung der kindlichen Medienaneignung geht.
Eine Frage, der bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, die aber in künftigen Forschungen zur Medienaneignung jüngerer Kinder mit berücksichtigt werden muss, ist die Bedeutung von zeitdiskreten und zeitkontinuierlichen Medien, die in unterschiedlicher Weise Zuwendung fordern und Aufmerksamkeit binden. Die Rezeption des zeitdiskreten Mediums Buch verlangt keine durchgängige Aufmerksamkeit. Die Zuwendung zum Text und – beispielsweise bei einem Bilderbuch – zu den Bildern kann jederzeit unterbrochen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden, ohne dass die Leserin oder der Leser etwas vom Inhalt verpasst oder sich dieser ändert. In der Zeit der Unterbrechung kann die Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet werden. So können Vater oder Mutter während der gemeinsamen Rezeption von Eltern und Kind jederzeit auf das Kind eingehen, sie können Fragen beantworten, auf emotionale Äußerungen des Kindes reagieren oder die Rezeption unterbrechen, weil das Kind müde und nicht mehr aufnahmefähig ist, also die Reaktionen des Kindes interpretieren. Die Rezeption des Buches kann zu einem beliebigen Zeitpunkt wieder aufgenommen werden. Eine App dagegen ist ein zeitkontinuierliches Medium. Durch verschiedene fortlaufende und aufeinander aufbauende Reize wie Videos, Audios, animierte Szenen und Geschichten, in eine Geschichte integrierte Rätsel und Aufgaben, die zur Interaktion anregen, bindet es die Aufmerksamkeit der Rezipierenden stärker. Es ist schwieriger, während der Rezeption die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten als auf das mediale Angebot. Auch eine Unterbrechung fällt schwerer, weil es oft nicht möglich ist, dort weiterzumachen, wo aufgehört wurde. Schon jetzt spielen Apps bei jüngeren Kindern eine wichtige Rolle. Daran schließt sich die Frage an, was diese medienimmanenten Merkmale aber für die Aneignung von Medieninhalten gerade jüngerer Kinder bedeuten? Ein letzter Komplex von Herausforderungen, der hier aufgegriffen werden soll, zentriert sich um Begriffe wie Absorption, Immersion; jüngst ist auch die Rede von ‚POPC‘ , also vom Trend "permanent online und permanent connected" zu sein, was eine neue Form der Lebensführung konstituiert (Vorderer 2015). Hier stellt sich beispielsweise die Frage, was es für die Bewältigung sozialer Situationen sowie interpersonelle Kommunikation und Beziehung, insbesondere zwischen Eltern und Kindern bedeutet, wenn diese sich kaum mehr aus ihren Spiel- und Kommunikationswelten lösen können und diese aufgrund von Aufgaben, die in einem bestimmten Zeitraum erledigt werden müssen, der Notwendigkeit, jederzeit auf Nachrichten von Freunden reagieren zu müssen, eine übermächtige Bedeutung im Alltag erhalten. Zusammengefasst sind die Artikel als eine erste, sicherlich sehr selektive Zwischenbilanz der Umbrüche des Aufwachsens im ersten Lebensjahrzehnt in Zeiten der Mediatisierung zu verstehen, die begleitet sind von Umwälzungen der Formen des Zusammenlebens und der Formen der institutionalisierten Betreuung und Bildung. Sie präsentieren wichtige Einblicke in dieses Feld, verweisen aber gleichzeitig auf einen immensen Forschungs- und Theoriebildungsbedarf, der letztlich auch der Steigerung der Lebensqualität der Heranwachsenden dienen soll.
Literatur
Tomasello, Michael (2010). Warum wir kooperieren. Frankfurt: Suhrkamp.
Vorderer, Peter (2015). Der mediatisierte Lebenswandel. Permanently online, permanently connected. Publizistik, 60 (3), S. 259-276.Andreas Lange und Susanne Eggert: Stimmungsregulation durch Medien
Lange Zeit wurden Medienwirkungen sowie die Aneignung von Medien durch die Rezipientinnen und Rezipienten vor allem unter Bezug auf Kognition und Verhalten diskutiert. Im Schlepptau der breiten Hinwendung der Soziologie wie der Psychologie zum Feld der Emotionen begeben sich auch Kommunikations- und Medienwissenschaften ins Gefühlsgefilde. Medien sind aus der Perspektive der Grundlagenforschung wiederum für die Emotionsforschung interessant, weil sie einer-seits eine wichtige Instanz der Sozialisation von Emotionalität darstellen und andererseits, weil sie in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie Gefühle und Stimmungen instrumentalisieren – teilweise auch kommerzialisieren. Nicht nur die dafür klassisch in Haftung genommene Werbung ist hier an-zuführen, auch ein weites Spektrum von anderen Formaten und Genres spielt dabei eine große Rolle. Das Wiederaufleben einer kritischen Theorie der Gesellschaft hat zu dieser Betrachtungsweise beigetragen – an allererster Stelle sind hier die Arbeiten von Eva Illouz (2006) zu nennen. Sie vertritt die These, dass die Herausbildung des Kapitalismus nicht zu verstehen ist, ohne die parallele Entwicklung einer stark spezialisierten, intensiven emotionalen Kultur. Männer und Frauen werden im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts immer mehr dazu angehalten, sich nicht nur in der Familie, sondern auch am Arbeitsplatz intensiv mit ihren Emotionen auseinander zu setzen. Gespiegelt und verstärkt wird diese Tendenz dann im gesamten Spektrum von Medieninhalten. Anhand eines normalen Tagesablaufes lässt sich die Spannbreite der Stimmungsregulierung durch Medien, also der Erwartungen hinsichtlich ihrer emotionalen Nutzbarkeit und ihrer partiellen Habitualisierung, veranschaulichen. Die morgendliche Antriebslosigkeit wird durch den Radiowecker vertrieben, die frustrierende Schulbusfahrt durch die persönliche Sammlung von Songs auf dem iPod erträglicher gestaltet.
Das Abchecken der SMS dient dem Selbstwertgefühl und der nachmittägliche Besuch des Netzes dem Ausagieren angestauter Aggressionspotenziale, während die abendliche Soap eine Bühne für das spielerische Ausleben romantischer Gefühlsentwürfe darstellt. Auch die sozialen Kontexte, in denen sich Heranwachsende bewegen, sind teilweise stark mit Stimmungen und Gefühlen aufgeladen, die dann wiederum durch Medieneinsatz orchestriert oder in-tensiviert werden – man denke an den sprichwörtlichen „Ghettoblaster“, den jugendliche Gruppenmitglieder zur Inszenierung ihrer territorialen Ansprüche und ihrer Identität einsetzen oder aber an die konstitutive Bedeutung, welche die gemeinsame Rezeption von Horrorvideos zur sozialen Konstruktion eines gemeinsamen Gruselgefühls einnehmen. Neben den bewusst vorgenommenen, gewissermaßen strategischen Regulierungen der Emotionen durch die Rezipientinnen und Rezipienten selbst dürfen allerdings die emotionalen Auswirkungen nicht außer Acht gelassen werden, die durch die Medienberichterstattung insgesamt ausgelöst werden können. Dies trifft insbesondere für die mediale Repräsentation von Schicksalsschlägen, Unglücksfällen, Kriegen, Terroranschlägen oder Katastrophen zu. Hier sind starke Emotionen bis hin zur Übererregung denkbar. In einem solchen Fall stellen Medieninhalte regelrechte Belastungen und Stressoren dar, wie Knieper (2006) anhand seiner Untersuchung zu den Auswirkungen der Tsunami-Berichterstattung ansatzweise nachweisen kann. Und auch Theunert und Schorb (1995) haben in einer Untersuchung zum Umgang von Acht-bis 13-Jährigen mit Fernsehinformation festgestellt, dass diese bei den Kindern vor allem dann starke Emotionen hervorruft, wenn sie einen Bezug zum eigenen Erleben herstellen können. Schon dies alleine regt dazu an, die medienpädagogischen Konsequenzen der intensiven Emotionalisierung von Medien näher auszubuchstabieren. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, der Frage, wie sich generell die Fähigkeit entwickelt, Emotionen zu regulieren, etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Dies leistet Heinz Kindler, indem er erst ein Vorverständnis von Emotionen erarbeitet, unterschiedliche Ebenen der Emotionsregulation unterscheidet und dann systematisch die Stufen vorstellt, entlang derer sich die Kompetenz, die eigenen Emotionen zu steuern, entwickelt. Wichtig für zukünftige medienwissenschaftliche und medienpädagogische Vertiefungen ist dabei sein Hinweis, dass neben allgemeinen Entwicklungsverläufen auch interindividuelle Unterschiede festzustellen sind. Holger Schramm und Werner Wirth liefern einen Überblick über den Stand der einschlägigen Diskussion in der Medienforschung. Besondere Aufmerksamkeit widmen sie dabei der Mood-Management-Theorie und ihren aktuellen Erweiterungen. Abschließend zeigen sie, wie Kinder mit angsterregenden Medieninhalten umgehen, und leiten daraus pädagogische Folgerungen ab. In zwei weiteren Artikeln stehen jugendrelevante Medien und ihre Bedeutung für Emotionsentwicklung und -regulierung im Zentrum. Anja Hartung und Wolfgang Reißmann erläutern die Bedeutung von Musik in der Adoleszenz. Sie machen deutlich, dass Musik nicht nur die momentane Gefühlsarbeit beeinflusst, sondern auch dazu dient, das eigene Lebensgefühl zum Aus-druck zu bringen und soziale Atmosphären zu gestalten. Ingrid Möller wendet sich in ihrem Beitrag dem Bereich der Bildschirmspiele zu und stellt zunächst fest, dass die Beliebtheit von Computer- und Videospielen eng mit dem Erleben positiver Gefühle beim Spielen zusammenhängt.
Davon aus-gehend zeigt sie, inwiefern Bildschirmspiele gezielt zur Stimmungsregulierung bzw. Emotionsmanipulation eingesetzt werden. Im Zusammenhang mit den möglichen Effekten, die das Spielen auf den affektiven Zustand der Spielenden haben kann, geht sie besonders auf die möglichen Auswirkungen von Gewaltspielen ein.
Literatur
Illouz, Eva (2006). Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Adorno-Vorlesungen 2004. Frankfurt am Main: Campus
Knieper, Thomas (2006). Die Flut im Wohnzimmer. Die Tsunami-Berichterstattung als traumatischer Stressor für die bundesdeutsche Bevölkerung. Publizistik, 51, 1, S. 52-66
Theunert, Helga/Schorb, Bernd (1995). ‚Mordsbilder’: Kinder und Fernsehinformation. Berlin: Vistas
Christa Gebel und Susanne Eggert: Konfliktherd Computerspiele
Eltern begegnen Computerspielen häufig mit Skepsis. Die Begeisterung, mit der vor allem der männliche Nachwuchs sich dem Computerspielen widmet, stellt für sie oft eine erzieherische Herausforderung dar. Insbesondere Mütter haben meist wenig Bezug zu Computerspielen und es fällt ihnen schwer, diese Leidenschaft der Kinder nachzuvollziehen. So kommt es darüber nicht selten zu Konflikten, vor allem im Hinblick auf die Spieldauer.
Literatur:
Hasebrink, Uwe/Schröder, Hermann-Dieter/Schumacher, Gerlinde (2012). Kinder- und Jugendmedienschutz aus der Sicht der Eltern. Ergebnisse einer repräsentativen Elternbefragung. In: Media Perspektiven, H. 1, S. 18-30.
Wagner, Ulrike/Gebel, Christa/Lampert, Claudia (Hrsg.) (2013). Zwischen Anspruch und Alltagsbewältigung: Medienerziehung in der Familie. Unter Mitarbeit von Susanne Eggert, Christiane Schwinge, Achim Lauber. Schriftenreihe Medienforschung der LfM, Band 72. Berlin: Vistas.
Dagmar Hoffmann/Susanne Eggert: Gender Media – Praktiken und Forschungsbedarf
Die Auseinandersetzung mit dem Konnex ‚Medien und Geschlecht‘ scheint gerade in medienpädagogischen Kontexten eine Selbstverständlichkeit zu sein, gleichwohl hält man sie in postfeministischen Zeiten nicht selten für überholt und überflüssig. So berichtet die britische Kommunikationswissenschaftlerin Karen Ross in der Einleitung zu ihrem Buch Gendered Media (2010), dass sie sich immer wieder für ihr Projekt hat rechtfertigen müssen und einige in ihrem Umfeld meinten: „Another one?“ Dabei ist es bei genauerer Betrachtung auch international ein Trugschluss, dass es sich hier um einen überforschten Themenzusammenhang handelt. Genderfragen sind in Zeiten der Digitalisierung, des Social und Political Web, der kulturellen Partizipation und vielfältigen Darstellungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten insbesondere im Netz äußerst bedeutsam.
Studien finden sich aber kaum. Konfrontiert ist man mit medialen Genderstereotypen und geschlechtsspezifischen Medienpraktiken, die viele Fragen aufwerfen. Ruft man das Thema auf, wird zumeist eine differenztheoretische Perspektive assoziiert, die auf Geschlechterverhältnisse und normierende Geschlechterentwürfe und/oder verschiedene Mediennutzungsweisen von Mädchen und Jungen, Frauen und Männer fokussiert. Allerdings haben sich durch vielfältige gesellschaftliche Veränderungen Geschlechterordnungen und Arrangements in den letzten Jahrzehnten durchaus verändert. Sie haben sich mitunter flexibilisiert und liberalisiert, sind zugleich aber auch unübersichtlicher geworden. Im Alltag müssen Menschen nicht mehr immer als Geschlechtswesen auftreten. Ob bestimmte Dienstleistungen von Frauen oder Männern ausgeübt werden, spielt für die Kundin oder den Kunden zumeist keine Rolle mehr.
Aber nicht alle Arbeits- und Berufsbereiche zeichnen sich durch eine Gleichstellung der Geschlechter aus, wie man etwa an der Debatte um den Einsatz der Sportkommentatorin Claudia Neumann bei der Fußball- Europameisterschaft im letzten Jahr gesehen hat. Diversität ist demzufolge – vor allem im Medienbereich (vgl. Klaus/Lünenborg 2013) – noch keine Selbstverständlichkeit. Westliche Gegenwartsgesellschaften sind zwar insgesamt gegenüber Ungleichheiten sensibler geworden, dennoch bleiben ihre Mitglieder dem Denken in sozialen Kategorien oftmals verhaftet und Merkmale wie Geschlecht und Sexualität, Alter und ethnische Herkunft verlieren nicht an Bedeutung. Noch immer finden sich Stereotype und Vorbehalte, werden Frauen – wie der aktuelle Bericht über Frauen in Kultur und Medien zeigt (vgl. Schulz/Ries/Zimmermann 2016) – in bestimmten Medienberufen und künstlerischen Sparten ausgegrenzt. Aber auch Männer sind in Arbeitsfeldern wie beispielsweise in der Pädagogik und in etlichen Dienstleistungsbereichen nicht ohne weiteres anzutreffen.
Aktuelle Fragestellungen und Herausforderungen
Es lässt sich beobachten, dass bestimmte Themen und Kommunikationsräume durchaus geschlechtsspezifisch besetzt, genutzt und angeeignet werden. So sind Autorinnen bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia immer noch in der Minderheit. Der Anteil der von Frauen verfassten Artikel beträgt weniger als ein Viertel (vgl. Falke 2013). Mädchen und Frauen sind hingegen dominant vertreten, wenn es um das Betreiben von Fashion-, Beauty- und Food- Blogs oder aber das Einstellen von Haul-Videos bei YouTube geht. Bekannte hegemoniale und patriarchale Strukturen reproduzieren sich trotz aller Emanzipations- und Gleichstellungsbemühungen im Netz und auch in anderen Medienformaten sowie in kulturellen Bereichen (für einen Überblick siehe z. B. Prommer/Schuegraf/ Wegener 2015; Maier/Thiele/Linke 2012; Ross 2012). Hatte man in den 1990er-Jahren die Hoffnung, dass sich Geschlechterrollen durch neue Ausdrucksformen und Möglichkeiten der Selbstkonstruktion im Netz aufweichen könnten (vgl. Turkle 1995; Musfeld 1999), so lässt sich eine Überwindung normierter Zweigeschlechtlichkeit bislang kaum erkennen. Mediale Aushandlungen von Homosexualität, Transgender und Intersexualität sind zwar deutlich präsenter als in Pre-Internet-Zeiten, bilden aber dennoch – quantitativ betrachtet – eher Ausnahmen. Ausgehend von den vielfach reklamierten gendersensiblen (Forschungs-)Perspektiven in den Medien- und Kommunikationswissenschaften (vgl. z. B. Maier/Thiele/Linke 2012; Lünenborg/ Maier 2013) gilt es deutlich zu machen, inwieweit diese in der Praxis zur Selbstverständlichkeit, ja zum Mainstream, werden können. Die kritische Auseinandersetzung mit Medienformaten, die soziale Gruppen diffamieren, ist besonders in Zeiten dringlich, in denen rückwärtsgewandte Rollenbilder in Parteiprogrammen zu finden sind, es kollektiv organisierte sexistische Übergriffe gibt, ‚schwul‘ ein gängiges Schimpfwort ist, das Spott und Ausgrenzung demonstriert, und in denen LGBT1-Jugendliche mehrheitlich von Diskriminierungserfahrungen in ihrem sozialen Umfeld berichten (vgl. Krell/ Oldemeier 2016).
Zu diesem Heft
Den Auftakt macht Sigrid Kannengießer, die in ihrem Beitrag das breite Forschungsfeld der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Geschlechterforschung umreißt, dabei die Veränderungen der Forschungsschwerpunkte von den Anfängen bis heute aufzeigt und letztlich über aktuelle Tendenzen in der Forschung informiert. Am Beispiel des Cyberfeminismus macht sie deutlich, wie Frauen Internetmedien zur Vernetzung und politischen Mobilisierung nutzen. Im Anschluss diskutiert Angela Tillmann kritisch die vielfach diskutierten feministischen Hoffnungen, die damit verknüpft sind, das Internet als ein demokratisches Medium zu begreifen und es zu nutzen, um ungleiche Geschlechterverhältnisse zu verhindern und Geschlechterdualismen aufzubrechen. Anhand einschlägiger Studien und zahlreicher Beispiele kann sie veranschaulichen, inwieweit dies bisweilen auch durchaus gelingt. Die Autorin hebt jedoch kritisch hervor, dass sich im Netz aber auch Ungleichheiten fortsetzen und reproduzieren sowie bei bedeutsamen Partizipationsformen und Selbstinszenierungspraktiken ein starker Genderbias besteht. In ihrem Fazit hält sie fest, dass von einem „Geschlechterbeben im Internet“ nicht die Rede sei, sondern althergebrachte Dichotomien weiterhin spezifische Interaktionsformen und Machtrelationen, Ein- und Ausschließungsprozesse als auch Partizipationsprozesse begründen. Florian Krauß widmet sich einem neuen Ansatz im Bereich der Gender Media Studies, der sich mit der Analyse transspezifischer Medienpraktiken beschäftigt. Es wird in den Transgender Media Studies dafür plädiert, dass nicht nur Repräsentationspraktiken als Teil des Doing Gender erforscht werden sollen, sondern verstärkt auch die realen Bedingungen, unter denen Trans-Menschen leben, und Diskriminierungen, die sie erleben, berücksichtigt werden. Medien spielen dabei eine bedeutsame Rolle, da sie sexuelle Diversität präsentieren können oder eben nur einschränkt sowie bestimmte sexuelle Orientierungen als besondere vermitteln. Repräsentationspraktiken und konkrete, materielle Bedingungen sind immer miteinander verzahnt und sollten auch in dieser Interdependenz untersucht werden. So fungieren mediale Repräsentationen häufig als Teil von Diskriminierungen, indem sie diese verstärken oder eine Tradition der Pathologisierung, Fremdbestimmung und Stereotypisierung fortführen. Bisweilen hat aber auch eine eindimensionale Forschungsperspektive ihren Anteil daran. Im Interview erklärt Stevie Meriel Schmiedel von der Protestinitiative Pinkstinks, welche konkrete Aufklärungsarbeit zu leisten ist, wenn es darum geht, Eltern und Lehrende sowie Jugendliche für medial verbreitete unzeitgemäße Rollenbilder und für Diversitätsdenken zu sensibilisieren. Mit ihren Kampagnen kritisiert die Protestorganisation vor allem das zunehmende Gender-Marketing und Sexismus in der Werbung. Nicht unproblematisch sind auch Präsentationen der YouTube-Stars, die für Heranwachsende orientierende Funktionen übernehmen. Annekatrin Bock und Merja Mahrt haben an einigen Videos der bei Zehn- bis 15-Jährigen beliebten YouTube-Kanäle BibisBeautyPalace und ApeCrime exemplarisch die Präsentation von Geschlechterrollen untersucht. Sie stellen dabei fest, dass „die dargestellten Rollenbilder klassische genderstereotype Darstellungen reproduzieren“ (S. 46). Aus medienpädagogischer Perspektive gilt es diese Entwicklung im Auge zu behalten, da es den YouTuberinnen und YouTubern – anders als vielen Protagonistinnen und Protagonisten beispielsweise in Fernsehangeboten – oftmals gelingt, einen persönlichen Kontakt zu den Nutzenden herzustellen. Durch die geringe soziale Distanz genießen die YouTube-Stars eine große Glaubwürdigkeit bei den Heranwachsenden. Abschließend stellen die beiden Medienpädagoginnen Gabi Uhlenbrock, die sich vor allem für Games begeistern kann, und Sonja Breitwieser, von Anfang an von (Computer-)Technik fasziniert, im Interview mit Klaus Lutz ihre Erfahrungen mit und ihre Einstellung zur Bedeutung von Geschlecht in der medienpädagogischen Arbeit mit dem Computer dar. Beide sind der Meinung, dass geschlechtsspezifische Arbeit auch in einem Feld bzw. mit einem Medium, dem Computer, das stärker mit Jungen bzw. männlichen Jugendlichen verbunden wird, nicht unbedingt notwendig ist, manchmal aber hilfreich sein kann. Zwar bietet der Markt oft geschlechtsspezifisch konnotierte Angebote, aber auch hier lohnt es sich, sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Dennoch kritisiert Uhlenbrock die oftmals sexistische Darstellung von Frauenfiguren in Games. Der Schwerpunkt dieser Ausgabe von merz ist so gestaltet, dass möglichst verschiedene Sichtweisen auf das Thema Geschlecht bzw. Gender und Medien zur Sprache kommen und ein Einblick in die aktuelle Forschung gewährt wird. Wir hoffen, damit einen Anstoß zu geben, den Blick auf ein immer wieder aktuelles gesellschaftspolitisches Thema zu lenken und wünschen eine aufschlussreiche und anregende Lektüre. Anmerkung1 LGBT ist die Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender.
Literatur
Falke (2013). Wikipedia Gender Gap Revisited. www.blog.wiki-watch.de/?p=2324 [Zugriff: 20.01.2017].
Klaus, Elisabeth/Lünenborg, Margreth (2013). Zwischen(Post-)Feminismus und Antifeminismus. Reflexionen zu gegenwärtigen Geschlechterdiskursen in den Medien. In: GENDER Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 5 (2), S. 78–93.
Krell, Claudia/Oldemeier, Kerstin (2016). I am what I am? Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen in Deutschland. In: GENDER Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 8 (2), S. 46–64.
Lünenborg, Margreth/Maier, Tanja (2013). Gender Media Studies. Eine Einführung. Konstanz: UVK.
Maier, Tanja/Thiele, Martina/Linke, Christine (Hrsg.) (2012). Medien, Öffentlichkeit und Geschlecht in Bewegung. Forschungsperspektiven der Kommunikations- und medienwissenschaftlichen Geschlechterforschung. Bielefeld: transcript.
Musfeld, Tamara (1999). „Gender swapping in Cyberspace“.Postmoderne Auflösung von Raum und Identität oder Inszenierung des Geschlechterverhältnisses mit anderen Mitteln? In: Psychologie und Gesellschaftskritik, 23 (1/2), S. 9–27.
Prommer, Elizabeth/Schuegraf, Martina/Wegener, Claudia (Hrsg.) (2015). Gender – Medien – Screens. (De) Konstruktionen aus wissenschaftlicher und künstlerischer Perspektive. Konstanz: UVK.
Ross, Karen (Ed.) (2012). The Handbook of Gender, Sex and Media. Boston: Wiley-Blackwell.
Ross, Karen (2010). Gendered Media. Women, Men, and Identity Politics. Lanham/Pymouth: Rowman & Littlefield.
Schulz, Gabriele/Ries, Carlin/Zimmermann, Olaf (2016). Frauen in Kultur und Medien. Ein Überblick über aktuelle Tendenzen, Entwicklungen und Lösungsvorschläge Berlin: ASTOV.
Turkle, Sherry (1995). Life on the Screen: Identity in the Age of the Internet. New York: Simon & Schuster.
Günther Anfang, Susanne Eggert, Klaus Lutz: Editorial
Das Medienangebot für Kinder hat sich in den letzten Jahren enorm verändert und vergrößert. Angefangen vom digitalen Fotoapparat, den Kinder bereits im Alter von zwei Jahren bedienen, um das Familienalbum zu bereichern, bis hin zu den diversen Apps für Smartphones und Tabletcomputer, die Kindern von lustigen Spielen bis ernsthaften Lernprogrammen eine breite Palette von Nutzungen ermöglichen. Vor allem die Touch-Screen-Funktion der Tablets und Smartphones hat es Kindern angetan. Die intuitive und kindgerechte Bedienungsoberfläche macht es Kindern leicht, diese digitale Welt zu erobern. Das schreckt natürlich nicht nur Hirnforscher auf, die die Gefahr einer digitalen Demenz heraufbeschwören, sondern auch Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen, die verunsichert sind, ob das denn nun alles zum Heil der Kinder ist. Denn im Prozess des Aufwachsens werden die Allerkleinsten mit besonderer Sorgfalt bedacht. Die Sorge ist groß, es könnten in diesem frühen Stadium durch pädagogisches Fehlverhalten die Grundlagen für spätere Probleme gelegt werden. So ist die Elementarpädagogik eher geprägt vom Schonraumgedanken als von Experimentierräumen, wie wir sie aus der Jugendarbeit kennen. Hier gibt es viele Bedenkenträger, die eine Mediennutzung unter fünf Jahren strikt ablehnen und bei Zweijährigen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Andererseits kann man aber gerade diese Zweijährigen beobachten, wie sie munter und ohne Scheu auf die Geräte zugehen und neugierig auf diese bunte, lustige Bilderwelt sind. Medien sind für sie Alltag und warum sollten sie diese nicht nutzen? Als attraktives Spielgerät sind sie allemal tauglich, auch wenn sie gerne mal im Eifer des Gefechts zu Boden fallen.
Da müssen diese Geräte eben robuster gebaut werden. In der familiären Alltagswelt des Kindes sind viele unterschiedliche Medien in Gebrauch und so in das Familienleben integriert, dass die Medien den Alltag in der Familie zu einem maßgeblichen Teil auch mitbestimmen. Diese Entwicklung hat auch den Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (mpfs) dazu veranlasst, zusätzlich zur KIM-Studie erstmals die miniKIM durchzuführen, in der die Eltern von Zwei- bis Fünfjährigen zum Medienumgang ihrer Kinder befragt wurden. Die Ergebnisse liegen der KIM-Studie 2012 bei, die Mitte April erschienen wird. Wenn Kinder aber in eine Welt hineingeboren werden, in der sie von Anfang an mit der ganzen Bandbreite der Medien in Berührung kommen, so stellt sich für die pädagogische Praxis die Frage, wie sie darauf reagieren muss? Im Mittelpunkt dieses Hefts steht somit die Frage, welche Antworten die Pädagogik auf die veränderten Medienumgebungen und damit einhergehend auf den veränderten Medienumgang von kleinen Kindern hat. Soll sie diesen verteufeln, aussitzen oder kreativ produktiv nutzen, um die Medienkompetenz von Kindern von Anfang an zu stärken? Einen Einblick in den veränderten Medienumgang von Kindern auf der Basis neuester Studien gibt zunächst Stefan Aufenanger. Er kommt zum Schluss, dass sich die vorliegenden Studien zur Mediennutzung von Kindern unter fünf Jahren fast ausschließlich auf traditionelle elektronische Medien, insbesondere das Fernsehen, konzentrieren. Aktuelle digitale Medien wie etwa Smartphones, Videospiele oder Tablets wurden bisher kaum in den Blick genommen.
Um einen ersten repräsentativen Einblick in die aktuelle Mediennutzung in der jüngsten Altersgruppe zu bekommen, wurde deshalb von Aufenanger im Frühjahr 2011 eine Befragung von Müttern mit Kindern im Alter von null bis fünf Jahre durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass zum einen das Fernsehen bei den Kindern dieser Altersgruppe mit dem Alter stetig zunimmt und dieses Medium bei diesen Kindern nach wie vor das beliebteste Medium ist. Zugleich wird aber deutlich, dass auch bei der Gruppe der unter Fünfjährigen die neuen, digitalen Medien zunehmend Einfluss gewinnen. Hier bedarf es jedoch weiterer Studien, die gerade die Veränderungen der letzten beiden Jahre in den Blick nehmen, da Smartphones und Tablets einen deutlichen Zugewinn erfahren haben.Welche Veränderungen die digitalen Medien im Kindergarten mit sich gebracht haben, ist Thema des Artikels von Gudrun Marci-Boehncke, Anita Müller und Sarah Kristina Strehlow. Ausgangspunkt des Artikels ist, dass Kindergartenkinder heute Zugriff auf ein breites Medienarsenal haben. Während sich neue Technologien wie Digitalkamera, iPod und (Kinder-)Computer in den Kinderzimmern der ‚Kleinen‘ etabliert haben, scheinen die Institutionen der Frühen Bildung von der digitalen Welt noch weit entfernt zu sein. Der Medieneinsatz in der Kita beschränkt sich vorrangig auf Printmedien und der Computer ist auch in den meisten Bildungsplänen nicht explizit als zu nutzendes oder zu reflektierendes Medium aufgeführt. Statt an der Medienrealität heutiger Kindergenerationen mit aktiven und kreativen Angeboten anzuschließen, stellen eine Überbetonung des Gefahrenpotenzials und die Schaffung medienfreier Räume noch immer die gängigen Reaktionen auf die neuen Anforderungen der Mediatisierung der Lebenswelt dar.
Das Interventions- und Forschungsprojekt KidSmart – Medienkompetent zum Schulübergang, das von den Autorinnen vorgestellt wird, versucht dem entgegenzuwirken und macht sich zur Aufgabe, Medienbildung exemplarisch in Dortmunder Kitas auf den Weg zu bringen. Über einen Zeitraum von drei Jahren (2010-2013) begleitete das Projekt Erzieherinnen und Erzieher sowie Kinder in ihrer aktiven Medienarbeit vor Ort. Anhand erster Ergebnisse wird dargestellt, inwiefern ein Projekt wie KidSmart durch interventive Medienbildungsmaßnahmen die pädagogische Praxis in Kitas verbessern kann.Im Mittelpunkt des Beitrags von Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen steht die frühe Sprach- und Leseförderung mit Medien. Nach den Erkenntnissen der Stiftung Lesen können digitale Medien auf verschiedene Weise eingesetzt und in einem positiven Sinne wirksam werden. Sie sind Trägermedien für E-Book-Formate, setzen begleitende und ergänzende Impulse, zum Beispiel mit Animationen, Musik und Spielen bei Vorlese- Apps und bieten spielerisch-pädagogische Anreize in Gestalt von Lernsoftware sowie spielerisch- motorische Elemente mit Angeboten für Konsolen, die mit Bewegungssensoren arbeiten.
Digitale Medien setzen Anreize und machen Inhalte attraktiv, die in gedruckter Form schwerer zugänglich sind. Somit schaffen sie einen medialen Raum, in dem ein sprach- und leseförderndes Klima entstehen kann. Einen Überblick über den Medienmarkt für Kinder in Bezug auf Fernsehen, Apps und Internetseiten geben Kati Struckmeyer und Michael Gurt. Angefangen von den Fernsehlieblingen on- und offline, über Internetangebote für die Kleinsten bis hin zu unterhaltsamen und lehrreichen Apps wird der Medienmarkt für die Jüngsten kritisch unter die Lupe genommen und in seinen verschiedenen Facetten dargestellt. Den Dauerkonflikt rund um die Mediennutzung in der alltäglichen (elterlichen) Erziehungspraxis zeigt Klaus Lutz in seinem Artikel auf. Er weist darauf hin, unter welchem Druck Erziehende stehen, die Mediennutzung von Kindern in gesellschaftlich gewünschte Bahnen zu lenken. Dabei ist die Familie ein Ort, an dem unterschiedlichste Einstellungen zum Umgang mit Medien aufeinandertreffen. Daraus entstehen nicht selten Konflikte unter den Erziehungsberechtigten und in deren Umfeld, die der vor allem im Vorschulalter geforderten Konsequenz in der Erziehung entgegenwirken.
Im Mittelpunkt des Praxisteils stehen erste Erfahrungen beim Einsatz von Tablets in der Kita sowie Konzepte der aktiven Medienarbeit mit Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren. Im Beitrag von Susanne Roboom vom Verein Blickwechsel e. V. werden die Risiken und Chancen von Tablets in der Kita beschrieben. Die Vorzüge von Tablets liegen auf der Hand: Sie vereinen in einem einzigen Gerät Fotoapparat, Videokamera, Mikrofon und PC sowie eine Fülle von kreativen Werkzeugen und Anwendungsmöglichkeiten. Wo sonst viele Kaufentscheidungen nötig waren, muss sich das Team nun nur für ein Gerät entscheiden und kann aus einer Fülle von Apps wählen. Die „digitalen Alleskönner“ sind außerdem kinderleicht zu bedienen und machen den Kindern sehr viel Spaß. Wie grundsätzlich beim Einsatz von Medien kommt es aber auch hier darauf an, sie gezielt und pädagogisch begründet einzusetzen. Wie eine Medienerziehung in der Krippe aussehen kann, beschreibt Günther Anfang in seinem Artikel, in dem er erste Versuche der aktiven Medienarbeit mit Krippenkindern aufzeigt.
Im Mittelpunkt der konzeptionellen Überlegungen einer Medienpädagogik in der Krippe steht dabei die Frage, was Kinder in diesem Alter können und wo Medienerziehung ansetzen muss, die Kinder in ihren Kompetenzen fördert und spielerisch eine Auseinandersetzung mit Medien ermöglicht. Beispielhaft wird das Konzept eines Medienvormittags für Krippenkinder beschrieben, bei dem den Kindern neben Unterhaltung und vielen Ess- und Trinkpausen auch jede Menge an aktiven Gestaltungsmöglichkeiten geboten werden. Mit den Medienzwergen wird am Schluss von Birgit Hock noch ein Konzept der aktiven Medienarbeit in der Kita vorgestellt, das von der Stiftung MedienKompetenz des Forums Südwest als Broschüre nun auch allen Erziehenden zur Verfügung steht.
Susanne Eggert, Jan Keilhauer und Elke Stolzenburg: Editorial
Rechte Einstellungen sind ein stabiler Bestandteil westlicher Gesellschaften. Das Phänomen wird vertreten durch die bekannten Rechtsaußen-Parteien, über eine durchaus vielschichtige und schwer durchschaubare rechte Szene, die mal neonazistisch, mal antiislamisch, antisemitisch, nationalistisch oder antidemokratisch daher kommt, bis hin zu Formen rechter Jugendkulturen, die heute äußerlich nur noch schwer von nicht-rechten Jugendkulturen zu unterscheiden sind. Die Problematik lässt sich aber nicht auf bekennende Rechte oder sogenannte Rechtsextreme reduzieren. In einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert werden stets rechte Gewalttäterinnen und -täter.
In diesem Jahr ist uns allen noch das Attentat in Norwegen präsent, bei dem ein „neuer Rechter“ den vielfachen Mord politisch begründet hat. Auch die (leider) gewöhnliche rassistisch motivierte Gewalt auf Straßen und Schulhöfen ist nur der besser sichtbare Teil des gesellschaftlichen Phänomens. Alltägliche Formen von Ausgrenzung in Schule, Beruf und nachbarschaftlichem Zusammenleben finden weniger Beachtung, werden nicht als Problem erkannt oder sogar als legitim erachtet. Dahinter steht die Verbreitung von rassistischen, demokratiefeindlichen und chauvinistischen Einstellungen in breiteren Teilen der Bevölkerung, und zwar übergreifend über alle Alters- und sozialen Gruppen. Es ist die Entstehung dieser alten und neuen Vorurteile gegenüber Minderheiten oder des Strebens nach einer autoritären Ordnung, an denen pädagogisches Handeln im Allgemeinen und Medienpädagogik im Besonderen ansetzen muss. Diese Einstellungen müssen als Ergebnis der Aneignung gesellschaftlicher Bedingungen und Einflüsse verstanden werden. Sie sind häufig einfache Antworten auf die Fragen, die sich insbesondere Heranwachsende auf ihrer Suche nach Orientierung stellen. Sie finden diese Antworten im sozialen Umfeld und in vielfältigen medialen Räumen. Heranwachsende, die rechte Einstellungen übernehmen, sind dabei nie einfach nur Opfer von rechten ‚Rattenfängern‘. Sie stimmen diesen vor ihrem Erfahrungshintergrund mehr oder weniger bewusst zu. Ihnen muss eine rationale Analyse der rechten Angebote zugänglich gemacht und es müssen ihnen alternative, humanistische Orientierungen angeboten werden. In pädagogischen Prozessen gegen Rechts kommt man an der Auseinandersetzung mit rechten Medienangeboten und dem eigenen Medienhandeln der Adressaten nicht vorbei.
Heranwachsende gehen heute selbstverständlich mit einem breiten Medienensemble um. Sie verfolgen ihre Interessen insbesondere im Netz, treffen ihre Freundinnen und Freunde und neue Leute in Online Communitys et cetera. Dass auch rechte Aktivistinnen und Aktivisten ihre Weltbilder über Medien verbreiten, ist nicht neu. Sie nutzen alle erdenklichen Kommunikationsformen und Tools des Netzes. Für die Medienpädagogik heißt das, aktuelle Entwicklungen zu beobachten. Neu ist insbesondere eines: Mit dem Social Web sind rechte Offerten nicht mehr nur auf eindeutig rechte Seiten oder Kommunikationsnetze beschränkt, die sich gezielt ansteuern lassen. Vielmehr begegnen den Nutzenden heute rechte Sprüche und Symboliken auch auf den populären Plattformen wie facebook.com und anderen. Im Netz finden sich aber genauso auch Widerspruch und vielfältige Initiativen gegen Rechts. In diesem Feld sind nun auch Jugendliche immer häufiger selbst aktiv Kommunizierende, indem sie Inhalte in verschiedensten Formen einstellen. Ein kleiner Teil der Jugendlichen kommuniziert hier rechte Einstellungsmuster und platziert diese somit an den Orten, an denen sich viele andere Jugendliche täglich aufhalten. Umso wichtiger ist es, Jugendliche zu verantwortungsvollem Handeln zu befähigen. Der Jugendmedienschutz steht hier noch am Anfang. Jugendliche müssen nicht mehr nur vor Offerten „der Nazis“ geschützt werden, sondern auch ihr eigenes, aktives Handeln im Netz unter ethischen Gesichtpunkten reflektieren und positive Handlungsmöglichkeiten entwickeln können. Dazu braucht Medienpädagogik sowohl die Kenntnis der medialen Entwicklungen von Rechts und gegen Rechts als auch immer wieder eine eigene inhaltliche Auseinandersetzung und Standortbestimmung. Wie sich die Bedeutung des Internets für die Verbreitung rechtsextremen Gedankenguts in den vergangenen zwei Jahrzehnten gewandelt hat, stellt Stefan Glaser von jugendschutz.net dar. Gerade für Jugendliche wird heute einiges geboten, angefangen bei Musik bis hin zu „rechtsextremen Erlebniswelten“, die über das Netz verstreut angeboten werden. Mittlerweile hat die rechte Szene auch das Web 2.0 für sich entdeckt. Dieser Entwicklung kann nur dann entgegengewirkt werden, wenn alle – Provider, Plattformbetreiber, die Justiz, aber auch die Internetcommunity – zusammenarbeiten. Im Zentrum des zweiten Beitrags steht das Web 2.0. Simone Rafael (Amadeu Antonio Stiftung) beschreibt die Präsenz von Vertreterinnen und Vertretern rechtsextremen Gedankenguts in den sozialen Netzwerken, ihre Vorgehensweise, wie sie zu erkennen sind, und welche Möglichkeiten es gibt, sich gegen Rechtsextremismus im Netz zu wehren. Abschließend stellt sie das Modellprojekt no-nazi.net der Amadeu Antonio Stiftung vor.
Für Klaus Farin vom Archiv der Jugendkulturen e. V. wird die Bedeutung des Internets überschätzt, wenn es darum geht, Jugendliche für rechtsextremes Gedankengut zu gewinnen. Er plädiert dafür, Jugendliche nicht zu unterschätzen (in einem positiven Sinn), sondern ihnen zuzutrauen, dass sie rechte Einstellungen im Netz erkennen und sich dagegen zu wehren wissen. Worin die Arbeit des antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrums Berlin e. V. besteht, beschreiben die apabiz-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter Ulli Jentsch, Eike Sanders und Frank Metzger. Hier wird nicht nur neonazistisches Material gesammelt und verwaltet, Ziel des Vereins ist es, Wissen darüber bereitzustellen und zu schaffen, wie die Ausbreitung neonazistischer Ideologie verhindert und zurückgedrängt werden kann. In der darauffolgenden Zusammenstellung erläutert Jan Keilhauer, mit welchen Einstellungen eine rechtsextreme Überzeugung in der Regel einhergeht und wodurch diese begründet sein können. Außerdem zeigt er auf, an welchen Merkmalen Anhängerinnen und Anhänger der rechten Szene zu erkennen sind. Abgerundet wird das Thema durch die Empfehlung aktueller Medienprodukte. Elisabeth Jäcklein-Kreis hat sich für merz vorab den Film Kriegerin von David Wnendt angeschaut, der im Januar 2012 im Kino zu sehen ist. Kriegerin beschreibt die Geschichte einer jungen Frau, die zu einer rechten Clique gehört. Ein tragischer Unfall, den sie selbst verschuldet hat, bringt sie dazu, über ihre Einstellung nachzudenken. Elke Stolzenburg (JFF – Institut für Medienpädagogik) schließlich empfiehlt allen, die ihre eigene Einstellung einerseits und ihre Kenntnis der rechten Ideologie andererseits überprüfen wollen, das Online-Spiel Brauner Peter. Für die eher sachliche Auseinandersetzung mit Neonazismus und Rechtsextremismus verweist sie auf die Internetseite www.hass-im-netz. info von jugendschutz.net. Wir hoffen, dass wir Ihnen mit diesem Heft einige Informationen und Hintergründe zu einem schwierigen Thema liefern können und wünschen Ihnen nun eine anregende Lektüre.