Albert Fußmann
Vita
Ich bin bei merz seit …
… 2013
Aktivitäten
Direktor des Institut für Jugendarbeit Gauting, Fachbereich Kultur- und Medienpädagogik.
Schwerpunkte
Aktuell beschäftigt mich besonders …
… die veränderte Rolle der Öffentlichkeit bei politischen Prozessen; Stimmung ersetzt die Suche nach Fakten einerseits – aber auch andererseits die große Chance, dass jeder sich an der Meinungsbildung betätigen kann. Beteiligung ohne Demokratieerziehung macht wenig Sinn.
Außerdem sehe ich derzeit einen Nachholbedarf, um die kreativen und künstlerischen Potentiale der Neuen Medien in der Bildungs- und Jugendarbeit umzusetzen.
Beiträge in merz
Albert Fußmann, Ulrike Wagner: Jugendliche in mediatisierten Sozialräumen
Für die meisten Jugendlichen ist es mehr als selbstverständlich, sich die Welt über Kommunikations- und Onlinemedien anzueignen. Sie machen ihre Erfahrungen also sowohl unmittelbar im direkten Austausch in ihren Sozialräumen als auch vermittelt über diverse mediale Kanäle. Die Jugendlichen gehen Beziehungen ein, sie informieren sich, sie beteiligen sich – dazu dienen ihnen die Kommunikationskanäle der bekannten Sozialen Netzwerkdienste und Messenger, aber auch die traditionellen Massenmedien. Gleichzeitig sind die Sozialräume der Jugendlichen in ihren Funktionen als Begegnungs-, Identitäts- und Bildungsräume (Kreß 2010) zunehmend als mediatisiert zu betrachten – nicht zuletzt durch die ständige Verfügbarkeit von medialen Strukturen über Geräte, die in der Hosentasche auf ihren Einsatz warten bzw. den Nutzenden Signale geben, wann es wieder an der Zeit ist, sich um neue Nachrichten aus den Sozialräumen zu kümmern. Wichtige Voraussetzung ist dann, dass der WLAN-Zugang am aktuellen physischen Ort auch funktioniert.
Das Internet, genauer das WWW, durchzieht die Strukturen des alltäglichen Medienhandeln und der Sozialräume von Jugendlichen auf mehreren Ebenen:
- Es bildet eine Struktur, die alle anderen Massenmedien integriert, sei es nun Fernsehanbieter, Zeitungen und Zeitschriften, die alle ihre Online-Repräsentanzen haben. Professionelle neue Online-Anbieter wie Streamingdienste haben sich zudem längst etabliert. Sie machen den traditionellen Massenmedien hierbei Konkurrenz, beispielsweise in der Bereitstellung von Filmen, Serien, Spielen etc.. Inhalte zu rezipieren und in der Peergroup gemeinsam zu verhandeln, ist damit nicht mehr an eine bestimmte Zeit gebunden.
- Es bietet Individualkommunikation über verschiedene Kanäle, die mehr oder etwas weniger öffentlich zur Verfügung stehen. Der direkte Austausch mit anderen und die Beziehungspflege sind vor allem seit Einführung der SMS stark vereinfacht worden und damit noch weniger an körperliche Präsenz gebunden. SMS wurde nun längst abgelöst von Messengerdiensten, allen voran WhatsApp. Geblieben ist das Bedürfnis, sich – im jeweilig relevanten Sozialraum – zu anderen in Beziehung zu setzen. Im alltäglichen Medienhandeln von Jugendlichen ist die Beziehungspflege fest verankert. Damit formen sie auch die Strukturen ihrer Sozialräume beständig weiter.
- Es bietet Produktions- und Veröffentlichungsflächen für eigene Themen, Interessen und Anliegen und Vernetzung mit anderen – grundsätzlich unabhängig von physischen Orten. Die Möglichkeiten des Selbstausdrucks über Fotos und Videos eröffnet neue Perspektiven für die Arbeit an der persönlichen, aber auch der sozialen wie politischen Identität – sprich der Gruppe(n) und Räume, denen man sich zugehörig fühlt.Dies alles geschieht gleichzeitig nicht unabhängig von physischen ten wie der Schule, des Elternhauses oder gemeinsamen Treffpunkten. Sie sind auf vielfältige Weise im Medienhandeln präsent: Zum Beispiel im Posten von Fotos über bestimmte Orte, an denen man sich gemeinsam mit Freundinnen und Freunden aufhält, bei der Kommunikation mit Familienmitgliedern etc.. Gleichzeitig gestalten die Nutzenden über Online-Strukturen Räume, die die unterschiedlichsten Interessen und Wünsche befriedigen: Unterhaltung und Ablenkung genauso wie Orientierung und Verortung im sozialen Gefüge. Dieses Handeln ist dabei nicht digital oder analog, real oder virtuell. Im aktuellen Kinder- und Jugendbericht ist von „Grenzarbeit“ die Rede, da die digitalen Medien bisher „klare Raum- und Zeitbegrenzungen aufheben“ und somit die Jugendlichen – noch vor den Erwachsenen – vor die Aufgabe stellt, Grenzverschiebungen zu meistern. Die Grenzen verschieben sich „vor allem zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und Präsenz und Kopräsenz, aber auch zwischen Körper und Technik". (15. KJB, S. 273). Mithilfe von ‚adden‘, ‚liken‘ und ‚taggen‘ wird Meinung geäußert, aber auch am Selbstbild gearbeitet; Offenheit und der Wunsch nach Abgrenzung, Inklusion und Exklusion sind nur ein Mausklick nebeneinander.
Die mediatisierten Sozialräume sind Lebens- und Lernorte für die Heranwachsenden und damit auch verfestigend, bieten zum anderen aber eben auch die Chance, sich Neues zu erschließen und damit Ungleichheiten zu überwinden. Die emanzipatorische Vision eines freien Netzes, in dem sich jede und jeder frei äußern kann und dies letztendlich zu demokratischeren Strukturen für den Aufbau einer informierten und gleichberechtigten Gesellschaft führt, wurde von der Realität, sowohl auf der Ebene des Mediensystems, wie auch auf der Ebene der Subjekte überrollt. Das World Wide Web wird dominiert von einigen wenigen kommerziellen Großunternehmen, die über die internationale gültige Währung der Daten ihrer Nutzenden ihre Macht festigen und ausbauen. Auf der Ebene der Subjekte scheint aber auch die Habermas‘sche Idee des räsonierenden, vernunftbegabten Publikums nur für einen Teil der Internetnutzenden zu gelten, die nach wie vor Argumente austauschen, Informationen recherchieren und einer kritischen Analyse unterziehen, bevor sie sie veröffentlichen. Dies machen sie in einer Sprache, die das (digitale) Gegenüber mit Respekt behandelt. In anderen Teilen der Nutzerschaft dominieren Verschwörungstheorien,Hetze und Menschenverachtung. In der scheinbaren Anonymität des Netzes können dann auch zivilisatorische Errungenschaften, die auf grundlegenden Menschenrechten basieren, verloren gehen. Onlinestrukturen konstituieren also öffentliche Räume mit plötzlicher Wirkmacht von Meinungen, die vormals privat oder am Stammtisch geäußert wurden, weil sie persistent und dauerhaft verfügbar werden.
Gründe gibt es also genügend, um die Perspektive Jugendlicher, der pädagogischen Praxis und sozialwissenschaftlichen Forschung zum Themenkomplex Jugendliche und mediatisierte Sozialräume einzuholen. Ebenso ist die sozialräumliche Perspektive auch für die lebensweltorientierte Jugendarbeit zentral. Vor dem Hintergrund von Mediatisierungsprozessen
stellen sich dabei konkrete Herausforderungen: Sie ist erstens gefordert, den Umgang mit digitalen Strukturen systematisch in ihre Abläufe und Planungen zu integrieren. Zweitens muss sie aber auch die digitalen Medien selbst zum Bildungsgegenstand in allen Tätigkeitsfeldern machen. Die Forderung, Medienbildung in alle Bildungsprozesse zu integrieren, wird seit dem 11. Kinder- und Jugendbericht (2002) kontinuierlich bis zum 15. Kinder- und Jugendbericht (2017) aufgestellt. Alle relevanten Jugend- oder Bildungsorganisationen haben sich damit beschäftigt und entsprechende Papiere dazu erstellt, so zum Beispiel der Deutsche Bundesjugendring 2009, das Bundesjugendkuratorium
2013, die Arbeitsgemeinschaft Jugendhilfe (AGJ) 2015 und die BundesvereinigungKulturelle Jugendbildung 2016.
Der aktuelle Themenschwerpunkt der merz | medien + erziehung beleuchtet ausgewählte Facetten dieses Themenkomplexes und thematisiert, wie sich das Kommunikationsverhalten und di an der Identität in der Aufhebung von analoger und digitaler Welt gestaltet. Es wirft unter anderem einen Blick auf Jugendliche, die in ländlichen Räumen aufwachsen und skizziert geschlechtsspezifische Aneignungsweisen in mediatisierten Sozialräumen. Quer über alle Beiträge zieht sich die Frage, in welcher Form Jugendliche in ihrer Souveränität gestärkt werden können, um ihre Sozialräume eigenständig zu gestalten und sich das Internet als öffentlichen Raum der Auseinandersetzung mit sozialen, kulturellen und politischen Themen zu erschließen.
Zu diesem Heft
Franz Josef Röll untersucht die Gesellungsformen von Jugendlichen. Er argumentiert, dass für die Bildung von Identität reale und virtuelle Gesellungsformen unumgänglich sind. Gerade virtuelle Räume bieten hier Potenziale für die Vermittlung von Orientierung und können helfen, die ‚Wahlverwandtschaften‘ Partizipation, Vernetzung und Beziehungskultur miteinander zu verbinden. Die Eingebundenheit in eine soziale Gemeinschaft kann zugleich auch als zeitgemäße Notwendigkeit angesehen werden, um sich in der modernen Informationsgesellschaft behaupten zu können. Gerade wegen der milieubedingten Unterschiede der Gesellungsformen bieten die virtuellen Räume Potenziale der Vermittlung von sozialer Orientierung sowie soziokultureller Denk- und Wahrnehmungsweisen. Die virtuellen Lebenswelten können zudem helfen, (wechselnde) Wahlverwandtschaften zu bilden, um Potenziale zur Entfaltung zu bringen. Gleichzeitig müssen aber auch die überindividuellen Risiken im Blick behalten werden.
Ulrike Wagner lenkt in ihrem Beitrag „Ermächtigung und/oder Gefährdung? – Anmerkungen zur Aneignung mediatisierter Sozialräume" den Blick auf eine geschlechtsspezifische Auseinandersetzung mit dem Handeln in mediatisierten Sozialräumen. Sie zeigt, dass die Aneignungsweisen von Mädchen und Jungen in mediatisierten Sozialräumen durchaus vielfältig sind. Gleichzeitig bilden sich aber dominante Diskurse aus: Zum einen der Diskurs der Selbstermächtigung, der aber auf das individuelle Handeln der Einzelnen beschränkt bleibt und benachteiligende Strukturen und ungleiche Machtverhältnisse damit ausblendet. Zum anderen der Diskurs um Gefährdung, welcher Mädchen wie Frauen in besondere Weise als ‚schützenswert‘ thematisiert und ihnen damit ihre Handlungsmacht entzieht.„Man muss ja nicht mit dem Schwersten anfangen, sondern vielmehr anfangen, sich mehr Sachen zu überlegen" – das sind die Worte der 15-jährigen Junior-Bloggerin Livia Kerp, die das Online-Magazin www.liviajosephine.de betreibt. Im Interview schildert sie, dass sie mit ihrem Magazin und zuvor geführten Blog livias-life-is-style Jugendlichen Politik über ihre Texte näher bringen will. Sie grenzt sich bewusst von YouTuberinnen und YouTubern ab und will beschreiben, was sie als Jugendliche bei bestimmten Themen, wie zum Beispiel, Flüchtlingspolitik fühlt und diese Gedankengänge nachvollziehbar machen. merz fragt nach den Gründen für ihr Engagement, wie ihre Inhalte entstehen und sich weiterentwickelt haben und welche Rolle Freundschaften, ihr Zielpublikum und das soziale Netzwerk in ihrem Leben spielen.
Den sozialen Raum von Jugendlichen zu erkunden und erfahrbar zu machen, bedeutet, Jugendliche wie Livia, selbst zu Wort kommen lassen. YouTuber Steve Heng und WebDays-Referent sowie Technikblogger Jakob Licina nehmen ganz unterschiedlich Stellung zu ihrer Arbeit, bzw. ihrer Nebentätigkeit. In grau hinterlegten Interviews zwischen den Themen-Beiträgen ordnen beide ihre Erfahrungswerte ein in aktuelle Entwicklungen zum SocialWeb, wie auch zur YouTube- und Blogger-Szene.
„Jede Technik hat emanzipatorisches Potenzial, es ist nur die Frage wie …“, meint Christian Kirschner, Jugendbildungsreferent der Bildungsstätte Alte Schule Anspach (basa e. V.).
Im Interview mit merz bezieht er zum Thema politische Information und politisches Handeln von Jugendlichen im Internet Position. Er plädiert dabei für die Gleichwertigkeit des Analogen und des Digitalen und sieht große Überschneidungen zwischen politischer Bildung und Medienbildung insofern, dass zunächst die Lebensrealitäten der Jugendlichen in den Mittelpunkt
gerückt werden müssen, um auch die sogenannten politikfernen Jugendlichen für politische Themen im weiteren Sinn zu interessieren.
Eric Müller stellt in seinem Artikel „Jugendliche, Smartphones und ländliche Räume" seine empirische Arbeit zur Jugend im ländlichen Raum und deren Medienhandeln mit Smartphones vor. Die Ergebnisse der qualitativen Studie zeigen, wie eng Praktiken der Medien- und Raumaneignung miteinander verwoben sind. Medien ermöglichen zum einen die Teilhabe an lokalen Traditionen, zum anderen finden Jugendliche über Medien auch Gegenentwürfe zu diesen Traditionen. Müllersieht die Aufgaben einer sozialraumorientierten Medienpädagogik darin, mit Medienbildungsprozessen die Teilhabe Jugendlicher an der digitalen Gesellschaft zu sichern.
„Ein öffentlicher Raum ist für alle Menschen da – auch und gerade für die Jugendlichen." Matthias
Fack, Präsident des Bayerischen Jugendrings, nimmt zu den aktuellen Herausforderungen für die Jugendarbeit Stellung und argumentiert, dass das Internet Teil dieses öffentlichen Raums ist und daher auch alle Jugendliche die Chance haben müssen, daran teilzuhaben. Dies ist ein Anliegen der Jugendarbeit, sie sich auch dafür einsetzt, dass auf der einen Seite ein kritischer Umgang mit Medien gefördert und auf der anderen Seite auch qualitativ hochwertige Inhalte produziert werden.
Schließlich fügt sich in das Spektrum der behandelten Themen zum Sozialraum die Reportage zu
den WebDays – die Jugendkonferenz der Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e. V. (IJAB). Vom 3. bis zum 5. November 2017 begleitete merz die jugendlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei einem diskursiven politischen Erfahrungsaustausch und -zugewinn, zusammen mit medienpädagogischen Fachkräften, Vertreterinnen und Vertreter aus Sozialwissenschaften, (Netz-)Politik und Journalismus und konnte spannende Einblicke in Raum(-rück-) eroberungsprozessen hinsichtlich politisch orientierter Partizipationsbestrebungen gewinnen.
Literatur
Bundesministerium für Familie, Soziales, Frauen und Jugend (2017). 15. Kinder- und Jugendbericht Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. www.bmfsfj.de/blob/115438/d7ed644e1b7fac4f9266191459903c62/15-kinder-und-jugendbericht-bundestagsdrucksache-data.pdf [Zugriff: 18.01.2018]
Kreß, Jennifer (2010). Zum Funktionswandel des Sozialraums durch das Internet. In:sozialraum.de, 2. www.sozialraum.de/zum-funktionswandel-des-sozialraumsdurch-das-internet.php [Zugriff: 16.01.2018]
Albert Fußmann ist Direktor des Institut für Jugendarbeit Gauting. Seine Schwerpunkte sind Neue Medien und Kulturelle Bildung.
Dr. Ulrike Wagner ist Sozialwissenschaftlerin und künstlerisch-pädagogische Leiterin des Werkhofs Bistrica, einer Bildungs- und Kultureinrichtung in Bistrica pri Pliberku/Feistritz ob Bleiburg in Österreich.
Albert Fußmann, Antje Müller: Hinter den Kulissen: WebDays laden zur Beteiligung
Alljährlich sind Rückgänge in der Wahlbeteiligung zu beobachten. Dabei wird zumeist von einer Politikverdrossenheit gesprochen, welche an eine diffuse systemische Unzufriedenheit gekoppelt istund den subtilen Eindruck einer allzu starr, fremdbestimmt und zuweilen illiberal anmutenden ‚Demokratie‘ unterstellt. Besonders Jugendliche stehen unter Verdacht einer mangelnden politischenBildung wie auch politischen Desinteresses. Einen wirkungsvollen und etablierten Raum zur Artikulation und Erprobung stellt die Jugendkonferenz WebDays dar. Hier wird sich gegen das Label Politikverdrossenheit formiert und für eine (politische) Partizipation Jugendlicher eingestanden.
Literatur:
IJAB – Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e. V. (2017). WebDays 2017. Deine Daten. Deine Sicherheit. Deine Meinung. webdays.net [Zugriff: 28.12.2017]
Lange, Dirk/Onken, Holger/Korn, Tobias (2013). Politikunterricht im Fokus. Politische Bildung und Partizipation von Jugendlichen. Empirische Studie. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Politik und Gesellschaft.
Albert Fußmann, Antje Müller: Was Jugendliche denken und fühlen
Jugendliche und Politik? Aus erwachsener Perspektive umkreisen beide Parteien wohl oft eher eine antagonistische Hassliebe. Doch es gibt (politisches) Engagement, das sich auch direkt von Jugendlichen an Jugendliche richtet.
Livia Kerp hat aus einem ursprünglichen Interesse am Lifestyle und Spaß am Schreiben den Blog Livias Life Is Style aufgebaut, der sich nunmehr, insbesondere im neuen Magazin liviajosephine, vor allem auch politischen Themen zuwendet, die insbesondere Jugendliche bewegen, sie aus einem jugendlichen Blickwinkel beleuchtet und somit auch für Gleichaltrige leichter zugänglich macht.
Albert Fußmann: Politische Bildung – politisches Handeln – und das Internet
Jugendliche werden in ihrer Mediennutzung und insbesondere ihrem Agieren in sozialen Netzwerken als unpolitisch beschrieben.
Sie sind jedoch durchaus diskutierfreudig, informieren sich und positionieren sich zu vielen Fragen – auch wenn sie diese selbst nicht notwendigerweise als politische Fragen beurteilen würden. Internet und soziale Medien sind aber digitale Handlungsräume – mit emanzipatorischen Potenzial. Albert Fußmann im Gespräch mit Christian Kirschner, Jugendbildungsreferent bei basa e. V., über politisches und politisiertes Handeln Jugendlicher im Internet.
Klaus Lutz, Albert Fußmann: Im Universum zuhause
Heimat als Schwerpunktthema in einer Zeitschrift, die sich der fortschreitenden Entwicklung der (digitalen) Medien, dem World Wide Web widmet? Wo dieser Begriff doch zunächst etwas muffig riecht nach Geranien, Stammtisch und räumlicher Enge?
Der Versuch einer Definition
Was ist „Heimat“ heute? Ist es doch mehr als der Ort, aus dem man herkommt, mehr als ein Klingelschild oder ein Absender? Ist „Heimat“ meine Facebookseite? Oder ist Heimat nur eine Erinnerung, ein Sehnsuchtsort, so wie es die Filme von Edgar Reitz nahelegen? Wenn man nicht mehr arbeitet, wo man lebt; wenn man groß wird an einem Ort, in dem man nicht geboren ist; wenn man in Zukunft nicht mehr dort sein wird, wo man sich bisher auskennt – dann gewinnt der Begriff der „Heimat“ Im Universum zuhause einen neuen, ortsungebundenen Wert. Heimat gilt dann als Synonym für ein Gefühl, angenommen zu werden. Schon lange vor der digitalen Zeit bekannte der Philosoph Karl Jaspers: „Heimat ist da, wo ich mich verstehe und wo ich verstanden werde.“ In Zeiten von raschen gesellschaftlichen Umbrüchen, von weitgehender Mobilität und Globalisierung, gewinnt Heimat eine neue Verortung: Es ist der (umfassend verstandene) Raum um das Individuum herum. Neben einer temporär eingeschränkten Kernfamilie sind dies Freundinnen und Freunde, bei manchen das Kollegium, aber eben auch die Freunde in der digitalen Welt. Das Netz ist zunehmend weniger ein Medium, sondern selbst eine Heimat. Man verschickt nicht nur berufliche E-Mails oder tätigt dort Käufe, sondern begegnet interessanten und wertvollen Menschen (vgl. Sascha Lobo in S. P. O. N., 2011).
Nur im Vordergrund besteht das WWW aus Drähten, Satelliten und Computern, dahinter stehen echte Menschen mit Charakteren, Haltungen, Wissen und Interessen. Heimat als Wahloption emanzipiert sich von der Eingeschränktheit des Raums, immer mehr treten in den Vordergrund: ähnliche Ansichten, gleiche Interessen, schnelle Kontaktmöglichkeiten. An die Stelle von vertrauten Geräuschen, Gerüchen und Gebräuchen tritt die Wahlheimat in der digitalen Welt mit ihrer Riesenauswahl rund um den Globus, dafür aber passgenau. Immer exakter kann man sich in dieser Welt seine ‚Alter Egos‘ suchen, Menschen, mit denen man auf einer Wellenlänge liegt, die einem Anreize geben und einfach das Gefühl: „da ticken noch andere genauso wie ich“, „da ist es jemandem wichtig, etwas von mir zu hören“. Dieser Prozess ähnelt somit dem, was Hartmut Rosa in Beschleunigung und Entfremdung beschreibt: Der Raum schrumpft und die Zeit wird größer (Rosa 2013, u. a. S. 23 f.) – entscheidend ist nicht mehr der Raum des Kontaktes, sondern die zur Verfügung stehende Zeit und Wahloption von Menschen und Interessen. Die Emanzipierung vom Raum geht einher mit einer Verengung auf die eigenen Gedanken und Gefühle.
Die digitale Welt ist frei von der sozialen Kontrolle durch die Nachbarschaft, frei von – vor allem in der Jugend oft leidvoll erfahrenen – Kompromissen. Sie erlaubt Kontakte, Austausch, Wettbewerb und Freundschaft bis an die Grenze der Zeit. Hat früher die Entfernung die Heimat begrenzt, so ist die Grenze der Heimat im digitalen Raum die einem persönlich zur Verfügung stehende Zeit. Gilt also jetzt: Heimat ist, wenn ich Anschluss ans Internet habe?
Kurzer Erfahrungsbericht
In den Osterferien reiste mein (K. L.) zehnjähriger Sohn mit seiner Volleyballmannschaft für zwölf Tage nach Italien in ein Beachvolleyball-Trainingscamp. Heftig grübelnd machte ich mir – als zugegebenermaßen und vor allem im Vergleich zur co-erziehungsberechtigten Mutter eist etwas überbehütender Vater – so meine Gedanken, ob angesichts der circa 1.200 Kilometer, die nun zwischen meinem Sohn und seinem Zuhause lagen, nicht etwas Heimweh aufkommen würde. Nachdem – wie meist – der Sohn sich nicht von selbst meldete, versuchte ich, ihn auf seinem Handy zu erreichen, was mir nach vielen Freizeichen und „der Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar“ schließlich auch gelang. Auf meine Frage, wie es ihm denn gefalle, bekam ich folgende Antwort: „Gut, in der Hotellobby vier Striche und im Zimmer drei Striche und superschnell. Habe jetzt keine Zeit. Und Tschüss.“ Mit dieser für nicht Eingeweihte vielleicht kryptisch klingenden Aussage beschrieb er kurz und knapp die Stärke des WLAN-Empfanges. Das mit dem Heimweh hat sich dann übrigens auch in der Folgezeit nicht eingestellt. Ob es wohl am WLAN lag, mit dem sich jederzeit das Gefühl von ‚Zuhause-sein‘ über Hunderte von Kilometern herstellen ließ?
Zuhause in der digitalen Welt
Die aktuellen Medienangebote im Internet und insbesondere soziale Netzwerkdienste wie Facebook oder YouTube sind für Jugendliche wichtige Räume für die Kommunikation und Interaktion mit Gleichaltrigen, für Unterhaltung, für Rezeption und Weiterverbreitung von Informationen, aber auch Teilhabe am kulturellen Leben. Damit sind sie wichtige Orte, an denen Jugendliche heute altersspezifische Entwicklungsaufgaben wie Identitätsarbeit, die Gestaltung sozialer Beziehungen sowie soziale Einbettung und Partizipation verhandeln. Die von Jugendlichen genutzten Online-Angebote sind als erweiterte Sozialräume der Jugendlichen anzusehen, in denen sie soziale Kontakte aus den realweltlichen Lebenszusammenhängen weiterführen, aber auch neue Kontakte zu Menschen knüpfen, um zum Beispiel gemeinsame Interessen zu verfolgen und die Welt neu zu gestalten. Ein Privileg der Jugend ist es, ausgetretene Pfade zu verlassen und neue Wege zu gehen, ihre eigenen Erfahrungen zu machen und somit die Welt auch immer wieder neu zu erfinden. Dies ist allerdings nicht einfach, wenn schon alle Achttausender bestiegen sind, jeder Gedanke schon gedacht scheint und man unter ständiger Beobachtung von Erwachsenen steht.
Die unendlichen Weiten der virtuellen Welten scheinen hier noch Platz für Abenteuer und Identitätsfindung zu bieten. Sherry Turkle beschreibt die virtuellen Welten als ein rasant expandierendes System von Netzen, das Millionen von Menschen in virtuellen Räumen verbindet. Der Aufenthalt in diesen neuen Räumen verändert unsere Denkweise, den Charakter unserer Sexualität, die Form der Gemeinschaftsbildung, die Identität selbst (vgl. Turkle, 1998, S. 9). Aber was sind virtuelle Lebenswelten, wer hält sich in ihnen auf und wie kommt man dorthin und bewegt sich in ihnen? Die Nutzung von Medien allein ist nicht das Eingangstor zu virtuellen Welten: Der im Alltag für Kinder und Jugendliche längst zur Selbstverständlichkeit gewordene Umgang mit Medien macht diese zwar zu einem festen Bestandteil ihrer Lebenswelt. Aber erst durch die Möglichkeiten der Interaktivität werden Medienwelten zu virtuellen Welten. Der Unterschied zur medialen Welt besteht also in der Möglichkeit der aktiven Teilhabe. Erst durch das aktive Handeln entfaltet sich die virtuelle Welt und ihre Elemente werden sichtbar (vgl. Fritz 2003, S. 17). Vernetzte Spiel- und Kommunikationswelten bieten den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit der aktiven Teilhabe und werden von ihnen auch rege genutzt. Sie tauchen ein in virtuelle Erlebnis- und Kommunikationsräume und machen darin ‚reale‘ Erfahrungen, die sie auch als Persönlichkeiten prägen.
Man könnte auch sagen, die Jugend von heute ist im Netz zuhause. In seinem Artikel Was ist Heimat? Unser Zuhause ist das Internet liefert Günther Hack eine Definition von Heimat aus dem Blickwinkel eines „digital native“ – also der Generation, die mit digitalen Technologien vertraut ist, da sie mit diesen aufgewachsen ist. Für ihn ist Heimat eine „kleine elektrochemisch erzeugte Wirklichkeit im Gehirn. Eine dieser wärmenden Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit [...]. Heimat ist also ein Phänomen, das aus regelmäßig aktualisierten Mustern neuronaler Impulse hervorgeht. Das macht sie den Wirklichkeiten des Netzes ähnlich, die ebenfalls auf ständige Zufuhr von Energie und Aufmerksamkeit angewiesen sind“ (Hack 2012). Man könnte also auch sagen, dass die Heimat einen neuen Ort bekommen hat – das Netz. Um dies nachvollziehen zu können, muss man das Netz nicht als ‚Maschine‘, sondern als einen Ort der Begegnung von Menschen erlebt haben. Nochmals Sascha Lobo, einer der bekanntesten Netzphilosophen und „digital native“ schreibt in seiner Kolumne Meine Heimat Internet in Spiegel Online dazu: „Die einen kennen das Glück, im Netz interessanten und wertvollen Menschen zu begegnen, die anderen buchen dort Flüge und finden Onlinebanking irre praktisch. [...] Man muss im Netz Freude und Freunde gefunden haben, man muss vor dem Bildschirm gelacht und geweint, diskutiert und gestritten haben. Man muss die Netzwärme gespürt haben, denn da ist unendlich viel Wärme im Netz“ (Lobo 2011). Nur wenn man solche Erfahrungen gemacht hat, kann man nachvollziehen, dass das Netz für viele junge Menschen zur Heimat geworden ist. Auch wenn dies bei manchen Erwachsenen noch ein ungläubiges Kopfschütteln auslöst, so ist doch unbestritten, dass das Netz neben der Familie und der Peergroup zu einem zentralen Ort der Sozialisation von jungen Menschen geworden ist, wenn nicht sogar zu dem zentralen Ort. Nicht nur die Zeit, die Jugendliche im Netz verbringen, sondern vor allem die auch dort stattfindenden sozialen Begegnungen machen das Internet zu einem wichtigen Ort. Ein junger Mann, der nach einwöchigem und höchst unfreiwilligem Aufenthalt auf hoher See von einem havarierten Kreuzfahrtschiff gerettet worden war, antwortete einem Reporter auf die Frage, worauf er sich nun am meisten freue: „Auf die Dusche und das Internet“.
Längst gibt es für junge Menschen kein Leben ohne Internet mehr. Längst ist das Internet für viele junge Menschen zur Heimat geworden, die sie vielleicht eines Tages auch wieder verlassen werden, um nach einer neuen Heimat Ausschau zu halten. Vor diesen gesellschaftlichen Veränderungen versuchen die nachfolgenden Artikel aus unterschiedlichen Blickwinkeln eine Annäherung an den Begriff der Heimat in der digitalen Welt und seine pädagogische Bedeutung für die Jugendlichen. In der ihm eigenen Geschwindigkeit beschreibt Franz Josef Röll die historischen Wurzeln des Heimatbegriffs von progressiv bis reaktionär und geht ausführlicher auf die sozialwissenschaftlichen Motive und Begründungen des Heimatbegriffes in der Moderne ein. Er zeigt dabei, wie aus dem gestalteten Raum ein zu gestaltender wird und bezeichnet die digitale Welt als einen hybriden Raum oder eine vireale Wirklichkeit. Dem Pädagogen als Navigator kommt dabei die Rolle des kompetenten Fremdenführers zu. „In einer globalisierten Welt braucht man mehr denn je eine Rückbindung in kleinere Strukturen, ob die jetzt real vor Ort sind oder in einer virtuellen Welt“, beschreibt Andrea Kluxen (Bezirksheimatpflegerin Mittelfranken) im Interview. Sie versteht Heimat weniger als eine vorgegebene Struktur, sondern als eine zu gestaltende. Den Medien kommt dabei nach ihrer Auffassung sowohl eine kommunikative Rolle zu als auch eine, die Zeugnis ablegen kann, die Erinnerungen bewahren und vielfältig zugänglich machen kann. Martin Geisler beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Vergemeinschaftungsformen in der PC-Spielewelt. Detailliert beschreibt er diese Formen und diskutiert, ob man diesen Gruppen, den Gilden, nicht die wesentlichen Merkmale sozialer Gruppen zuschreiben kann. Er interpretiert diese Gilden als Suche nach dauerhaften und verlässlichen Beziehungen in einer als fragil erlebten realen Welt. Die besondere Funktion der digitalen Medien für das Heimaterleben von Menschen mit Migrationshintergrund ist Gegenstand in Susanne Eggerts Beitrag. Digitale Medien dienen der Verbindung zur alten Heimat, sie dienen der Diskussion unter Menschen, die eine ähnliche Erfahrung zu verarbeiten haben und sie dienen auch dem Vertrautwerden mit der Kultur des jetzigen Aufenthalts. Die Nutzung der Medien verstärkt, je nachdem, wie sie genutzt werden, die Emotionen: sei es in die Vergangenheit, sei es in die Aufarbeitung von Traumata oder sei es zur Identitätsbildung in der Gegenwart. Das Thema Heimat und Identität steht auch im Mittelpunkt eines Projekts des Bayerischen Rundfunks und der Stiftung Zuhören. Die Journalistin Elke Dillmann berichtet von mündlich überlieferten oder auch neu erfundenen Geschichten, die sozusagen medial haltbar gemacht, sprich dokumentiert werden und so in einem weiteren Schritt pädagogisch nutzbar gemacht werden können.
Das digitale Lagerfeuer erlischt nicht, sondern kann beliebig oft wiederholt, bearbeitet und reflektiert werden. Ob draußen mitten in der Nacht, beim Storytelling in der Gruppe oder bei der digitalen Reproduktion: Immer geht es bei diesen Geschichten um die Kernfragen, die sich gerade Jugendliche stelle: Wer bin ich? Wie will ich leben? Diese Fragestellung spiegelt sich auch in vielen Filmproduktionen von Jugendlichen. Eine kleine Filmauswahl von Produktionen junger Menschen zeigt, dass diese sich immer wieder mit dem Heimatbegriff beschäftigen – und damit unterschiedliche Diskussionsansätze bieten, was Heimat für sie heute bedeutet. Dabei wird deutlich, dass nicht nur für junge Menschen mit Migrationshintergrund die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft eine zentrale Rolle in ihrer Identitätsfindung spielt. Heimat und digitale Medien – auch im Spannungsfeld dieser beiden Begriffe zeigt sich die umfassende Durchdringung des Alltags mit den Medien, ihr Wert für die Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Zukunft, für Regeln und Werte, für die Konstruktion des Sozialen.
Literatur:
Fritz, Jürgen/Fehr, Wolfgang (Hrsg.) (2003). Computerspiele – Virtuelle Spiele- und Lernwelten. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Hack, Günter (2012). Was ist Heimat? Unser Zuhause ist das Internet. In: Spiegel-Online; ww.spiegel.de/netzwelt/web/was-ist-heimat-a-825382.html [Zugriff: 07.05.2013].
Lobo, Sascha (2011). S.P.O.N. – Die Mensch-Maschine: Meine Heimat Internet. In: Spiegel-Online; www.spiegel.de/netzwelt/web/s-p-o-n-die-mensch-maschine-meineheimat-internet-a-792647.html [Zugriff: 07.05.2013].
Rosa, Hartmut (2013). Beschleunigung und Entfremdung. Berlin: Suhrkamp.Turkle, Sherry (1998). Leben im Netz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.