Susanne Gölitzer
Beiträge in merz
Susanne Gölitzer: Kunst - ein Kinderspiel
Nein, die Kunst ist kein Kinderspiel und das Kinderspiel ist keine Kunst, auch wenn Künstlerinnen und Künstler sich in den letzten 100 Jahren immer wieder mit dem Kinderspiel und Kinderspielzeug beschäftigt haben. Die Ausstellung in der Schirn Frankfurt am Main Kunst – ein Kinderspiel will, so die Ausstellungsmacher Max Hollein und Gunda Luyken, sichtbar machen, wie die Künstlerinnen und Künstler des letzten Jahrhunderts die Anregungen, die sie durch die kindlichen Zugänge zur Welt erfahren haben, an die Kinder in Form von Kinderspielzeug, Kinderbüchern und Kunst für Kinder zurückgegeben haben. Dies sichtbar zu machen gelingt der Ausstellung. Zu finden sind hier nur künstlerisch gestaltete Objekte, die teilweise auf weichen begehbaren Bauklötzen drapiert sind. Die Exponate rücken so auf Augenhöhe der Kinder zwischen 0 und 10 Jahre. Zwischendrin laden Buchten zum Sitzen, Lesen und Spielen mit Kunstbüchern oder Spielzeug ein. Die Ausstellung kann, wenn man dem Rundgang folgt und sich an den nformativen Texttafeln zu den verschiedenen Künstlergruppen und Künstlern orientiert, unter historischer Perspektive oder aber mehr im Sinne eines Parcours betrachtet werden, der kreuz und quer über die Bauklötze führt. In einem extra Raum sind die Children’s Paintings von Andy Warhol (1983) in Hüfthöhe an eine Fischtapete aufgehängt. Sie werden auch als Toy Paintings bezeichnet, weil Warhol die Motive für die kleinformatigen Siebdrucke Spielzeugen und deren Verpackungen entnahm.Offenkundig ist die Ausstellung für Erwachsene und Kinder gedacht, die etwas über Kunst lernen möchten.
Sie werden an den verschiedenen Texttafeln, an denen die unterschiedlichen Vorstellungen vom kindlichen Spiel erklärt werden, verständliche Informationen finden. Sie werden die Videos von Charles and Ray Eames (Parade 1952) und Rosemarie Trockel (Kinderspielplatz, Beitrag Deutschlands zur 48. Biennale di Venezia 1999) und zu der Zirkus-Performace von Alexander Calder (Cirque Calder 1927) mit Vergnügen anschauen und den Reiz unterdrücken müssen, die Kinderschubkarre von Gerrit Rietveld (1922), das Aufziehspielzeug Warhols, das Puppenhaus von Simmons (Kaleidoscope House 2000), das Wollauto und den Bürstenwagen (1999) von Trockel anzufassen, in die Hand zu nehmen und damit zu spielen. Während die Erwachsenen die unterschiedlichen Höhen der Vitrinen, der Stellflächen und Bilder als adressatenorientierte Raumgestaltung begreifen sollten, werden Kinder, sofern sie noch nicht die Stufe des formal-operativen Denkens erreicht haben, Schwierigkeiten damit haben, dass einige Bücher und Spielsachen, die in Greifnähe liegen, angefasst und betrachtet, während andere, besonders attraktive Exponate nicht berührt, geschweige denn benutzt werden dürfen.
Und genau in diesem Punkt wird der Unterschied zwischen Kunstobjekt und Spielzeug deutlich, selbst wenn es künstlerisch gestaltetes Spielzeug ist. Spielzeug ist nur dann Spielzeug, wenn man damit spielen kann. Die Adressatenorientierung einer solchen Ausstellung hat eben Grenzen. Als Kunst könnten auch Kinder im Grundschulalter die Exponate hinter Glas interessant finden. Als Spielzeug werden sie es kaum betrachten wollen, denn Spielzeug, das nicht zum Spielen ist, verliert seine Funktion.Für Erwachsene dürfte die Systematik der Ausstellung und die historische Aufarbeitung der künstlerisch gestalteten Spielzeugproduktion interessant sein. Während in der ersten Hälfte des Jahrhunderts Gruppen von Künstlern (Bauhaus, De Stijl /Konstruktivismus) die industrielle Produktion von Spielzeug ästhetisch gestalteten oder wie die Wiener Werkstätten mit Hilfe der Handwerkstraditionen neues Spielzeug herstellen wollten, waren es anscheinend in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eher einzelne Künstlerpersönlichkeiten (Pablo Picasso, Alexander Calder, Günther Förg, Reinhard Mucha, Andy Warhol, Rosemarie Trockel, Laurie Simmons u.a.), die künstlerisches Spielzeug herstellten. Das Kind war in der Vorstellung der Künstlerinnen und Künstler, die den Werkstätten, dem Bauhaus oder De Stijl zugerechnet werden, ein Entdecker der Alltagswelt, ein kleiner Künstler. Kunst und Leben stellte in deren Vorstellung eine Einheit dar, die auch mit dem richtigen Spielzeug zu gestalten war. Das Spiel der Kinder galt als „eine Art Kunsttrieb“ (Leisching zitiert nach Luyken: Ausstellungskatalog, S. 29). Das künstlerische Spielzeug war umgekehrt ein Mittel, Kindern etwas über Kunst und das Leben mitzuteilen (s. die in den 20er Jahren entstandenen Spielsachen von Künstlern des Bauhaus’: die Farbkreisel, die Pädagogische Puppenstube, die das Prinzip des Steckbausatzes vorwegnahm oder die vielfach nachgeahmten Kinderbücher des De Stijl usw.).
Die Idee zur Erfindung oder Gestaltung von Spielzeug ist bei den Künstlerinnen und Künstlern in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts häufig individuell und durch die Lebensumstände motiviert gewesen. Während Picasso seinen Töchtern unter der Not des Krieges kleine Papierpüppchen reißt, erfindet Calder aus einer idiosynkratischen Faszination am Spielzeug einen Puppenzirkus, Mucha für seinen Neffen Objekte aus Alltagsgegenständen, die den Kinder als „Gefährten“ (ebd., S. 44) dienen sollten oder produziert Warhol auf die Bitte seines Galeristen Bruno Bischofberger die Toy Paintings. Spielzeug wird auch zunehmend verfremdet. Diese Verfremdung wird besonders deutlich an diesen Toy Paintings, die den Spielzeugcharakter des Originals nur noch abbilden. In diesem Zusammenhang müssen auch die Fellautos von Rosemarie Trockel gesehen werden. Die Kindergesichter des Fotografen Rolf von Bergmann fallen etwas heraus aus der Ausstellung, weil sie als Dokumente belegen, wie Kunst mit Kindern gemacht werden kann. Die Kinderportraits wurden von den Portraitierten selbst mit Wasserfarben be- und ausgemalt. Dadurch entsteht ein interessantes Bild, in dem Kunstobjekt und Subjekt der Kunst zusammenfallen; das portraitierte Kind bleibt nicht Objekt der Fotografie, sondern wird auch zum Künstler. Wenn auch offen ist, wie Kinder mit der seltsamen Mischung aus Spielanregung und bloßem Betrachten-Dürfen in der Ausstellung umgehen, so ist durch die Ausstellung doch garantiert, dass interessierte Erwachsene Einsichten und Anregungen für den Umgang mit Kunst und Kindern gewinnen können.Die Ausstellung der Schirn Kunsthalle geht noch bis zum 18. Juli 2004. Es gibt ein umfangreiches Rahmenprogramm für Kinder und Erwachsene und einen empfehlenswerten Katalog: Hollein, Max / Luyken, Gunda (Hrsg.): Kunst – ein Kinderspiel. Frankfurt am Main: Revolver. 2004. Zu beziehen unter: Revolver. Archiv für aktuelle Kunst. Jacobystraße 28. 60385 Frankfurt am Main.
Susanne Gölitzer und Mathias Fechter: „Ich bin auf Level 78“
Seit geraumer Zeit gehören Computer- und Videospiele zu den beherrschenden Themen in der Öffentlichkeit. Im Vordergrund stehen dabei meist die Auseinandersetzungen um die sogenannten „Killerspiele“, obwohl diese nur einen geringen Teil aller verkauften Spielen überhaupt ausmachen. Welchen Stellenwert Computer- und Videospiele im Alltag von Kindern und Jugendlichen haben und was für eine Thematisierung von Spielen und Spielerfahrungen im Unterricht spricht, soll im Folgenden kurz beleuchtet werden.(merz 2008-1, S. 64-69)
Susanne Gölitzer: Die Bedeutung der Schule zwischen Handy und Ferienjob
Die gesellschaftliche Revolution der letzten dreißig Jahre hat unterschiedliche Namen. Mit Individualisierung bezeichnet man treffsicher ein Phänomen, das den Einfluss der Schule auf die Erziehung und Bildung eines jungen Menschen heute begrenzt. Sie ist eine Institution unter anderen geworden. Die Schule als Bildungsinstitution hat Konkurrenz bekommen. Es sind andere starke Medien- und Bildungsräume neben sie getreten, die ihr langsam den Rang der Lernanstalt erster Klasse abgelaufen haben und ablaufen werden. Diese anderen Medien sind das Fernsehen, der Computer, das Radio. Aber auch Jobs neben der Schule übernehmen wichtige Bildungsfunktionen.
(merz 2000-01, S. 14-16)
Susanne Gölitzer: Die Wirklichkeit der Bilder
Mal angenommen: Keiner hätte etwas aufgenommen oder es wäre nichts gesendet worden. Es wären keine Bilder des Zusammenbruchs eines im Moment des Zusammenbruchs entstandenen Symbols: „die beiden Türme für das Zentrum des virtuellen Kapitalismus“ (Slavoj Zizek: 20. September 2001, Die Zeit) über den Fernseher gegangen. Das ist ein Gedankenexperiment, nichts, was politisch wünschbar oder ohne Weiteres durchsetzbar wäre. Die politische Verhinderung der Bilder, wie zwei Flugzeuge in ein Hochhaus jagen, wie Staubwolken durch die Straßen rollen, wie Menschen aus vierhundert Meter hohen Häusern springen, würde an die politischen Praktiken totalitärer Gesellschaften erinnern, in denen die Macht über Bilder und die Definitionsmacht über Wirklichkeiten nicht pluralistisch, sondern einer herrschenden Gruppe in die Hand gegeben ist. Trotzdem das Gedankenexperiment: Es wären keine Bilder in unsere Wohnzimmer gesendet worden, wir hätten die Nachrichten nur gehört und hätten darüber lesen können.
Das Ganze wäre über die Zeitungen er mit einem Tag Verspätung zu uns gelangt. Es hätte keine Bilder gegeben vom Moment des Einschlages, nur von der Zerstörung. Welche Symbolkraft könnte dieser Anschlag, der Teil eines Kampfes gegen das Böse schien – das in diesem Falle der Westen war – noch entfalten? Ich behaupte, sie wäre geringer: die Symbolkraft mit wirklichkeitskonstruierender Wirkung. Der Kampf zwischen Gut und Böse war plötzlich Wirklichkeit, alle Differenzierungen waren zusammengebrochen. Um weiter im Bild zu bleiben: das Teuflische dieser Bilder bestand darin, dass man sich als säkularer, politisch differenziert denkender Mensch dieser dichotomen Weltsicht zunächst nicht entziehen konnte, obgleich man zuvor solcherart Entgegensetzungen immer vermieden hatte...
(merz 2002/01, S. 21 - 23)