Karlheinz A. Geißler
Beiträge in merz
Karlheinz A. Geißler, Jonas Geißler und Frank Michael Orthey: Zeit und Medien
Gechattet hatten sie bislang noch nie. Es war aber klar, dass eine realistische Annäherung an das Thema ‚Zeit und Medien‘ nicht anders gehen kann … Ein Selbstversuch sollte es sein – erwartungsgemäß mit den grenzenlosen Begrenztheiten des Mediums – und der Versuchspersonen.LiteraturGeißler, Karlheinz A.: Schlusssituationen. Die Suche nach dem guten Ende. Beltz-Verlag, Weinheim, 4. Auflage 2005
Karlheinz A. Geißler und Andreas Lange: Editorial
Vor mehr als 500 Jahren, als man noch nicht ausdrücklich über die Zeit gesprochen und auch nicht mit ihr Handel getrieben hat, war sie heilig. Danach waren es die Uhren und die Kalender, die zu Heiligtümern wurden und manch ein Manager trägt heute noch seinen ‚Timer‘ wie eine Monstranz vor sich her. Heute, in der Postmoderne angekommen, heiligen wir die Medien, die ihrerseits wiederum das Aktuelle, das ‚Immer‘, das ‚Überall‘ und das ‚Sofort‘ anbeten. „Die Civilisation will die Materie vergessen machen und den Verkehr beflügeln ...“ Mit diesen prophetischen Worten kennzeichnete Franz von Baader vor 150 Jahren die Entwicklung „des Lebens überhaupt und des socialen Lebens insbesondere“ (Baader 1854, S. 101). Er hat in einem Ausmaß recht gehabt, wie er es sich selbst nicht hat vorstellen können. Heute ist Realität, was die Futuristen zu Beginn des 20. Jahrhunderts kühn postulierten: „Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen“ (Marinetti 1909). Rundfunk, Fernsehen und das Internet bestimmen mit wachsender Intensität und vor allem tiefgreifend, unsere Wirklichkeit und das, was wir für ‚wirklich‘ halten. Sie prägen in der Art und Weise, wie sie gestaltet und von uns wahrgenommen werden, unser Verständnis von Zeit und unseren Umgang mit ihr.
Die zeitlichen Koordinaten des Lebens in Bildung, Lernen, Arbeit und Freizeit, aber auch in der Familie und der Peergroup sind häufig durch Medien bestimmt: Mit dem Radio lassen wir uns wecken, und mit der Fernbedienung in der Hand schlafen wir vor dem Fernseher schließlich ein, dazwischen ein Arbeitstag, den immer mehr Menschen vor diversen Bildschirmen mit dem Finger auf dem Touch-Screen verbringen, nicht selten auch bemüht, ihre „sozialen Standleitungen“ (Reißmann 2013) zu anderen Menschen dadurch à jour zu halten. Die Zeitgestalten der Medien sowie auch die Möglichkeiten, Zeit mit Medien zu gestalten, sind äußerst vielfältig (Beck 1994). Auf den ersten Blick dienen die geliebten Geräte erstens der Beschleunigung des Lebens und mittlerweile zweitens immer mehr der Abkopplung von festen Vorgaben.
Insbesondere in den elektronischen Medientechniken sind ‚zeitsparende‘ Effekte angelegt: Das Telefonieren spart den Besuch oder den zeitaufwendigen Brief; E-Mails befördern eine Nachricht in Sekundenschnelle; Radio und Fernsehen können uns ‚live‘ über beliebig entfernte Ereignisse informieren, ohne jene Zeitverzögerung, die dem vormals ‚schnellen‘ Medium Zeitung noch anhaftet. Das neue Leitmedium, den Computer, einschließlich seiner vielgestaltigen Abkömmlinge, nutzen wir, um zeitintensive Routinen und Abläufe zu beschleunigen: von der Buchhaltung über die Textverarbeitung bis hin zu umfangreichen Internet-Recherchen. Dazu kommt die Beschleunigung in und durch die Medienformate. Ein Krimi oder eine Dokumentation aus den 60er Jahren ist nicht nur wegen der bescheidenen Sendequalitäten ‚altbacken‘, sondern wegen der langsamen Schnitte und tempoarmen Handlungsbögen. Das könnte einen „Sozialisationseffekt“ dergestalt entfalten, dass zumindest der kognitive Aufwand zur Decodierung dieser Inhalte steigt (Grunow et al.).
Die Mediatheken von Fernseh- und Radioangeboten wiederum machen uns weitgehend unabhängig von kollektiv vorgegebenen Sendezeiten. Bezogen auf unser Heft-Thema heißt dies, dass Kinder und Jugendliche demnach in einer auch durch Medien beschleunigten, gleichzeitig immer stärker auf individualisierte, gleichsam ‚solitär‘ und dadurch auch fragmentierte Zeitverwendung hin abzielende/ermöglichende Gesellschaft aufwachsen. Da darf es nicht wundern, dass die nächste Welle der Kulturkritik der Medien auch hier ein neues Betätigungsfeld gefunden hat, man denke an die Stichwörter „Digitale Demenz“ und „Hyperaktivität“ bzw. das Zeitalter der Zerstreuung /Simultaneität … Zumindest in technischer Hinsicht scheint das Ende der Beschleunigung erreicht. Wenn sich Informationen mit Lichtgeschwindigkeit übertragen lassen, ist dem unaufhörlichen Streben nach möglichst rascher und verzögerungsfreier Nachrichtenübermittlung das Ziel abhanden gekommen und damit auch die Beschleunigung als technische Leitmaxime der Medienentwicklung an ihrem Ende.
Im Anschluss an das napoleonische Zeitalter vollendete sich die Beschleunigungsidee in weniger als 200 Jahren. Die elektromagnetischen Welten haben die Sekunde in deren Bruchteile zerlegt und die Räume, besonders aber die Zeiten, der menschlichen Wahrnehmung entzogen. ‚Zeit‘ wird mittels neuer Techniken jenseits der bewussten Anschauung organisiert. Mit den Beschleunigungspotenzialen der Medien wurden völlig neue Möglichkeiten des Denkens und Handelns erschlossen. Mit der „elektrischen Augenblicksverbindung“ (Warburg 1923) und der „Eroberung der Allgegenwärtigkeit“ (Valéry 1959) lässt sich die Zeit scheinbar eliminieren. Nichts dauert mehr. Alles ist sofort, auf Knopfdruck, da. Und doch haben wir das Gefühl, dass uns mehr denn je etwas fehlt. Mit dem Ende der Beschleunigung gewinnt die Zeit-Verdichtung als weitere spätmoderne Technik der Zeitbewirtschaftung noch mehr an Bedeutung. Verdichtet, so die real wirksame Vorstellung, lässt sich die relativ knapp bemessene, gleichwohl historisch neue Dimensionen einnehmende Lebenszeit dann ,effizienter‘ nutzen, zum Beispiel indem man mehrere Dinge gleichzeitig tut bzw. möglichst viel (an Information) in die gleiche Zeit packt. Auch hierfür bietet die Welt der Medien eine Vielzahl an Möglichkeiten: Radiohören beim Zeitungslesen, Bügeln beim Fernsehen, Musikhören beim Internet-Surfen, Telefonieren beim Auto- oder beim Zugfahren. Wer seine Aufmerksamkeit teilt, hat mehr vom Leben – so lautet das Credo der Zeitoptimierer. Es geschieht immer etwas, und weil immer etwas geschieht, geschieht noch vieles andere. Das möglichst gleichzeitig, immer aber möglichst schnell. Selbst das Bildungssystem ist von diesem Tempo-Virus (Borscheid 2004) infiziert, mit nicht nur positiven Effekten für die Schülerinnen und Schüler.
Vielmehr scheint sich die Verdichtung der Kindheit und Jugend in einer Prekarisierung anderer Tätigkeiten auszuwirken wie beispielsweise der Jugendverbandsarbeit (Lange/Wehmeyer 2014). Das Handeln derer, die die Medien nutzen, erschöpft sich jedoch nicht in den Strategien der Beschleunigung und Zeitverdichtung. Denn Zeit ist in unserer Gesellschaft nicht nur zu einem knappen Gut geworden, mit dem es möglichst ‚effizient‘und ‚sparsam‘ zu wirtschaften gilt. Sie ist zuweilen auch im Überfluss vorhanden. Zu allererst für das Heer der unfreiwilligen Arbeitslosen. Aber auch für diejenigen, die sich tagsüber in ihrem Beruf abrackern (dürfen), verwandelt sich Zeit spätestens am Feierabend oder in der Freizeit zu etwas, mit dem man reichlich gesegnet ist (Erst ‚ranklotzen‘, dann ‚reinglotzen‘, ist das Motto dieses Lebensstils). Mit diesem Zeit-Reichtum können nicht alle gleichviel anfangen. Die gesuchte Ablenkung, die mehr als vier Stunden (Frees/Eimeren 2013), die die Bundesbürger täglich vorm Fernseher verbringen (Reuband 2012: Fernsehen kann als low-cost-Freizeitbeschäftigung vor allem bei älteren Menschen noch zulegen) beispielsweise, ist immer auch eine Ablenkung von der ‚Leere‘ der Zeit, von der ‚Langeweile‘, dem ereignislosen Verfließen der Zeit – und damit immer auch eine Ablenkung von sich selbst. Der Mediengebrauch dient offenbar nicht nur der Beschleunigung des Lebens, sondern auch dazu, die wachsende ‚freie‘ Zeit zu strukturieren und ihr einen wie auch immer gearteten Sinn zu geben.
Ganz gleich, ob in chronischer Zeitnot oder in der Situation, in der wir uns einem Überfluss an Zeit gegenüber sehen: In beiden Fällen vertreiben wir die Zeit aus unserem Leben: zum einen, indem wir sie möglichst intensiv bewirtschaften und nach dem Prinzip ‚Zeit ist Geld‘ den Kampf gegen alles Langsame, Bedächtige, Pausierende aufnehmen. Zum anderen, indem in der so gewonnenen Freizeit mit Hilfe der Medien die Zeit ‚totgeschlagen‘ wird. Wir sprechen von ‚Zeitvertreib‘ wenn wir beschreiben, um was es geht: ‚Zeit‘ soll vertrieben, Zeitlosigkeit erreicht werden. Der massenmediale Weg zur Zeitlosigkeit ist die massenmediale wie auch durch interaktive Medien getriebene Beschleunigung, die Rundum-Betriebsamkeit, die Verdichtung der Sensationen, die Dauerablenkung. Auch wenn tagsüber ununterbrochen und erfolgreich Zeit ‚gespart‘, Abläufe beschleunigt werden und durch gerätegestützte Parallelhandlungen verdichtet wird, scheinen viele doch an langen Fernsehabenden oder in stundenlangen Internet-Sitzungen alle Zeit der Welt zu haben. Die Rastlosigkeit beim vermeintlichen Sparen von Zeit mündet am Feierabend in der nicht minder großen Ratlosigkeit, sinnvoll mit ihr (und sich) umzugehen. Es fällt offenbar schwer, eine Balance zwischen dem ‚Müssen‘ und der möglichen ‚Muße‘ zu finden. Zeitmangel und Zeitüberfluss verweben sich zu spät- oder postmoderner Zeiterfahrung. Je mehr Zeit man hat, umso mehr muss aufgrund des neoliberalen Verwertungszeitgeistes mit dieser etwas gemacht werden und entsprechend weniger hat man dann wieder.
Vier Zeitdynamiken sind es, die für die elektronischen Medien und für deren Gebrauch charakteristisch sind:
Informations- und Kommunikationsmedien zielen darauf ab, räumliche wie zeitliche Distanzen zu reduzieren. Bereits die frühen Formen der Nachrichtenübermittlung versuchten das Trennende des Raumes mit möglichst geringem Zeitaufwand zu überwinden. Den neuen elektronischen Medien gelingt es erstmals, diesen Zweck aller Mediennutzung zu vollenden. Mit der Lichtgeschwindigkeit der Signalübertragung wird die Grenze der Beschleunigung erreicht, werden zeitliche und räumliche Distanzen reduziert und der Wahrnehmung entzogen. Räumliche wie zeitliche Unterschiede verlieren ihre Bedeutung im weltweiten Netz der Medien. Die globale Gleichzeitigkeit wird zur zentralen Zeiterfahrung.
Die weltweite Medienvernetzung kommt dem menschlichen Streben und der menschlichen Sehnsucht nach möglichst schwereloser Überwindung von Raum und Zeit entgegen. Weniger diese Überwindung als solche, vielmehr ihre (vermeintliche) Mühelosigkeit macht die Faszination der neuen Medien aus. Angefangen mit dem Telefon, vorerst endend mit der digitalen Neuschöpfung der Welt im Cyberspace, erheben wir uns zu engelsgleichen Wesen. Geschöpfe, die der Naturgesetzlichkeit scheinbar nicht mehr unterliegen und die Barrieren von Raum, Zeit und Materie mühelos überwinden. Die Gesetze der Schwerkraft scheinen außer Kraft, wenn wir uns per Mausklick oder Fernbedienung die Welt auf den Bildschirm holen. Diese ‚Engelhaftigkeit‘ unserer virtuellen Existenz versteckt und verdeckt die materiellen und naturgesetzlichen Bedingungen, denen die neuen Medien und ihr Gebrauch unterliegen. Diese Engelhaftigkeit erstaunt uns Erwachsene vielleicht noch, ist aber zur existenziellen Matrix der heute Heranwachsenden geworden.
Die Informations- und Kommunikationsmedien sind nicht nur Teil unserer Nonstop-Gesellschaft; sie sind dafür mitverantwortlich. Die pausenlose Verfügbarkeit von Programmangeboten in Fernsehen und Radio ist heutzutage selbstverständlich. Das Internet ist ein ‚Ort‘, zu dem man jederzeit Zutritt findet. Die vielfältigen Formen moderner Telekommunikation ermöglichen ein Nonstop der Erreichbarkeit. Dadurch nehmen die individuellen Nutzungsspielräume entscheidend zu. Eine soziale Koordination des Medienumgangs und des Mediengebrauchs findet jedoch nur selten statt, eher kann man von einer massiven Deregulierung sprechen. Individuell sind die Freiheiten zweifelsohne größer geworden, aber kollektiv (zum Beispiel politisch) werden diese Freiheiten nicht mehr abgesichert, so dass mit den Freiheiten auch die Zwänge zunehmen. Auf soziale Zeiten und Rhythmen wie etwa das Wochenende oder den Wechsel von Arbeit und Ruhe nehmen die Medien (bzw. ihre Nutzenden) keine Rücksicht mehr. Dies führt zu der erfahrbaren Paradoxie: Je vernetzter und flexibler unsere Nonstop-Gesellschaft, umso isolierter sind ihre Mitglieder. Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit geht mit einem wirklichen Verschwinden der Allmählichkeit einher.
Die Medien, speziell jene, die wir als ‚neu‘ bezeichnen, konfrontieren uns täglich mit höchst flexiblen Zeitformen. Diese sind jedoch nicht mehr an der zeitlichen Vielfalt der Natur orientiert, weder der äußeren Natur noch unserer eigenen, inneren Natur. In einer globalisierten Medienwelt ist immer ‚was los‘, ein Event jagt das andere, stets ist dadurch alles taghell beleuchtet. Die Vielfalt der Zeitmuster, die wir in der Natur vorfinden, wird ergänzt und häufig auch ersetzt durch eine Vielfalt von technisch/elektronisch produzierten Zeitmustern und Programmschemata, deren interner Verweisungslogik und darauf zugeschnittener theatraler Inszenierungen im Bereich der Wirtschaft, des Sports und der Politik. Durch diese Entkopplung von den Zeiten der Natur entsteht eine zivilisatorische Spannung zwischen der Welt der Medien einerseits und der kaum noch wahrgenommenen Natur andererseits. Trotz aller medialer Aufrüstung und Abschirmung sind und bleiben die Menschen jedoch ein Teil der Natur, allein die Zugehörigkeit zur Natur lässt sich, die Medien sorgen dafür, besser leugnen. Spätestens am Ende unserer Existenz werden wir sie akzeptieren müssen.
Vor dieser Folie betrachten die Beiträge der vorliegenden merz-Ausgabe das Thema Medien und Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven: Woher kommen eigentlich unsere Probleme mit der Zeit? Frank Orthey befasst sich mit dieser Frage anhand eines stroboskopartigen Blicks zurück in die Zeitgeschichte und legt so fossile temporale Gesteine frei, die vielfach modifiziert und dann um neue ‚Brocken‘ ergänzt – zu nennen ist die Erfindung und technische Implementation der linearen Zeit in Gestalt der Uhren – unsere heute Zeitökologie und Zeitwahrnehmung mitgeformt haben. Karlheinz A. Geißler, Jonas Geißler und Frank Michael Orthey loten in ihrem launigen intergenerativen Chat sowohl die erwartbaren und nicht erwartbaren temporalen Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zwischen den Generationen als auch die notwendigen Kompetenzen aus, um nicht in der Flut von Optionen, die ja immer auch Zeit brauchen, um abgewogen zu werden, unterzugehen. Dass die zeitlichen Folgen der Mediatisierung des Alltags höchst ambivalent sind, arbeitet überzeugend Vera King heraus. Dieses Ambivalente erstreckt sich dabei auf die temporale Logik des Alltags, der durch die neuen Möglichkeiten der Medien- und Kommunikationstechnologien auf der einen Seite eigentlich entspannter organisiert werden könnte, da man sich bestimmte Wege sparen kann; auf der anderen Seite kommt es aber zu heftigen Beschleunigungsspiralen, weil man mehr Tätigkeiten in eine Zeiteinheit zu packen bemüht ist. Aber auch die temporale Logik der frühen Lebensphasen ist höchst widersprüchlich: Einerseits verkürzen Medien und deren Inhalte das Kindsein, andererseits verbleiben junge Menschen länger im Elternhaus. Auf dieser Basis, unterfüttert durch eine eigene empirische Untersuchung, arbeitet die Autorin subtil die möglichen Implikationen dieser zweifachen neuen Zeitordnungen auf der Mikro- wie Makroebene heraus und leitet daraus bedenkenswerte Aufgabenfelder für die Medienbildung ab; vor allem das Einüben der spielerischen Distanzierung und Reflexivität dürfte sich lohnen.
Auf der Basis einer ‚dichten Beschreibung‘ des spätmodernen Alltags zwischen Familien- und Berufsverpflichtungen, die ohne Medien kaum mehr zeitlich zu integrieren und synchronisieren wären, sowie einer Phänomenologie moderner medialer Anforderungen entwickelt Frank Orthey ein Tableau notwendiger Zeit Kompetenzen zu deren Bewältigung. Insbesondere hinsichtlich der „Transversalitätskompetenzen“ gibt er Einblick in ein fruchtbares Feld nicht nur medienpädagogischer Arbeit jenseits der eingespielten Zuständigkeiten und Hoheitsgebiete. Die spezifischen Zeiten sozialer Netzwerke untersucht Alexander Klier und erinnert dabei an die aus dem Bildungsbürgertum stammende Auffassung, wonach Freizeit nicht eigentlich freie Zeit ist, sondern mindestens in einigen Anteilen auch der Selbstfindung, Selbstveredelung zu dienen habe. Auf der Basis der Theorie sozialer Praktiken wird überzeugend aufgezeigt, dass auch die Nutzung sozialer Netzwerke nicht einfach vorherige Praktiken und Technologien verdrängt, sondern es vielmehr zu differenziellen Verwendungsweisen der Newcomer kommt. Und dazu gehört bei den sozialen Netzwerken ihre ‚praktische‘ Abkoppelbarkeit von physischer und temporaler Ko-Präsenz, sprich: Man kann sich ein- und ausklinken, wie es einem passt.
Die Beiträge zeigen trotz ihrer durchaus unterschiedlichen Annäherung und ihrer unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Basis: Die medienpädagogische und allgemeine Herausforderung besteht zusammengenommen darin, erstens die temporalen ‚Facetten‘ und ‚Seiteneffekte‘ des Mediengebrauchs in der Forschung angemessen zu berücksichtigen, die Medien ausdrücklich hinsichtlich ihrer zeitstrukturierenden Implikationen in der Medienpädagogik zu thematisieren und den Heranwachsenden Möglichkeiten und Wege in den unterschiedlichsten pädagogischen und außerpädagogischen Settings aufzuzeigen, wie sie die vielfältigen Medien dazu nutzen können, ihre zeitliche Autonomie und Souveränität zu steigern, was letztlich einen Beitrag zur Alltagstauglichkeit und Identitätsbildung darstellt.
Literatur
Baader, Franz von (1854). Systematisch Geordnete, Durch Reiche Erlauterungen Von Der Hand Des Verfassers Bedeutend Vermehrte vollständige Ausgabe. In: Hoffmann, Franz (Hrsg.). Franz Von Baader's Sämmtliche Werke. Fünfter Band. Leipzig: Herrmann Bethmann Verlag.
Beck, Klaus (1994). Medien und die soziale Konstruktion von Zeit. Über die Vermittlung von gesellschaftlicher Zeitordnung und sozialem Zeitbewußtsein. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Borscheid, Peter (2004). Das Tempo-Virus: Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt am Main: Campus.
Frees, Beate/Eimeren, Birgit van (2019). Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2013. Multioptionales Fernsehen in digitalen Medienumgebungen. Media Perspektiven 7-8/2013. S.373-385. www.media-perspektiven.de/uploads/tx_mppublications/0708-2013_Frees_Eimeren_NEU.pdf [Zugriff: 25.02.2014]
Grunow, Janina/Niemczyk, Justine/Carolus, Astrid/Unz, Dagmar/Schwab, Frank (2011). Zeitverschwendung? Oder machen uns die Medien mit der Zeit immer schlauer? In: Suckfüll, Monika/Schramm, Holger/ Wünsch, Carsten (Hrsg.), Rezeption und Wirkung in zeitlicher Perspektive. Baden-Baden: Nomos.
Lange, Mirja/Wehmeyer, Karin (2014). Jugendarbeit im Takt einer beschleunigten Gesellschaft. Veränderte Bedingungen des Heranwachsens als Herausforderung. Weinheim, München: Beltz.
Marinetti, Filippo Tommaso (1909). Manifest des Futurismus. Paris: Le Figaro.
Reißmann, Ole (2013). www.olereissmann.de [Zugriff: 25.02.2014]
Reuband, Karl Heinz (2012). Kulturelle Partizipation im Langzeitvergleich. Eine empirische Analyse am Beispiel der Stadt Köln. In: Bekmeier-Feuerhahn, Sigrid/Berg, Karen van den/Höhne, Steffen/Keller, Rolf/Mandel, Birgit/Tröndle, Martin/Zembylas, Tasos (Hrsg.). Jahrbuch für Kulturmanagement 2012. Bielefeld: transcript, S. 229-264.
Valéry, Paul (1959). Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit. In: Über Kunst, dt. Frankfurt: Suhrkamp. S.46 ff.
Warburg, Aby (1923). Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika. In: Treml, Martin/Weigel, Sigrid/Ladwig, Perdita (2010). Aby Warburg – Werke in einem band. Berlin: Suhrkamp.