Diane Ehrensaft
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Diane Ehrensaft: Wenn Eltern zu sehr...Warum Knder alles bekommen, aber nicht das, was sie brauchen
Welche Gründe gibt es, einen Erziehungsratgeber zu schreiben? Sieht man sich die einschlägige Literatur an, so ist die Frage schnell beantwortet: die Unerzogenheit der Kinder anderer Eltern. Die US-amerikanische Kindertherapeutin Diane Ehrensaft erklärt: „Die erste Anregung, dieses Buch zu schreiben, erhielt ich in einem gänzlich unverfänglichen Augenblick, als ich bei Freunden zum Essen eingeladen war. Ihre Fünfjährige, das Kind nicht mehr ganz junger Eltern, flitzte mit ihrem Dreirad um den Eßtisch herum. Mir verging Hören und Sehen. Weder konnte ich einen klaren Gedanken fassen, noch war ich in der Lage, den Erwachsenen oder den älteren Kindern am Tisch zuzuhören.“ (S. 21) Da die Eltern es nicht für nötig hielten, ihr Töchterlein darauf hinzuweisen, dass ihr Verhalten störte, übernahm dies die Autorin und erntete dafür entsetzte Blicke der Eltern. Auch der Journalist Till Bastian musste eingreifen, als der Freund seines 6-jährigen Sohnes ungestraft seine Mutter treten durfte, während diese sich mit Bastian unterhielt. Und ‚Mona Lisa’-Moderatorin Petra Gerster und ihr Mann, der Journalist Christian Nürnberger stellten fest, dass viele Kinder heute nicht mehr erzogen werden. „Sie haben keine Manieren. Sie sagen nicht bitte und danke, sie grüßen nicht, und sie schweigen nicht, wenn Erwachsene reden. Elementare Verhaltensweisen […] beherrschen sie nicht mehr.“ (S. 49)Damit ist einer der wenigen gemeinsamen Punkte der drei Erziehungsbücher auch schon genannt.
Ein weiterer besteht in der Zielgruppe: Alle drei richten sich an Eltern, genau genommen an Eltern der gebildeten Mittelschicht. Der Fairness halber soll gesagt sein, dass die Autorinnen und Autoren selbst dieser Schicht angehören und diese Personengruppe somit auch diejenige ist, die sie am besten kennen und beurteilen können. Eine dritte wichtige Gemeinsamkeit ist das schlechte Gewissen den eigenen Kindern gegenüber, die in der Zeit des Schreibens viel zu kurz gekommen sind – Ironie der Geschichte, bedenkt man, dass alle drei in der Tatsache, dass viele Eltern zu wenig Zeit für ihre Sprösslinge aufbringen, einen der Hauptgründe für die fehlende oder falsche Erziehung der heutigen Kinder sehen.So viel zum Gemeinsamen. Abgesehen davon sind die drei Werke aber recht unterschiedlich. Im Fall von Diane Ehrensaft liegt das zum einen daran, dass sie sich im Vergleich zu Bastian und Gerster/Nürnberger auf die USA und die dort lebenden Kinder und Eltern bezieht. Als einzige von den dreien setzt sie sich außerdem als Kindertherapeutin auch qua ihrer Profession mit Erziehungsproblemen auseinander. Beides führt dazu, dass man sich als deutsche Eltern bei der Lektüre immer wieder bei dem Gedanken ertappt, dass erstens das, was Frau Ehrensaft aus den USA berichtet, mit den Gegebenheiten in Deutschland oft nicht besonders viel zu tun hat, z.B. der ganze Stress, der aus der Wahl der richtigen Universität resultiert. Dass es sich zweitens bei ihren Beispielfamilien um Extremfälle handelt, die ihr in ihrer therapeutischen Praxis begegnet sind. Was geht uns das also an? Tatsächlich benennt Ehrensaft „vier Hauptfaktoren, die das Elternsein heute zu einer besonderen und zugleich qualvollen Aufgabe machen“:
1. Eltern haben wenig Zeit für ihre Kinder.
2. Es herrscht eine tiefgreifende Skepsis, ob Kinder eine glückliche Zukunft vor sich haben.
3. In vielen Fällen sind die Familienstrukturen brüchig. Die einzige konstante familiäre Bindung sind die Kinder.
4. Das ‚Peter-Pan-Syndrom’, das besagt, dass die heute 25- bis 40-Jährigen einer Generation angehören, die sich weigert, erwachsen zu werden.Zweifellos lassen sich diese Faktoren auch auf die Realität in Deutschland übertragen.Wenn es dann aber konkret wird, verlegt sich die Autorin auf extreme Beispiele äußerst verquerer und orientierungsloser Erziehung, die es einem schwer machen, sich selbst als Adressaten des Geschriebenen wiederzufinden. Alles in allem finden sich in diesem Buch interessante theoretische Anhaltspunkte, möchte man sich vor allem mit den Schwierigkeiten von Erziehung in der heutigen Zeit auseinandersetzen. Sucht man nach praktischen Anregungen für den Alltag, sollte man sich lieber Till Bastians Buch mit dem Titel „Kinder brauchen böse Eltern“ zuwenden. Im Untertitel liest man hier, „Erziehung zur Selbständigkeit“, und was er darunter versteht, erfährt man recht bald. Spätestens dann, wenn er auf die beiden Funktionen, die Eltern für ihre Kinder haben, zu sprechen kommt: Seiner Meinung nach sind Eltern „erstens Nährstoffbasis und zweitens Trainingspartner für ihre Kinder“ und vor diesem Hintergrund nur vorübergehend von Nutzen. Auf den ersten Blick scheint das nicht sehr viel zu sein, und man hat den Eindruck, diese Aufgaben könnte auch ein gut programmierter Computer erfüllen. Weiß der Autor, der doch selbst auch zwei Söhne hat, denn nicht, wie wichtig es für Kinder ist, von ihren Eltern geliebt zu werden, und überhaupt die ganze emotionale Seite …? Natürlich weiß er das, und beim genaueren Hinsehen wird auch deutlich, dass diese zwei Funktionen, vor allem die zweite, von einem Computer nicht zu erfüllen wären, weil ihm eben die Gefühle fehlen. „Trainingspartner“ bedeutet nicht nur, jemandem zu zeigen, wie etwas funktioniert, und dieser kann es dann. Es bedeutet für die Lernenden, dass sie Mut und Selbstbewusstsein entwickeln müssen, um den nächsten Schritt zu wagen.
Dies ist aber nur möglich, wenn man weiß, es gibt da jemanden, der einen liebt und akzeptiert, egal, was passiert. Wenn man sich im Training befindet, kommen auch Fehler vor, und zwar auf beiden Seiten. Bastian appelliert an die Eltern, dies auch zuzugeben und nicht gleich das Gefühl zu haben, man habe alles falsch gemacht. Unter dem Strich betrachtet ist dies ein kurzweiliges Buch, das mit vielen Beispielen die Realität beschreibt und dabei auch Unangenehmes nicht auslässt. Am Ende der Lektüre hat man das Gefühl, es ist zwar alles nicht ganz einfach, aber es ist zu schaffen. Ganz anders fühlt man sich, nachdem man „Der Erziehungsnotstand“ von Petra Gerster und Christian Nürnberger gelesen hat. Was hier zurückbleibt ist die Überzeugung, dass die Welt und die deutsche Gesellschaft und ihre Strukturen an sich so schlecht sind, dass man lieber keine Kinder in die Welt setzt. Eigentlich sind es ganz vernünftige Gedanken und Aussagen, die am Anfang dieses Buches stehen. Erziehung darf nicht ausschließlich als Privatsache der Eltern und Angelegenheit der Schulen betrachtet werden, heißt es da, und „darum ist eine öffentliche Debatte über Erziehung dringend nötig“. Wer wollte dem widersprechen? Was dann allerdings kommt, ist nicht besonders erfreulich.
Über 270 Seiten hinweg beklagen sich Gerster und Nürnberger über schlecht erzogene Kinder, Eltern, die ihren Nachwuchs vernachlässigen, die mangelhafte Schule und die Ungerechtigkeit, dass von den Schulen zu viel erwartet und verlangt wird. Sie prangern den Umstand an, dass Kindererziehung hierzulande nicht gewürdigt und gefordert wird, sondern Familien im Vergleich zu Kinderlosen immer den Kürzeren ziehen, und schließlich wenden sie sich natürlich auch noch gegen die bösen Medien, „unsere Trash-Medien, die alles tun, die Köpfe unserer Kinder und Jugendlichen mit ihrem medialen Junkfood zu verstopfen“. Was Gerster und Nürnberger da zusammengetragen haben, ist alles nicht neu, und leider haben sie auch keine neuen Aspekte gefunden, die dieses Buch zu etwas Besonderem machen.Petra Gerster, Christian Nürnberger: Der Erziehungsnotstand. Wie wir die Zukunft unserer Kinder retten. Rowohlt, Berlin 2001, 284 S., EUR 19,90Diane Ehrensaft: Wenn Eltern zu sehr … Warum Kinder alles bekommen, aber nicht das, was sie wirklich brauchen. Klett-Cotta, Stuttgart 2000, 309 S., EUR 17,00Till Bastian: Kinder brauchen böse Eltern. Erziehung zur Selbständigkeit. Droemer Knaur, München 2001, 222 S., EUR 15,50