Wofgang J. Fuchs
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Wolfgang J. Fuchs: Das Phänomen „Harry Potter“
Harry Potter ist ein Junge, der kurz vor seinem 11. Geburtstag erfährt, dass er von Zauberern abstammt, mithin selbst geborener Zauberer ist und von nun an ein Zauberinternat zu besuchen hat. Damit ändert sich schlagartig sein eher trübsinniges Leben bei Onkel Vernon und Tante Magda, wo er unter der Treppe in einer Abstellkammer hausen musste und unter den Launen seines fetten, verwöhnten Vetters zu leiden hatte.
Die Geschichte klingt nicht aufregend? Ist sie aber. Denn dahinter verbirgt sich ein Gedanke, der auch die Autorin der Harry-Potter-Bücher, Joanne K. Rowling, faszinierte: dass nämlich ein Kind der Enge der Erwachsenenwelt entflieht und an einen Ort gelangt, an dem es wörtlich wie bildlich Macht hat. Rowling nimmt die jugendlichen Allmachtsphantasien ernst und schafft in ihren Romanen eine Zwischenwelt außerhalb der Gesetzmäßigkeit der „normalen“ Welt.
Zu Beginn: eine Idee
Die Vorgeschichte des auf sieben Romane angesetzten Romanzyklus, der mit den ersten drei Bänden bereits international Furore gemacht hat, ist fast so sagenhaft wie der Inhalt der Bücher. Rowling hatte an der Exeter University für ihr Lehrerinnenexamen studiert. Sie hatte geheiratet und eine Tochter zur Welt gebracht, als ihre Ehe zerbrach. Alleinerziehend und arbeitslos, von der Sozialhilfe lebend, suchte sie eine Herausforderung, um nicht in Trübsinn zu verfallen. In einem Café bei einem Espresso und einem Glas Wasser begann sie handschriftlich ihren ersten Roman „Harry Potter and the Sorcerers’ Stone“ zu notieren, zu dem ihr die Idee während einer Bahnfahrt von Manchester nach London gekommen war. Sie arbeitete rund fünf Jahre am ersten Manuskript und tippte den Roman auf einer geliehenen Schreibmaschine zweimal ab, da sie nicht genug Geld hatte, um ihn zu fotokopieren. Schließlich erhielt sie vom Scottish Arts Council ein Stipendium, um das Buch fertigstellen zu können. Dann reichte sie das Manuskript bei einem Verlag ein, wurde aber prompt abgelehnt, weil die Lektoren befanden, das Buch sei für ein Kinder- respektive Jugendbuch zu umfangreich. Beim nächsten Versuch fand ihr Buch beim Verlag Bloomsbury (in England) sowie bei Scholastic Books (in USA) auf Anhieb Anklang. Nicht nur das. Auch der Gedanke, dass dies nur der erste Teil einer auf sieben Teile angelegten Buchreihe sei, zu dem sie schon das Handlungsgerüst fertig konzipiert hatte, gefiel den Lektoren.
Der erste Harry-Potter-Roman erschien, die Ehrungen häuften sich, ebenso die Nennungen in den Bestsellerlisten. Anfang Januar 2000 befanden sich die drei Potter-Romane seit Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times: „Harry Potter and the Sorcerer’s Stone“ seit 54 Wochen, „Harry Potter and the Chamber of Secrets“ seit 29 Wochen und „Harry Potter and the Prisoner of Azkaban“ seit 15 Wochen.
Das Potter-Virus
Harry Potter ist auch international ein Auflagenrenner. Es gibt die Romane bereits in 16 Ländern. Von den ersten drei Bänden wurden in England und USA zusammen über 5 Millionen Exemplare verkauft. In Deutschland hat der Carlsen Verlag von Band 1 und 2 im ersten Jahr immerhin 80 000 Exemplare abgesetzt und 1999 die Startauflage von Band 3 auf 70 000 erhöht. Die Romane haben inzwischen weltweit eine große Anhängerschaft. Verlage wie Fans haben Dutzende von Websites eingerichtet, auf denen man Auskünfte über die Autorin, die Bücher, aber auch über die gerüchteweise verlauteten Inhalte der Folgebände erfahren kann. So soll in Band 4 jemand zu Tode kommen, Harry seine Hormone entdecken und Band 7 mit dem Wort „Narbe“ enden! Beispiele für die Websites sind: www.scholastic. com/harrypotter/ oder harrypotter.freehosting.net oder harrypotter.iwarp.com und www.harrypotter. com sowie www.harrypotter.de. Natürlich hat auch der Carlsen Verlag eine eigene Harry Potter Webseite eingerichtet: hogwarts@carlsen.de. Lässt man Suchmaschinen nach Harry Potter forschen, findet man unzählige Sites. Und Hollywood hat auch schon angeklopft. 2001 will man sich bei Warner Brothers an eine Verfilmung von Joanne K. Rowlings Geschichten wagen.
Was es zu erzählen gibt
Um was genau geht es in diesen Romanen, die solchermaßen Furore gemacht haben, dass „Focus“ meinte: „Das Potter-Virus infiziert nun auch Deutschland“?
In Band 1, Harry Potter und der Stein der Weisen, steht wie schon erwähnt Harrys 11. Geburtstag bevor. Harry wohnt bei Familie Dursley, die aus seinem Onkel Vernon, seiner Tante Magda und seinem fetten, verwöhnten Cousin Dudley besteht. Da die Dursleys nichts von Zauberei wissen wollen, muß Harry in einer Kammer unter der Treppe hausen, bis eine erste Eule einen Brief für Harry bringt. Der Onkel vernichtet den Brief sofort. Daraufhin kommen weitere Briefe in sich steigernden Szenen der Groteske, die die Spannung steigen lassen, bis endlich auch für Harry klar ist, dass er ein besonderes Kind ist. Er stammt nicht nur von Zauberern ab, die von einem Bösewicht vernichtet wurden, dessen Namen (Voldemort) man in Zaubererkreisen nicht auszusprechen wagt. Nur Harry konnte er - außer einer Narbe auf der Stirn - nichts anhaben. Der Versuch, Harry zu töten, führte zum Verschwinden Voldemorts. Zauberer besuchen die Zauberschule im Alter von 11 bis 17 Jahren (Jeder Roman beinhaltet ein Jahr von Harrys Schulzeit, daher die Festlegung auf 7 Bände.). Deshalb darf auch Harry die Zauber-Internatsschule Hogwarts besuchen. Die Abfahrt beginnt um 11 Uhr am Bahnsteig 9 3/4 im Londoner Bahnhof King’s Cross, einem der Schnittpunkte zwischen der Welt der Zauberer und der Welt der Muggel (= Nichtzauberer). Was sich im ersten Schuljahr ereignet? Es zeigt sich, dass es auch in der Zauberwelt Parallelen zu den Schulen der Normalwelt gibt mit guten Freunden und neidischen Mitschülern, mit guten Lehrern und mit schlechten. Und mit so manchem Geheimnis, das bei nächtlichen Ausflügen lauert. Am Ende muss Harry sich noch einmal dem nicht endgültig geschlagenen Bösewicht stellen.
Der erste Band ist mit leichter Hand geschrieben. Er zieht einen sofort in seinen Bann, zumal er nicht nur geschickt Spannung aufbaut und konsequent mit den Unterschieden und Ähnlichkeiten der realen und der Anderwelt spielt, sondern weil er Witz und Charme hat und trotz der allgegenwärtigen Bedrohung durch das Böse nie Hoffnungslosigkeit aufkommen lässt. Die Erzählung ist brillant konstruiert und mit sicherem Stilgefühl geschrieben (und übersetzt). Sie sprüht vor Einfällen und köstlichen Dialogen.
Thomas Bodmer schrieb im „Magazin“ des „Tagesanzeigers“: „Die Bücher der 34-jährigen Joanne K. Rowling sind zwar für 9- bis 11-jährige gedacht, aber besser geschrieben als 92 Prozent der Erwachsenenliteratur.“Im zweiten Band wird ein unheimliches Geheimnis der Internatsschule Hogwarts aufgedeckt, das zunächst einigen Schülern Angst vor Harry macht, weil man ihn für einen Bösewicht hält. Trotz eines furchtbar aufgeblasenen Lehrers, der in Wirklichkeit nur ein Blender ist, gelingt es aber, alles wieder ins Lot zu richten. Nur Hagrid, mit dem sich Harry und seine Freunde Ron und Hermine angefreundet haben, gerät im Verlauf der Geschichte in einen bösen, aber unbegründeten Verdacht, dessentwegen er als Gefangener nach Askaban kommt, was den Anknüpfungspunkt für den dritten Band ergibt, von dem „Time“ meinte, man solle den Roman nicht zu spät am Abend anfangen, da man die letzten 80 Seiten nicht aus der Hand legen möchte, ohne sie zu Ende gelesen zu haben. Wenn man glaubt, dass die Harry-Potter-Romane nur unterhaltsam sind, greift man mit seinem Urteil daneben. Sie stecken nämlich so voller kluger Erkenntnisse und sind bei aller Fantasy doch Schlüsselromane über die Welt der Schulbildung und für die Erkenntnis unserer Realität und ihres dualistischen Wesens, das ständig zwischen Gut und Böse schwankt. Vielleicht ist es gerade die Schwebe zwischen realer Welt und Anderwelt, die über die vorhandenen unterhaltsamen Qualitäten hinausweist, da sie Wünsche und Hoffnungen der Leser befriedigt und ihnen eine eigene Welt eröffnet, die man mit Freude entdecken kann.
Ist es außerdem nicht erfreulich, dass ein Romanzyklus mit so umfangreichen Bänden selbst junge Leser dazu bringen kann, sich auf Bücher einzulassen und nicht nur elektronisch ein Weltbild zu entfalten? Man kann nur dazu raten, sich diese solide gemachten Schmöker nicht entgehen zu lassen, bevor sich Hollywood ihrer bemächtigt hat. Harry Potter hat es verdient, in unserer eigenen Phantasie Gestalt anzunehmen, ehe wir uns auf ein schnödes filmisches Abziehbild einstellen müssen. Die Harry-Potter-Romane sind im Carlsen Verlag, Hamburg erschienen und wurden von Klaus Fritz ins Deutsche übertragen.
Harry Potter und der Stein der Weisen, 1998, 336 S., DM 26,-
Harry Potter und die Kammer des Schreckens, 1999, 352 S., DM 26,-
Harry Potter und der Gefangene von Askaban, 1999, 448 S., DM 28,-
Wolfgang J. Fuchs: Das Phänomen POKéMON
Irgendwie war es ja immer so: Eine Sache wird „Kult“, eine Gruppe begeistert sich dafür, scheinbar alle Welt redet darüber, die Begeisterung verblasst, die nächste Welle ist angesagt. Manchmal hat man den Eindruck, das Kult-Karussell drehe sich immer schneller. Der neueste Hit heißt: Pokémon. In Deutschland begann alles eher unauffällig im Herbst 1999, als RTL II die heißeste Trickfilmserie in sein Programm aufnahm, eben Pokémon.
Nahezu aus dem Stand setzte die Mundpropaganda ein. Die Kids erzählten, dass ihre Schulkameraden eine neue Fernsehserie konsumieren, schauten eine Folge an und fanden sie zunächst nicht aufregender oder beeindruckender als alle anderen japanischen Animés vor ihr. Aber dann kamen Sammelkarten und Sticker und Game Boy-Spiele und Plüschtiere und Schlüsselanhänger und sogar eine eigene Monopoly-Version dazu. Und plötzlich brachen auch bei den eingefleischtesten kindlichen Gegnern die Dämme: Vom Kindergarten bis zur Mittelstufe setzte ein eifriges Tauschen ein, und die Namen - ob Pikachu oder Shiggi, Bisasan oder Mew - flogen nur so hin und her. Und mit dem Pokémon-Film scheint nur ein erster Höhepunkt des Poké-Fiebers erreicht.
Zur Geschichte der Pokémon
Der Pokémon-Film ist quasi das Sahnehäubchen des unvergleichlichen Siegeszugs, den die Spiele- und Spielkonsolenfirma Nintendo durch die Kinderzimmer aller Länder angetreten hat, seit „Pokémon“ als Game Boy-Spiel auf den Markt gebracht wurde. Bei diesem Spiel, momentan erhältlich als rote und blaue (ab Mitte Juni auch als gelbe) Variante, geht es im Wesentlichen darum, dass ein oder mehrere Spieler die aus Pokémon-Bällen springenden Pokémon trainieren und zu Wettkämpfen antreten lassen. (Man legt übrigens bei Nintendo großen Wert darauf, dass die Tierchen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - geschlechtsneutral sind, also immer als „das“ Pokémon bezeichnet werden, und dass auch im Plural kein „s“ angehängt wird. Ferner dürfen die Pokémon nur in Japan mit dem ursprünglichen Namen Pocket Monster bezeichnet werden, was die Grundidee noch einmal verdeutlicht: niedliche „Monster“ aus der Hosentasche.) Erfunden wurden die mehr oder weniger lieben Taschenmonster von Satoshi Tajiri (heute 34), dem Sohn eines Nissan-Verkäufers, der in einem Vorort von Tokio aufwuchs, weder studieren noch ein Lehre machen wollte und in die Videospielszene geriet, nachdem er als Kind Käfer und Insekten gesammelt hatte. Tajiri war ein „Otaku“, wie man in Japan Menschen nennt, die sich ganz auf Videospiele, Comics oder irgendeine andere Sache spezialisieren, und die gnadenlos sammeln, sammeln, sammeln. Sammelwut ist übrigens auch Bestandteil des Pokémon-Spiels. Irgendwann absolvierte Tajiri schließlich eine zweijährige Fachschulausbildung in Elektronik. Die meiste Zeit aber verbrachte er in Spielsalons. Tajiris fanatische Begeisterung für das Spiel „Space Invaders“ führte schließlich dazu, dass ihm ein Ladenbesitzer einen Space-Invaders-Automaten schenkte. Zusammen mit seinem Freund Ken Sugimori gründete Tajiri 1982 eine Fanzeitschrift für Videospiel-Freaks, GameFreak.
Da die beiden mit der Qualität vieler Spiele unzufrieden waren, wollten sie ein eigenes Spiel entwickeln. Tajiri zerlegte einen Game Boy, um herauszufinden, wie er selbst ein Spiel machen könnte. Dabei fiel ihm besonders die Kabelverbindung auf, mit der man zwei Game Boys zum gemeinsamen Spiel verbinden kann. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, beim gemeinsamen Spiel Figuren zu finden und zu tauschen, wäre das doch etwas Besonderes... So entstand die Idee zu Pokémon, wobei Sugimori die Wesen zeichnete, die Tajiri entwarf. Nintendo nahm Tajiri unter Vertrag, konnte aber anfangs nichts Rechtes mit der Idee des jungen Mannes anfangen, da es diesem zunächst schwerfiel, sein Konzept schlüssig zu erklären. Man sah darin aber zumindest etwas potenziell Brauchbares. Als das Spiel ausgereift war, wurde es ab 1996 vermarktet. Zu diesem Zeitpunkt galt in der Branche jedoch der Game Boy als ein Spielzeug von gestern, über das man nicht mehr berichten musste. Deshalb rechnete man bei Nintendo nicht mit großen Umsätzen, tat sich aber doch mit dem Comic-Verlag von Masakazu Kubo zusammen, der erste Hefte herausbrachte, in denen auch Sammelkarten enthalten waren. Während die Fachwelt und die Videospielfirmen auf neue Entwicklungen setzten, entdeckten die japanischen Kinder die Pokémon, die für sie - im Gegensatz zu den neuen Konsolen und CD-ROM-Spielen - im erschwinglichen Taschengeldbereich lagen. Sie stiegen auf das Spiel und auf das Sammeln voll ein. Und zwar auf das Sammeln als Teil des Spiels wie auf das Sammeln der Spielkarten und Sammelkarten. Tajiri war gewitzt genug, in sein Spiel nicht nur die offiziell aufgelisteten 150 Pokémon einzubauen, sondern auch (angeblich ohne Wissen von Nintendo) ein 151. Taschenmonster im Spiel zu verstecken, das man nur findet, wenn man genügend andere Figuren sammelt und tauscht. Diese Tatsache wurde zunächst als Gerücht ausgestreut. Und die Flüsterpropaganda sorgte dafür, dass sich diese Erkenntnis verbreitete. Ein Spiel mit einem Geheimnis, das erst wenige gelüftet hatten? Der Run auf Pokémon begann.Die eskalierende ProduktionNintendo erkannte, dass die Pokémon ein Hit werden würden. Folgerichtig tat man sich um, auch noch eine Trickserie produzieren zu lassen, in der der 10-jährige Ash (im Original heißt er wie sein Erfinder Satoshi) mit seinen Pokémon, allen voran das Maus-Pokémon Pikachu, zahlreiche Abenteuer und Poké-Kämpfe besteht, die zum Teil in einer Art Olympischer Spiele organisiert sind. Die Serie wurde binnen kürzester Zeit zum Renner auf dem Kinder-Fernsehsektor in Japan. Und die Serie war letztlich auch ein gigantischer Dauerwerbespot für die Pokémon-Spiele. Ärger gab es allerdings im Dezember 1997, als in einer Folge Pikachu seine elektrische Energie in einer solchen Farborgie entlud, dass 700 Kinder sich in epilepsieähnlichen Krämpfen vor ihrem Fernseher wanden. Die Fernsehserie wurde für vier Monate abgesetzt und das tricktechnische Konzept überarbeitet, um derartige Vorfälle in Zukunft zu vermeiden. Man hätte bei der Produktion der Serie vielleicht einmal die Warnung lesen sollen, die dem Käufer von Video-, Nintendo- und GameBoy-Spielen in aller Regel ins Begleitheft geschrieben wird: „Bei einem sehr kleinen Teil der Bevölkerung besteht die Befürchtung, dass die Betrachtung bestimmter Arten blinkender Lichter oder Muster, die in unserer Umgebung alltäglich sind, epileptische Anfälle oder einen vorübergehenden Bewusstseinsverlust auslöst. Gefährdete Personen könnten bei Betrachtung bestimmter Fernsehbilder oder beim Spielen bestimmter Videospiele einen Anfall erleiden. Personen, die noch keine Anfälle erlitten haben, können nichtsdestoweniger epilepsiegefährdet sein.“ Je kleiner der Bildschirm, desto ungefährlicher, so heißt es. Wahrscheinlich haben deshalb die GameBoy-Geräte so winzige Bildschirme.Obwohl Pokémon wegen dieser Vorfälle eine ziemlich schlechte Presse hatte, begannen Verhandlungen mit Nintendo America, um das Spiel auch dort einzuführen. Obwohl man Bedenken hatte, das Spiel könnte wegen seines Rollenspielaspekts in Amerika nicht ankommen, sah man auf die positiven demographischen Faktoren: Kinder beiderlei Geschlechts von 4 bis 15 liebten in Japan die Figuren. Warum sollten sie das in USA nicht auch tun? Die Rechnung ging auf. Das Spiel wurde ein Erfolg, die (überarbeitete, amerikanisierte) Fernsehserie ebenfalls. Fever!
Mittlerweile war in Japan im Juli 1998 der erste Pokémon-Film herausgekommen. Er landete 1999 auf Platz 4 der japanischen Kassenhits. Beim Kinostart in USA, im November 1999, bot ein Fernsehsender Karten für die Premiere an. Das führte dazu, dass nicht nur das Telefonsystem von Warner Bros. (den amerikanischen Verleihern), sondern von ganz Burbank zusammenbrach, weil 70.000 Anrufer pro Minute versuchten, die Karten zu ergattern. Mit einem Umsatz von 52 Millionen Dollar am Startwochenende übertraf der Pokémon-Film in USA alle bisherigen November-Filmstarts. Im Weihnachtsgeschäft 1999 rechnete man bei Nintendo damit, allein in Kanada eine Million Spiele abzusetzen, in Europa 1,5 Millionen. Ganz zu schweigen von den Einnahmen aus dem Lizenzgeschäft mit Zeitschriften, Sammelkarten, Spielzeug usw. Speziell in Amerika führte die Pokémon-Sammelwut zu vereinzelten Auswüchsen: in New York stach ein Neunjähriger einen älteren Mitschüler beim Streit um Pokémon-Sammelkarten nieder, ein ähnlicher Fall wurde aus Kanada gemeldet. Viele Lehrer und Eltern zeigen sich nicht nur deshalb besorgt. Sie sehen das Pokémon-Phänomen auch als eine riesige Geschäftemacherei, fast schon als eine Lizenz zum Gelddrucken, und das nicht ganz zu Unrecht, betrachtet man einmal die Preise etwa für Sammelkarten oder Plüschtiere. Erwachsenen bleibt die Welt der Pokémon ohnedies zumeist verschlossen, denn sie weigern sich in aller Regel, 151 Namen von Fantasietieren auswendig zu lernen, wie das die Kinder mit Begeisterung tun. Somit eröffnen die Pokémon den Kindern eine eigene, geheimnisvolle Wunschwelt, in der sie gegenüber den Erwachsenen im Vorteil sind. Und welches Kind könnte diesem Angebot widerstehen? Unter diesem Aspekt ist es kein Wunder, dass die Pokémania auch Deutschland vor den Augen einer ungläubig staunenden Schar von Eltern, Lehrern und sonstigen Erwachsenen überrollt hat. Auch hier ist der Pokémon-Film das geldbringende Sahnehäubchen. Eigentlich besteht der Film ja aus zwei Teilen, einem Vorfilm und dem eigentlichen Hauptfilm. Im Vorfilm „Pikachus Ferien“ werden sowohl dem Uninitiierten als auch den bereits Pokémon-Kundigen eine Reihe Pokémon samt ihren Kräften in einer witzigen Aneinanderreihung von Szenen vorgeführt, wobei das Lieblingspokémon Pickachu die Hauptrolle spielt. Dann geht es nach einigem Raunen („War das schon alles?“ - „Das kann doch nicht sein, oder?“ - „Ich will endlich Kämpfe sehen!“) zum Hauptfilm. Der beginnt mit der zunächst eher verblüffenden Einleitung einer aus dem Off sprechenden Stimme, die sich fragt, woher sie kommt und was der Sinn des Lebens ist. Dann stellt man fest, dass der Frager „Mewtu“ ist, ein vom 151. Pokémon „Mew“ geklontes und verstärktes Duplikat, das in einem Labor gezüchtet worden ist. Aber Mewtu findet seine Schöpfer anmaßend und setzt seine Pokémon-Kräfte ein, um das Labor zu vernichten und sich die Welt zu unterwerfen.Die Geschichte von Ash, Pikachu und vielen anderenSzenenwechsel: Ash (die Hauptperson der Serie) und seine Freunde Rocko und Misty sind bei einem Picknick. Ash ist ein Besitzer des beliebtesten Pokémon, „Pikachu“. Noch ehe das Picknick beginnen kann, kommt ein anderer Pokémon-Besitzer, der die Kräfte seines Wesens mit Ashs Pikachu messen will. Es entspinnt sich ein Wettkampf der Pokémon-Wesen, der vom Team Rocket beobachtet wird, die immer den Pokémon und ihren Herrchen den Spaß verderben wollen. Als Ash gesiegt hat, wird ihm eine Einladung zu einem Pokémon-Wettkampf auf einer geheimnisvollen Insel überbracht.Die Fähre kann aber nicht zur Insel übersetzen, da Sturm aufkommt. Die mutigsten Pokémon-Trainer, darunter natürlich Ash und seine Freunde, wagen auf eigene Faust die Überquerung der sturmgepeitschten See. Auf der Insel erfahren sie, dass sie von Mewtu eingeladen wurden, der erst die Pokémon-Trainer besiegen will, ehe er die Welt von den Menschen und den Pokémon reinigt. Die Pokémon-Trainer mühen sich redlich, aber vergebens, etwas gegen Mewtu und die von ihm inzwischen geklonten Pokémon-Derivate zu unternehmen. Auch das heimlich angereiste Team Rocket, das von dem ebenfalls herbeigeeilten Pokémon Mew neugierig beobachtet wird, will sich einmischen. Ebenfalls vergebens.Schließlich lässt Mewtu alle Pokémon von fliegenden Poké-Bällen einfangen, um auch sie klonen zu lassen. Ash will aber nicht zulassen, dass Pikachu geklont wird. Er stürzt hinter Pikachu in die Maschinerie und kann sein Pokémon und die der anderen befreien. Das Team Rocket sorgt unabsichtlich dafür, dass dennoch rasend schnell Klone produziert werden. Nun kommt es zu einem Entscheidungskampf Mewtu gegen Mew. Ash erkennt, dass der Kampf nur zu beenden ist, wenn die Pokémon und die Klone erkennen, dass der Kampf sinnlos ist, weil er unter falschen Voraussetzungen stattfindet. Ash will den Kampf beenden, indem er sich zwischen Mewtu und Mew wirft. In deren Energiefeld verwandelt er sich zu Stein. Sein Opfer beendet den Kampf. Pikachu vergießt die erste Träne, alle anderen Pokémon und Klone tun es ihm gleich. Ihre Tränen erlösen Ash, und Mewtu erkennt, dass Menschen und Pokémon in Frieden miteinander leben können, dass mithin der erste Eindruck, den es durch seine „Schöpfer“ von den Menschen hatte, falsch war. Daraufhin verschwindet Mewtu mit seinen Klonen in eine andere Welt und sorgt dafür, dass alle Anwesenden vergessen, was passiert ist. Nur der Zuschauer vergisst nicht.
Pädagogische Warnlichter?
Zunächst ist man versucht, den Pokémon-Film (wie auch die Fernsehserie, die seit Herbst 1999 auf RTL II läuft) für eine der üblichen japanischen Trickserien zu halten, bei denen es darum geht, dass irgendwelche Gute gegen irgendwelche Böse kämpfen. Der Animationsstil, eine gigantische Weiterführung des bereits seit Biene Maja und Heidi bei uns heimisch gewordenen japanischen Animationsstils, trägt zunächst zu diesem Eindruck bei. Störend wirkt an diesem Film für den erwachsenen Zuschauer jedenfalls der Eindruck, dass die Geschichte auf dem Weg von Japan nach Amerika ziemlich offensichtlich bearbeitet und um einiges gekürzt wurde, das zu Erklärung bestimmter Handlungsabläufe sinnvoll wäre. Dadurch wirkt auch der filmische Überbau, die Suche nach dem Sinn des Lebens, auf den ersten Blick etwasmerkwürdig aufgesetzt. Das ständige Kräftemessen (das natürlich aus der ursprünglichen Spielidee kommt), mündet im Verlauf der Handlung in eine gigantische Auseinandersetzung. Das sieht aus wie Fernsehanimation und ist es auch. Der Pokémon-Film ist typisch für einen Trickfilm der Marke Animé, die sich vom Hollywood-Trickfilm durch die Themenwahl und die limitierte Animation unterscheidet, daneben aber auch Elemente der Mangas, der japanischen Comics einsetzt. Man ist geneigt, beim Pokémon-Film die pädagogischen Warnlichter einzuschalten, weil das märchenhafte Kostüm (das Motiv der Versteinerung, Frankenstein usw.) einmal mehr nur dazu dient, endlose Streit- und Kampfhandlungen zu legitimieren. Aber letztlich tröstet man sich dann doch mit dem positiven Aspekt, dass es den Machern von Pokémon offensichtlich doch nicht um Streit und Kampf, sondern allenfalls um friedlichen Wettstreit geht. Die Betonung von Freundschaft und Harmonie, von Teamgeist und Versöhnlichkeit, von Trainieren und Lernen, die es ermöglicht, selbst Hass und Streitsucht zu überwinden, ist gerade in der zerrissenen Welt von heute wichtig. Daher mildert sich der Blick auf die Geschäftemacherei ein wenig, die sich nicht zuletzt darin äußert, dass zum Titel Pokémon die Unterzeile „Schnapp sie dir alle!“ gehört. Zwar wird gewiss kaum ein Kind automatisch gut und lerneifrig, wenn es sich Pokémonfiguren oder -sticker kauft oder diesen Film ansieht. Aber vielleicht bleibt trotzdem irgendwo und irgendwie etwas von der gut gemeinten Message hängen, die latent immer mitgekauft wird. Zu hoffen wäre es jedenfalls. Wie lange das Pokémon-Fieber wohl vorhält? Wann kommt der nächste „letzte Schrei“? Noch werden Wetten angenommen.
Wolfgang J. Fuchs: Faszination Comics
Der Direktor der Frankfurter Buchmesse, Lorenzo A. Rudolph, bezeichnete den diesjährigen Themenschwerpunkt Comics als „die augenfälligste Neuerung“ bei der Messe. In den letzten Jahren habe sich „aus der Kunst der Sprechblasen ein Medium der Populärkultur und ein weltweiter Markt entwickelt“, der mit Vorträgen, Diskussionsrunden, Live-Aktionen, Marktstudien und Ausstellungen im Comic-Zentrum vorgestellt werden soll, das als langfristiges Projekt die Buchmesse drei Jahre lang begleiten wird.Ein wenig klingt das so, als wären die Comics für die Buchmesse noch einmal neu erfunden, zumindest aber gerade erst neu entdeckt worden. Dabei waren sie in den letzten Jahrzehnten dort immer schon vertreten, wenn auch nicht solchermaßen im Mittelpunkt. Die Buchmesse war in der Vergangenheit nicht nur ein Umschlagplatz der Buchlizenzen, sondern seit vielen Jahrzehnten auch ein Umschlagplatz der internationalen Comic-Literatur. Die bunten Stände der Comic-Verlage müssen aber jemand so sehr aufgefallen sein, dass man beschloss, die Comic-Verlage nicht mehr nach Sparten zu sortieren und über die ganze Buchmesse zu verteilen. Die großen Verlage waren zwar immer noch an ihren Stammplätzen zu finden, aber man konnte sie heuer ein zweites Mal in trauter Nachbarschaft mit den kleineren einschlägigen Verlagen um das Comic-Zentrum gruppiert antreffen.
Die Eröffnung des Comic-Zentrums durch Lorenzo Rudolph, Paul Levitz, den Executive Vice President und Publisher DC Comics, sowie durch den japanischen Botschafter machte deutlich, dass es der Buchmesse mit dem Bemühen um die Comics ernst ist. Eine schöne Geste war, dass Levitz das Zentrum dem unlängst verstorbenen Comic-Genius Carl Barks widmete, interessant der Hinweis des japanischen Botschafters, dass die japanischen Comics, die so genannten Mangas, ihren großen Erfolg dem Umstand verdanken, dass wenig finanzkräftige junge Leute sich mit den Mangas zu aktuellen gesellschaftlichen Problemen äußern können, was auch den Erfolg dieser Comics ausmacht.Die Diskussionsrunden und Workshops vertieften verschiedene Aspekte der Comics und dienten auch der Informierung jener Buchhändler, die sich immer noch schwer damit tun, Comics in ihre elitären Regale zu integrieren. So befasste sich der Comic-Buchhändler Wolfgang Strzyz, der überaus rührig und geschickt den Ablauf der ganzen Veranstaltung betreute, nicht nur mit der deutschen Comic-Geschichte, sondern machte auch Buchhändlern klar, was im Comic-Sektor Long- und Bestseller sind, die auch der durchschnittliche Buchhändler anbieten könne.
Bei der Diskussion um die Zukunft der Comics in Deutschland durfte man erfahren, dass die Comic-Verleger nicht mehr so düster in die Zukunft blicken wie noch vor einigen Jahren. Der Markt hat sich in den letzten Jahren konsolidiert. Es gibt neben dem Buchmarkt, der vor allem auf der Buchmesse interessiert, wieder einen Zeitschriftenmarkt für Comics, der allerdings stärker von Aktion und Reaktion geprägt ist als früher. Michael Müller vom Dino Verlag wies darauf hin, dass in seinem Haus Comics besonders im Medienverbund produziert werden. Comics zu Filmen und TV-Serien sind en vogue und werden ‘mit heißer Nadel gestrickt’. Die entsprechenden Hefte sind nicht für die Ewigkeit konzipiert. Erlahmt das Interesse an einer Serie, wird die zugehörige Heftreihe gnadenlos eingestellt.Von Michael F. Walz vom Ehapa Verlag konnte man erfahren, dass sich Ehapa nach wie vor überwiegend als Lieferant des Zeitschriftenhandels sieht und die Buchproduktion nur zehn Prozent des Umsatzes ausmacht. Walz bestätigte erstmals offiziell, was man sich ohnehin leicht selbst ausrechnen konnte: Der Auflagenrückgang des Flaggschiffs „Micky Maus“ ist letztlich darauf zurückzuführen, dass Ehapa in den letzten Jahren fast die gesamte Konkurrenz an Kinder-Comicthemen an sich gezogen hat. Und je mehr man als Verlag sein Zeitschriftenangebot diversifiziert, desto eher muss damit gerechnet werden, dass traditionell gut verkaufende Titel Einbußen erleiden, weil es neben der Vermehrung der Titel nicht gleichzeitig eine wunderbare Vermehrung der Kaufkraft gibt.Speziell auf dem Sektor der Mangas hat Ehapa zudem solch rasante Zuwächse, dass in einem Hochglanzprospekt dreisprachig (Deutsch, Englisch, Japanisch) auf die neue Abteilung Egmont Manga & Anime Europe GmbH hingewiesen wurde, die entsprechende Kooperationen zwischen Japan und Deutschland besser bündeln soll.
Nicht uninteressant auch, was Chuck Rozanski, der Chef von Mile High Comics, der größten Comic-Handlung der USA, über Comics und Internet zu sagen hatte: in Zukunft könne mit Comics im Internet nur ein Geschäft gemacht werden, wenn sie dort gratis bleiben. Er plädierte für ein Sponsoring der Arbeiten von Internet-Zeichnern durch die Comic-Verlage, um durch die Zahl der Besuche auf den jeweiligen Websites die ‘Renner’ herausfiltern zu können, die man dann später im greifbareren Medium Buch verkaufen könne.Während der Buchmesse wurde auch der erste Online-Comic-Award verliehen. Elke Reinhart gewann diesen Preis für ihr Werk „Nachschlag“, das auch den Sonderpreis für bestes Artwork erhielt. Nähere Einzelheiten zu den Online-Comics findet man auf der Website www.ocx-award.de. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass der ORF auch auf dem Sektor Online-Comics tätig ist. Nähere Informationen und die Online-Comics findet man unter comics. orf.at (ohne vorangestelltes www).
Wolfgang J. Fuchs: Remake eines Kultfilms
Als es begann„Wir haben die Absicht, jedes Jahr eine neue Fassung von FANTASIA herauszubringen. Die flexible Struktur des Films ermöglicht das und es wird eine große Freude sein, daran zu arbeiten. FANTASIA ist kein Konzertereignis, weder Varieté noch Revue, sondern eine großartige Verbindung von Komödie, Fantastik, Ballett, Drama, Impressionismus, Farbe, Klang und epischer Wucht.“ Das sagte Walt Disney 1941, ein Jahr nach Fertigstellung des ursprünglichen FANTASIA-Films, für den er ein eigenes Raumton- und ein Breitwandverfahren entwickelt hatte. Der Film von 1940 wurde jedoch an der Kinokasse ein Flop und auch viele Kritiker mäkelten sehr an der Kombination von (bearbeiteter) klassischer Musik und Zeichentrick herum. Bosley Crowther, der Kritiker der New York Times fand hingegen schon damals nur Lob für den Film und nahm ihn später als einzigen Trickfilm in seine Liste der 50 besten Filme aller Zeiten auf. Bei der ersten großen Wiederaufführung 1956 schrieb FANTASIA erstmals schwarze Zahlen. Endgültig als Kultfilm galt er beim erneuten Kinoeinsatz im Jahr 1969. Nun wurde der Film einmütig von der Kritik ob seiner Farbigkeit, seiner Modernität und seiner kühnen Kombination von Kunst und Kommerz hochgelobt.Disney selbst hat den Plan einer Weiterführung des Films nie in die Tat umgesetzt. Er hat aber zum Kultstatus des Films dadurch beigetragen, dass er den Film häppchenweise auch in seine Fernsehsendungen eingebaut hat. Selbst zu Zeiten des Schwarzweißfernsehens wirkten diese Häppchen, die auch im deutschen Fernsehen gezeigt wurden, verblüffend frisch und wohltuend anders als der übliche Trickfilm.
Kein Wunder also, dass die Vertrautheit mit den Einzelteilen später zum Erfolg des farbigen Ganzen beitrug.Der neu gestaltete FilmDisneys Äußerung von 1941 ließ aber seinen Neffen Roy E. Disney nicht ruhen, der mittlerweile der Leiter der Animationsabteilung bei Disney ist. Als der restaurierte FANTASIA-Film 1991 eine der meistverkauften Videoveröffentlichungen wurde, konnte er sich daran machen, den Traum von einer Fortsetzung des Originals zu realisieren. „Rhapsody in Blue“, „Karneval der Tiere“ und „Der Feuervogel“ hatte man bereits in den 40er Jahren für eine mögliche Fortsetzung in Erwägung gezogen.Man einigte sich schließlich auf folgendes Programm:Ludwig van Beethoven: 5. SinfonieOttorino Respighi: Pini di RomaGeorge Gershwin: Rhapsody in BlueDimitri Schostakowitsch: Klavierkonzert Nr. 2, Allegro, op. 102Camille Saint Saëns: Der Karneval der Tiere, FinalePaul Dukas: Der Zauberlehrling (Übernahme aus dem FANTASIA-Original)Sir Edward Elgar: Pomp and Circumstance, Märsche 1, 2 ,3 und 4Igor Strawinsky: Der Feuervogel - Version von 1919(Beim Abspann mündet Beethovens 5. Sinfonie in Elgars Pomp and Circumstance.)Natürlich war allen Beteiligten klar, dass auch beim neuen FANTASIA-Film die Musik dem Medium angepasst werden müsste. Wer also diesmal den absoluten Klassikerklang erwartet, wird wieder enttäuscht werden. Aber wenn Hollywood schon bei Romanverfilmungen - aus welchen dramaturgischen oder finanziellen Erwägungen heraus auch immer - mehr oder weniger gravierende Änderungen vornimmt, weshalb sollte dann bei der Umsetzung von Musik ins Bild eine andere Arbeitsweise gelten. Betrachtet man die für FANTASIA 2000 zur Filmmusik mutierten Klassiker in Verbindung mit den Bildern, so zeigt sich, dass durch die Synästhesie ein Synergieeffekt entsteht, der beim Betrachter das Wissen um die Veränderungen der Musik überlagert, wenn nicht gar verdrängt, weil Bild und Ton eine optimale Symbiose eingegangen sind. Um die Geduld des Publikums nicht zu strapazieren, hat man das Programm zudem auf schlanke 75 Minuten beschränkt.
Zur Verbindung der einzelnen Sequenzen hat man diesmal „Ansager“ eingesetzt, angefangen mit dem Komiker Steve Martin, über Bette Midler und Quincy Jones bis hin zu Angela Lansbury... und Micky Maus. Steve Martins witziger Einstieg mit einem endlosen Wortschwall wird dabei sogleich ad absurdum geführt, indem ihn die Kamera links liegen lässt, und ganz am Ende des Films, nach dem Abspann ist er noch einmal zu vernehmen, wenn er immer noch fragt, ob irgendwer da ist, der ihm zuhört. Den besten Verbindungsteil hat Micky Maus, der zunächst nach dem Zauberlehrling wie im Original mit Dirigent Leopold Stokowski spricht, dann zu James Levine, dem Dirigenten einiger der neuen Sequenzen, läuft und ihm eröffnet, dass Donald Duck für seinen Auftritt noch nicht bereit sei. Danach hört man Micky in allen Ecken und Enden des Kinos Türen aufreißen, bis er endlich Donald beim Baden findet und zu seinem Auftritt in Elgars „Pomp and Circumstance“ abholt.Die musikalischen InterpretationenMit Beethovens Fünfter beginnt der Film: eine Mischung aus Abstraktion und Konkretion. Lichtsäulen, die aus Wolken hervorbrechen, zaubern eine Menge abstrakt-bunter Schmetterlinge hervor, die in Wirklichkeit nur bewegte Dreiecke in leuchtenden Farben sind. Die bunte Vielfalt wird allmählich von erdrückend düsteren schwarz-roten Dreiecken bedroht, ehe der Farbenrausch des Lebens, von neuerlichen Lichtblitzen unterstützt, siegt.
Die Pinien von Rom inspirierten die Trickzeichner zu etwas völlig anderem. Respighis Musik wird illustriert von einem Paar majestätisch durchs Polarmeer schwimmender Blauwale und ihres Kindes. Je mehr sich die Musik steigert, desto mehr heben die Wale ab und beginnen schließlich anmutig zu fliegen. Dann wird das fliegende Walkind von einem Möwenschwarm angegriffen, entkommt in einem Eisberg und steigt in einer Lichtsäule auf zu seinen fliegenden Eltern, die alsbald eine ganze Walherde im Flug durch die Wolken ins Weltall führen. Eine überraschende und doch anrührende Neuinterpretation der „Pinien von Rom“, die allenfalls noch in Form riesiger Eisnadeln im Innern des Eisbergs in Erscheinung treten.Die „Rhapsody in Blue“ verwendet den grafisch flotten Zeichenstil des Karikaturisten Al Hirschfeld und webt daraus einen Tag in New York, an dem die sich überschneidenden Geschichten von vier Hauptfiguren in einer Schlussapotheose glücklich enden. Dieser Teil ist mit so viel Detailliebe und Witz inszeniert, dass, nicht zuletzt dank Gershwins Musik, eine rasante Miniatur entsteht, die das Lebensgefühl der 30er Jahre sinnfällig macht.Schostakowitschs Klavierkonzert Nr. 2 wird zum treibenden Moment in der Geschichte vom standhaften Zinnsoldaten. Diese Märchenbearbeitung steht, auch in der Verwendung der klassischen Musik, in der Tradition von Disneys „Silly Symphonies“. Sie bringt die Geschichte von Liebe, Bedrohung und Erlösung auf naive und doch wirkungsvolle Weise in Bild und Ton zur Darstellung.
Das Finale von Saint-Saëns „Karneval der Tiere“ wird wie „Der Tanz der Stunden“ zu einer absolut rasanten, komischen Ballettnummer. Fünf orangerote Flamingos stelzen tanzend durch bonbonfarbenes Wasser. Plötzlich kommt ein pinkfarbener Flamingo dazu, der eine Vorliebe für ein Jo-Jo hat und mit diesem Spielzeug für gehörigen Wirbel sorgt. Diese komische Nummer ist ein Gegengewicht zum zuvor gezeigten, fast zu niedlichen Märchen.Paul Dukas „Zauberlehrling“ bringt Micky Maus auf die Leinwand. Der Klassiker der Ur-Version von FANTASIA wurde für diese Fassung noch einmal restauriert. Es ist schade, dass man ihn wie in einem Fernseher ins Filmbild einkopiert hat, so dass auf der Breitleinwand nicht nur rechts und links schwarze Streifen zu sehen sind, sondern auch oben und unten. Nichtsdestotrotz hat dieser Film über die Jahrzehnte nichts von seiner Dramatik und seinem Witz verloren. Bemerkenswert, dass man bei der Restaurierung einen langen Kratzer auf dem Film falsch eingefärbt hat, und dass bei der an das Musikstück anschließenden Begegnung Mickys mit Dirigent Stokowski der ursprünglich Technicolor-rote Hintergrund arg blass wirkt. Elgars Märsche des „Pomp and Circumstance“-Zyklus werden zum Hintergrund der Geschichte der Arche Noah gemacht. Kein Geringerer als Donald Duck ist der Verwalter, der dafür sorgt, dass je zwei Tiere einer jeden Art einchecken. Komische Situationen ergeben sich aus dem ständigen Verfehlen von Donald und Daisy, bis Donald nach der Sintflut beim Auskehren des Schiffes doch wieder auf sie trifft.Zum Abschluss gibt es mit Strawinskys „Feuervogel“ die Umsetzung des Motivs vom Werden, Vergehen und von Neugeburt, das in Variationen in allen sieben Geschichten vorhanden ist. Ein Hirsch und eine Elfe bringen der Welt den Frühling. Aber als die Elfe versehentlich den Feuervogel weckt, versinkt alles in Glut und Asche. Der Hirsch atmet der Elfe neuen Odem ein, und diese erweckt die Natur erneut zum Leben. Das wirkt zwar alles ein wenig gewollt und bombastisch, ist aber in so atemberaubender Flugbewegung gestaltet, dass man sich auch von diesem Stück beschwingen lässt.
Pädagogische Handreichungen?Das Dilemma von FANTASIA 2000 ist, dass der Film zwar unterhaltsam, sowie optisch und akustisch opulent ist, dass er aber eigentlich kein klar definierbares Zielpublikum hat. Vielleicht war das auch schon das Problem des Originals. Um die Kinoauswertung abzusichern, hat man bei Disney zum Film Begleitmaterial für die Schulen zusammengestellt. Zwei so genannte „Unterrichtspraktische Handreichungen“ werden angeboten, zum Thema Erzählen und zur Musik. In beiden Handreichungen wird betont, dass ein Besuch des Films für das Verständnis der Aufgaben nicht erforderlich ist. Dennoch wird natürlich immer wieder auf den Film Bezug genommen, schließlich ist er der Ausgangspunkt des Materials. Das Arbeitsheft zum Erzählen und zu Film und Informationszeitalter gibt zwar einige nützliche Anregungen, disqualifiziert sich in seinen Informationen aber selbst, da es üble Fehler enthält. Übel deshalb, weil die Verfasser des Materials (oder dessen Übersetzer?) offenbar nicht einmal die Geschichte ihres eigenen Studios kennen. Da wird zum Beispiel auf Seite 12 behauptet: „Walt Disneys Micky Maus hatte sein Debüt im ersten Film, der mit einer Mehr-Ebenen-Kamera gedreht wurde.“ Das ist blanker Unsinn. Der erste Micky-Maus-Film zeichnete sich dadurch aus, dass er der erste Zeichentrick-Tonfilm war. Die Mehr-Ebenen-Kamera wurde erstmals neun Jahre später bei dem Silly Symphony-Film „The Old Mill“ eingesetzt.Auch das Begleitheft zur Musik dürfte für so manche hochgezogenen Augenbrauen sorgen. Da heißt es etwa auf Seite 10: „Beschreiben Sie, wie sich das Motiv aus einer rhythmischen Idee (dadadaDAMM) und einer Folge von Tonhöhen (drei G und ein E Moll) zusammensetzt.
Spielen Sie es Ihren Schülern vor und lassen Sie es singen.“Mit einem dadadaDAMM ist das Motiv der 5. Sinfonie zwar beschrieben. Das dadadaDAMM wird bekanntlich wiederholt, aber um einen Ton tiefer. Aus den Unterschieden zwischen dem ersten und zweiten dadadaDAMM ergibt sich sodann eine Spannung, auf der die 5. Sinfonie aufbaut. Und was soll der Hinweis auf die Tonhöhen G und E Moll? E Moll ist bekanntlich kein Ton, sondern eine Tonart. Vermutlich hat der Übersetzer e flat (es) mit e minor (e-Moll) verwechselt.Solche Ungereimtheiten scheinen öfter auf. So wird etwa auf Seite 21 definiert, dass ein Dreiklang aus drei Tönen besteht, und dass das Intervall zwischen den Tönen eine Terz ist. Als Beispiel wird der Dreiklang auf A angegeben: A, C, E. Das ist zwar richtig, aber didaktisch schwach. Normalerweise beginnt man die Erklärung des Dreiklangs mit jenem auf dem Grundton C, weil der, anders als A-C-E, ein Dur-Dreiklang ist. Der Dur-Dreiklang auf A wäre aber A-Cis-E, was die Definition schon wieder erklärungsbedürftig macht. (Wo ist die kleine, wo die große Terz?)So sinnvoll es ist, FANTASIA 2000 zu nutzen, um den Musiklehrern Material zur Belebung des Unterrichts an die Hand zu geben, so sinnvoll wäre es gewesen, sich vor der Veröffentlichung des Materials mit den deutschen Lehrplänen im Fach Musik auseinander zu setzen. Dann wäre man vielleicht auf die Idee gekommen, dass es auch ein paar deutsche Lehrbücher als Lektüreempfehlung gegeben hätte, oder dass man für die Auseinandersetzung mit Texten im Deutschunterricht nicht einfach Bücher mit amerikanischen Kinderreimen verwenden kann.
Das pädagogische Brimborium, mit dem man den Filmstart von FANTASIA 2000 begleitete, ist sicher gut gemeint, aber für deutsche Verhältnisse unzulänglich. Wenn man sich schon die Mühe macht, eine Handreichung für Pädagogen als Werbegag für den Film herauszubringen, dann hätte man vielleicht etwas mehr Zeit und Geld für die Bearbeitung aufwenden sollen. In der vorliegenden Form bleibt es allenfalls eine Fußnote in Moll zu einem Film, bei dem man angenehm in Dur-Harmonie und -Laune versetzt werden und genießerisch entspannen kann.