Andreas Hedrich
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Andreas Hedrich: 30. Internationales Forum des jungen Films
Nun ist das Forum auch schon 30 Jahre alt, doch es ist jung geblieben. Zwar änderten sich in diesem Jahr wie beim Internationalen Wettbewerb die Austragungsorte und bedingt dadurch auch die Atmosphäre, doch die gezeigten Filme verdienen weiterhin das Attribut „jung“. Nicht weil sie - wie bisher auch - nur schwer einen Verleih finden oder weil sie von jungen Nachwuchsleuten realisiert wurden, sondern weil sie meist noch mit dem Medium experimentieren. Bei den Forumsfilmen stehen nicht die kalkulierten Storys im Vordergrund, die lediglich das Geschick von Effektspezialisten oder Castingagenturen unterstützen sollen.
Personen und PersönlichesIn „Heimkehr der Jäger“ von Michael Kreihsl wird die zunehmende Bedrohung der persönlichen Lebenswelt beschrieben, wie sie der Gemäldekopist Franz (überragend: Ulrich Tukur), empfindet. Die Auseinandersetzung mit den Werken alter Meister beeinflusst ihn enorm und führt dazu, dass er zunehmend Sensibilität für im Alltag verborgene Konflikte entwickelt. Das Malen tritt für ihn immer stärker in den Hintergrund und er registriert, wie ihm liebgewonnene Gewohnheiten immer mehr abhanden kommen. Auf dem Wiener Nasch-Markt schließen Obststände, bei denen Franz seine Vorlagen für Stilleben kaufte. Die sich über ganz Österreich ausbreitenden Supermärkte mit Normobst lassen ihn zum Brandstifter werden. Seine Frau, von der er getrennt lebt, vermeidet jeden Kontakt zu ihm. Franz versucht sich daher in einer Beziehung zu einer jungen Frau. Und im Museum erhält er Konkurrenz durch einen neuen Kopisten, den er verabscheut und dem er Schwierigkeiten bereitet, wann immer er die Möglichkeit dazu sieht.
Der Maler beginnt in einer Welt aus Imaginationen zu leben.Kreihsl zeigt mit seinem Film die Schwierigkeit, sich mit verändernden Realitäten abzufinden, was passiert, wenn der Realitätsverlust zum Abgleiten in eine Scheinwelt führt. Formal wird dieser Gegensatz durch den Wechsel von extremen Nahaufnahmen Tukurs und extremen Totalen von Landschaften, die eine wachsende Distanz symbolisieren, verdeutlicht.
Nichola Bruce wählt in „I Could Read The Sky“ eine völlig andere formale Umsetzung, um die Nähe zu einem Menschen herzustellen. Zeitliche Ebenen werden durch parallele filmische Ebenen ausgedrückt, die alle in einem Bild zu sehen sind. Mit ständig übereinander gelagerten Bildern verdeutlicht die Regisseurin die Gedankenwelt eines alten Mannes, der sich an sein vergangenes Leben erinnert, beginnend bei seiner Kindheit und Jugend in Irland.Wie ein Puzzle setzt sich die Geschichte des Mannes für den Zuschauer zusammen. Die wirtschaftlich bedingte Flucht aus Irland. Die Reise als Arbeiter und Tagelöhner durch ganz England bis zum Tag der Erzählung in einem kahlen, kleinen Zimmer in London. Die Perspektive ist immer die des alten Mannes, selbst in den Versatzstücken, die von seinem vergangenen Leben gezeigt werden, ist er immer als alter Mann zu sehen. Sein Alter reflektiert auch sein materiell armes Leben - in zwar nicht bitteren, aber doch sehr melancholischen Bildern.Das Gefühlsleben einer ganzen Clique von Männern in „Cheung Fo/The Mission“ zu verstehen fällt schwer. Formal orientiert sich der Film an klassischen Gangsterfilmen Hongkongs. Es wird also viel geschossen, kaum gesprochen und Frauen sind nur Statistinnen. Doch hinter ihrer Maskerade - vielleicht für Europäer schwer zu erkennen - versteckt sich die Seele der Männer.
Die Clique, bestehend aus fünf Killern, ist beauftragt, den Mord an einem Triadenboß aufzuklären. Während der täglichen Zusammenarbeit kommt es fast unmerklich zur Freundschaft der Männer untereinander. Diese wird im Showdown auf die Probe gestellt, als einer der Männer auf Befehl des Auftraggebers von den anderen wegen einer Ehrverletzung erschossen werden soll. Hier zeigt sich in den sonst versteinerten Gesichtern ein Hauch von Gefühlswelt. Denn: Auch Killer haben Seelen - oder doch nur Instinkte?
Psychische Gewalt beschreibt der finnische Film „Pelon maantiede/Geographie der Angst“. Basierend auf dem Roman von Anja Kauranen, „Geography of Fear“, wird die Geschichte einer Gruppe von acht Frauen erzählt, die sich gezwungen sieht, an Männern für die lange, schlechte Behandlung Rache zu üben. So werden besonders fiese Typen herausgesucht, um ihnen mit allen erdenklichen psychischen Tricks das Fürchten zu lehren. Doch eine der Strafaktionen ist schief gegangen. Es gibt einen Toten, mit dem eine Gerichtsmedizinerin, die die Schwester einer der Rachefrauen ist, beschäftigt ist. Diese wird im Verlauf der Geschichte das Bindeglied zwischen der Welt der Frauen und der ‘Normalität’ und gerät dabei selbst immer mehr in den Sog der Brutalität.
Der Film thematisiert die Angst von Frauen vor Männern, die durch ihre vermeintliche psychische und physische Stärke Frauen unterdrücken. Und der Film zeigt, wie Männer diese Angst am eigenen Leib erfahren. Zugleich lösen sich die Grenzen zwischen Gut und Böse auf. Wer für was steht, ist nicht mehr erkennbar und erzählerische Perspektiven werden von der Regisseurin kurzerhand umgekehrt.Problematisch erscheint an dem Film vor allem, dass der Eindruck entstehen kann, als handele es sich um ein Plädoyer für das Prinzip Gleiches mit Gleichem zu vergelten, obwohl der Film laut Aussage der Filmemacherin ein Plädoyer für menschlichen Respekt sein sollte.Im Gegensatz zu dieser realistisch dargestellten Geschichte ist in „20 - Venti“ eine vollkommen traumhafte Welt zu erleben. 20 Zigarettenlängen, in die die Handlung aufgeteilt wird. 20 Einzelgeschichten, die zusammenhängen und doch viel Raum lassen, um sich eigene Verbindungsstücke für die Geschichte auszudenken. Die fortlaufende Geschichte ist die einer Porno-Darstellerin und einer Journalistin, die erstere vom Drehort zu einem Interview beim Fersehen abholt. Es entwickelt sich Freundschaft und Liebe zwischen den beiden und die ganze Story gleitet in eine märchenhafte Vision. Dabei werden immer wieder Filmzitate, die sich in die Kulissen einschleichen, zur Visualisierung des Traumes benutzt.
Die einzelnen Erzählelemente sind getrennt durch Schwarzbilder. In diesen ‘Pausen’ sind lediglich Geräusche oder abklingende, kurze Dialoge zu hören. Hier bildet sich der Raum, um sich in eigene Gedanken zu verlieren. Die Geschichte, die Marco Pozzi offensichtlich mit seinem Film erzählen will, ist die von den oft nur scheinbaren Unterschieden zwischen Menschen.Je mehr sich der Vorrat an Zigaretten dem Ende zuneigt, um so mehr gleichen sich die Hauptfiguren aneinander an, bis sie weder innerlich noch äußerlich auseinanderzuhalten sind.
Seit Jahren begeistert Johan van der Keuken das Publikum des Forums mit eindringlichen Dokumentarfilmen, die Grenzen zwischen den Genres auflösen. Bei „De grote Vakantie /Die Großen Ferien“ steht van der Keuken selbst im Mittelpunkt; er ist nicht mehr der Erzähler seiner Eindrücke, sondern er wird zum Akteur.Die Diagnose für van der Keuken war klar: Prostatakrebs und die Zeit bis zum Tod ist abzusehen. So macht er sich mit seiner Frau und zwei Kameras auf zu seiner letzten Reise. Eine Reise durch seine Krankheitsgeschichte und nach Tibet, Burkina Faso, San Francisco. Mit dem Wechsel zwischen der Person des Filmemachers und den Bildern aus aller Welt verdeutlicht van der Keuken die Vergänglichkeit und den Reichtum der persönlichen Eindrücke. Die Zuschauer schwanken zwischen dem Schrecken über den nahenden Tod und der Freude über die vielen schönen Impressionen. So inszeniert van der Keuken einen Abschiedsfilm ohne Melancholie, aber mit einer Überraschung am Ende: In den USA stößt er auf ein Medikament, das seine Überlebenschancen deutlich verbessert!
Stabangaben der genannten Filme
Cheung Fo/The Mission
Regie: Johnnie To - Kamera: Cheng Siu Keung - Darsteller: Anthony Wong, Francis Ng - Produktion: Milkyway Image, Hongkong/China 1999 - Länge: 81 MinutenDe grote VakantieReige und Kamera: Johan van der Keuken - Produktion: Pieter an Huyster Film & TV, Niederlande 1999 - Länge: 145 Minuten
Heimkehr der Jäger
Regie und Buch: Michael Kreihsl - Kamera: Oliver Bokelberg - Darsteller: Ulrich Tukur, Julia Filimonov, Nikolaus Paryla - Produktion: Wega Film, Österreich 2000 - Länge: 86 MinutenI Could Read The SkyRegie und Buch: Nichola Bruce - Kamera: Seamus McGarvey - Darsteller: Dermot Healy, Jake Williams, Lisa O’Reilly - Produktion: Hot Property Films, Großbritannien 1999 - Länge: 86 Minuten
Pelon maantiede/Geographie der Angst
Regie und Buch: Auli Mantila - Kamera: Heikki Färm - Darsteller: Tanjalotta Räikkä, Leea Klemola, Pertti Sveholm - Produktion: Blind Spot Pictures Oy, Finnland 1999 - Länge: 95 Minuten
20 - Venti
Regie und Buch: Marco Pozzi - Kamera: Alessio Viola - Darsteller: Cecilia Dazzi, Anita Caprioli, Ivano Marescotti - Produktion: Quattrocentoundici, Italien 1999 - Länge: 91 Minuten
Literatur
Wie jedes Jahr ist wieder eine materialreiche und ausführliche Dokumentation zu den Filmen erschienen, die bei den Freunden der Deutschen Kinemathek e.V., Welserstr. 25, 10777 Berlin bestellt werden kann.
Zur 30-jährigen Geschichte haben die Freunde der Deutschen Kinemathek „Zwischen Barrikaden und Elfenbeinturm. Zur Geschichte des unabhängigen Kino. 30 Jahre Internationales Forum des Jungen Films“ herausgegeben. Verlegt wurde diese Dokumentation im Henschel Verlag, Berlin 2000 (208 S. mit 107 Abb., DM 49,90).
Andreas Hedrich: Der unabhängige Film
Wie in jedem Jahr, so auch beim Abschied Ulrich Gregors nach 30 Jahren Leitung, bot das Forum einen Querschnitt durch das unabhängige Filmschaffen aus vielen Ländern. Die Unabhängigkeit von den großen Filmproduktionen und -verleihern ermöglicht es den FilmemacherInnen, ihre eigenen Beobachtungen und Beschreibungen gesellschaftlicher Gegebenheiten zur Grundlage ihrer Werke zu machen.Hin und her gerissenSich nicht entscheiden können, unsicher sein, zweifeln, gehört zu den menschlichsten Eigenschaften. Ein Zustand, der in mehreren Filmen zum Thema wird. So in „Departure“ vom japanischen Regisseur Yosuke Nakagawa. In Okinawa, weit weg vom Tokioter Großstadtleben, suchen drei 18-jährige Freunde nach dem künftigen Stellenwert ihres Lebens. Sie haben den Drang nach Neuem und den Wunsch nach Halt. Sie haben die Schule abgeschlossen und unterschiedliche Pläne und Vorstellungen, wie es weitergehen soll. Jeder möchte seinen eigenen Weg gehen und merkt – fast überrascht -, dass dies mit Trennung und Abschied verbunden ist. So fühlen sich die drei Jugendlichen das erste Mal in ihrem Leben mit Problemen der Erwachsenenwelt konfrontiert und müssen nicht nur Abschied von ihrem bisherigen Lebensabschnitt nehmen, sondern auch voneinander und von ihrer Freundschaft.
Nakagawa inszeniert die Handlung mit einer spürbaren Neugier an dem Verhalten der jungen Leute. Das wird in den sehr einfühlsamen, ruhigen Bildern und den langen, beobachtenden Sequenzen deutlich.Die Suche nach Halt und Nähe ist auch in Barbara Geblers Abschlussfilm an der DFFB, „Salamander“, ein Thema. Ihre Geschichte handelt von Sandra einer jungen Grafikerin, die sich lange Zeit mit dem Fälschen von Pässen über Wasser gehalten hat. Sandra ist hin und her gerissen zwischen Liebe und Abneigung zu ihrem Freund Ronnie. Er ist als Freund liebenswert und einfühlsam, als Kompagnon und Auftraggeber aber selbstzerstörerisch und chaotisch. Als sie aus dem kriminellen Gewerbe aussteigt, werden ihre Gefühle für ihn auf die Probe gestellt.Die solide Regiearbeit wird unterstützt durch die schauspielerische Leistung der SchauspielerInnen. Und die Kamerafrau hat einige interessante technische Kunststückchen zustande gebracht. So sind beispielsweise sämtliche Nacht-Auto-Aufnahmen (sicherlich ein Drittel des Films) in einer Tiefgarage mit einfachem DV-Material gedreht worden.
Die Hintergründe der Autofahrten wurde einfach auf Bettlaken projiziert. Erfrischend ist die Kürze des Films. In knapp 60 Minuten wird rasant eine auch amüsante Geschichte über die Liebe im Gangstermilieu erzählt.„Booye Kafor, Atre Yas“ (Der Geruch des Kampfers, der Duft von Jasmin) ist der erste Film von Bahman Farmanara nach 20 Jahren Berufsverbot im Iran. In dieser Zeit wurden seine Drehbücher von der iranischen Zensur abgelehnt. Ob die Zulassung für diesen Film als ein Zeichen der Liberalisierung des Regimes zu deuten ist? Auch im Film geht es um einen Mann, dem es in den letzten 20 Jahren verwehrt war Filme zu drehen. Seine Frau starb, seine Kindern interessieren sich nicht für ihn. Der Mann vereinsamte. Sein übermäßiges Rauchen bringt ihn auch körperlich an den Rand des Ruins. Als Antwort auf dieses trostlose Dasein beginnt er die Verfilmung seiner eigenen Beerdigung akribisch zu planen: Unter dem Vorwand, für einen japanischen Fernsehsender eine Dokumentation über Beerdigungsrituale im Iran zu drehen, stellt er ein Team zusammen, welches seine Bestattung aufnehmen soll. Aber die Organisation der Dreharbeiten und das Schreiben des Drehbuches bringen dem Regisseur wieder Lebensmut. Als der Tag der Beerdigung gekommen ist, ist er nicht nur über seinen Tod, sondern auch über sein Filmteam entsetzt, welches sich fast gar nicht an sein Drehbuch hält. Er wacht auf...Die Geschichte klingt aber ernster als sie ist. Gespielt wird die Hauptfigur in dieser Tragikomödie von Bahman Farmanara selbst, der seine Arbeit so interpretiert: „Der Film ist das Produkt der letzten liberaleren Jahre und deshalb auch der Versuch, das wiederzugeben, was im Iran von heute mit uns geschieht.“Auch Renny Bartletts furioser Film handelt von einem Filmemacher, der jahrelang mit Berufsverbot belegt war. Es ist ein Porträt und eine Liebeserklärung an den Schöpfer der Montage, Sergej Eisenstein. Bartlett beschreibt Eisensteins Leben als schräg und skurril und genau so ist auch sein Film. Es ist die Geschichte eines merkwürdigen Einzelgängers, der immer versuchte, seine Träumen und Vorstellungen zu leben. Das brachte Eisenstein immer wieder in Schwierigkeiten mit den politischen Machthabern der Sowjetunion. „Eisenstein“ ist ein interessanter Spielfilm, bei dem die schauspielerischen Leistungen faszinieren und der Versuch Bartletts, die Bilder nach Eisensteins Prinzip zu montieren.
Es ist auch bemerkenswert, an wie vielen Originalschauplätzen der Kanadier gedreht hat.Verstehen wollenDer britische Künstler Andy Goldsworthy erarbeitet seine Plastiken mit Materialien aus der Natur. So stehen seine Schöpfungen mit der Vergänglichkeit in der Natur im Einklang. Sie werden weggespült, sie vermodern, sie lösen sich auf. Goldsworthys Kunstwerke sind bislang vornehmlich auf Fotografien festgehalten und Thomas Riedelsheimer hat es sich mit seinem Film „Rivers and Tides - Fluss der Zeit“ zur Aufgabe gemacht, Goldsworthys Kunstwerke in ihren Veränderungen zu dokumentieren. Riedelsheimer schafft es, mit dem Film ein eigenes Kunstwerk zu gestalten. Er zeigt die Arbeit an einem Werk, dabei erzählt Goldsworthy von seinen künstlerischen Vorstellungen, aber auch von ganz alltagspraktischen Problemen der Umsetzung. Aber ruhige Sequenzen mit einer für den Film komponierten Musik überwiegen. Da viele Goldsworthy-Objekte von der Bewegung leben, kann man ihnen in aller Ruhe zusehen.Sandi Simcha DuBowskis „Trembling Before G-d“ handelt von den Schwierigkeiten homosexueller orthodoxer Juden in DuBowskis Heimatstadt New York, aber auch in Israel. Es erstaunt, mit welchem fanatischen Eifer die Personen ihre Religion leben möchten, obwohl die Thora ausschließlich das Zusammenleben von Mann und Frau als Lebensgrundlage anerkennt. DuBowski hat sich viel Zeit (aber auch Geld) genommen, damit sich der Film, wie er es ausdrückte, „vollsaugen“ kann. Er beschreibt, trifft und zeigt Menschen, die versuchen in engen orthodoxen religiösen Gemeinschaften mit ihrer Homosexualität zu leben, Menschen, die den Druck der Gesellschaft nicht mehr aushalten können und sich von ihrem Glauben abgewandt haben und Menschen, besonders Frauen, die getrieben sind von der Angst, dass ihre Homosexualität entdeckt werden könnte.
Auch „Danach hätte es schön sein müssen“ hat eine starke persönliche Ebene. Karin Jurschick versucht die eigene Familiengeschichte nachzuzeichnen. Bestimmend wird der 20 Jahre zurückliegende Selbstmord der Mutter. Um sich dem aus ihrer heutigen Sicht anzunähern, nimmt Jurschick nach Jahren wieder Kontakt zu ihrem Vater auf und gerät vor der Kamera wieder in die alten Konflikte mit ihm. Zunächst wirken die Bilder fast zu nah, doch im Laufe des Filmes distanziert sich die Filmemacherin immer stärker davon. Sie spricht nicht mehr von sich, ihrem Vater oder ihrer Mutter, sondern nur noch von dem Mann, der Frau und dem Kind.Umgesetzt hat Karin Jurschick diese Situationen in Bilder aus der eigenen Perspektive, manchmal aus der Vogelperspektive gedreht. Zudem montiert sie, was ihre Distanz unterstützen soll, zeitgenössische Filmbilder, die bestimmte Zeitabschnitte belegen sollen. Beeindruckend ist der Film in vielfacher Hinsicht, hervorzuheben ist, dass es sich um Jurschicks ersten Film handelt. Sie schafft es, dem eigenen Thema eine gesellschaftliche Sicht abzugewinnen. Die qualvolle Enge einer Beziehung wird beschrieben, die nicht auf Liebe, sondern auf Vernunft aufbaut. Zugleich wird versucht, die Positionen der Menschen zu verstehen, die Hintergründe zu durchschauen.
Andreas Hedrich: Filme aus der Sektion Forum des jungen Films und Panorama
Immer wieder ist eine bunte Mischung an Filmen der unterschiedlichen Genres beim „Forum“ im Rahmen der Berlinale zu finden. Filmneulinge und routinierte Stammgäste wechseln sich mit der Präsentation ihrer Filme ab. Das Publikum ist interessiert und diskussionsfreudig. Genau das, was Christoph Terchete in seinem ersten Jahr als Forumsleiter gewünscht hat. Dem Publikum andere Denkweisen, fremde Kulturen, Unbekanntes nahe zu bringen, waren Ziele vieler Filme, so auch von „Aoud rih“ (The Wind Horse) von Daoud Syad aus Marokko. Der alte Hufschmied Tahar und ein aus dem Krankenhaus geflüchteter junger Mann werden zu einem ungleichen Paar auf der Suche nach der Vergangenheit. Der Alte pflegt die Erinnerung an seine Frau an deren Grab und der Jüngere sucht seine Mutter, die er nie kennen gelernt hat. Bei beiden eine Suche nach der eigenen Person und der Einstellung zum Leben.Um an die verschiedenen Wunsch-Orte zu kommen, dient den beiden ein altes Motorrad mit Beiwagen. Dadurch verschafft der Film einen Einblick in die Weiten Marokkos. Die Bilder sind den Handlungen untergeordnet. Ruhige, lange Einstellungen für den Älteren, schnellere Schnittfolgen für den Jüngeren.
Der Film strahlt dabei eine Ruhe aus, die die Gefühle und Gedanken der beiden Männer für die Zuschauer fassbar macht. Lärm, Emotionen, Schnelligkeit, das sind Merkmale von Sandra Gugliottas Film „Un dia de suerte“ (Ein Glückstag), in dem das Alltagsleben der jungen Frau Elsa in Buenos Aires im Mittelpunkt steht. Die historische Verbundenheit, die Kritik an der derzeitigen politischen Lage sind in dem Debütfilm zu spüren, bilden allerdings vor allem den Handlungshintergrund. Im Vordergrund steht die Suche nach Glück. Erzählt wird anhand der Geschichte einer jungen Frau, die zusammen mit ihrer Freundin ihre Zeit mit Gelegenheitsjobs verbringt. Mit der Generation der Eltern und des Großvaters wird das politische Argentinien gezeigt. Der Großvater, ein aus Italien emigrierter Anarchist, macht keinen Hehl aus seinen Überzeugungen, während der mittlerweile arbeitslose Vater von Elsa sich an das Überbleibsel eines vergangen Luxus klammert. Das Leben von Elsa erscheint ruhig, doch unter der Oberfläche lodert eine große Sehnsucht. Die Hoffnung auf ein anderes Leben in der Ferne. Und so träumt sie von ihrem italienischen Urlaubsflirt und einer Reise zum Wiedersehen.Die Suche der Protagonistin wird in fast dokumentarische, schnelle Bilder umgesetzt. Eine einfache Handkamera, Video und wenig Licht verbinden das Geschehen. So werden die Bilder wahrhaftig. Und während die Zuschauer denken, dass Elsa wahrscheinlich niemals ihren Traum verwirklichen und nach Italien reisen wird, ist sie schon da. Ihr Leben geht in Italien genauso weiter, die Szenen aus dem neuen Leben ähneln dem in Südamerika erstaunlich.
Die Geschichte „Atlantic Drift“ fand Michael Daëron bei einer Reise nach Mauritius. Dort entdeckte er 70 Gräber, die zum Meer blicken. Es handelte sich um die Gräber von Juden aus europäischen Metropolen. Menschen, die 1939 eine lange Flucht antraten, die für viele auf Mauritius mit dem Tod endete.Das Tagebuch eines Verfolgten bildet den roten Faden des Films. Eine Mädchenstimme liest aus den Notizen vor, parallel dazu erfährt der Zuschauer von den anderen Protagonisten des Films aus England und Israel, was auf der langen Reise geschah.Aus Wien, Berlin und Budapest sammelten sich über 4.000 Juden, die mit Schiffen Donau abwärts Palästina erreichen wollten. Schon auf dem ersten Teilstück zum schwarzen Meer versuchten die englischen Geheimdienste (belegt durch Akten die erst jetzt für Recherchen freigegeben wurden) die Flüchtenden zu stoppen. Militär und Hafenverwaltungen sollten die Schiffe nicht passieren lassen. Auf dem Meer wurde das Geschehen immer grauenvoller. Zusammengepfercht auf einem kleinen Schiff - eben der Atlantic Drift – wurden die Menschen von den Engländern gehindert, sich im gelobten Land niederzulassen. Sie wurden nach Mauritius abgeschoben, wo sie über vier Jahre in einem Gefängnis interniert waren.Der Film montiert Erinnerungen mit einer realen, nachgestellten Reise einer Überlebenden, seiner Frau, und Geheimdokumenten der Engländer. Die Bilder sind mit elektronischer Musik gekoppelt
. Diese Musik wird vom Regisseur zur Interpretation eingesetzt. Sie steht für sein Tagebuch, in dem Visionen und Geschichten zusammengeführt sind. Die Parallelen, die sich zu heutigen Flüchtlingsdramen und die Abschiebepraxis vieler Länder zeigen, macht das Dokument zu einem überzeugenden Statement in der Diskussion um Asyl und Flucht.Der portugiesische Film „O gotejar da luz“ (Lichttropfen) von Fernando Vendrell, hat die Kolonialzeit im heute von Bürgerkrieg und Naturkatastrophen zerstörten Mosambique zum Thema. Ähnlich wie in Caroline Links „Nirgendwo in Afrika“ steht in „O gotejar da luz“ die Geschichte einer Kolonialfamilie im Mittelpunkt. Zentrale Figur ist ein Junge, der in der Welt der Weißen und mit den Riten der Schwarzen aufwächst. Dabei kommt es zwangsläufig zu kulturellen Spannungen und konkreten Problemen in seiner Familie. Erzählt wird zunächst über das menschliche Miteinander. Zu Beginn kehrt der mittlerweile über 40-jährige Rui an den Ort seiner Kindheit zurück und erzählt rückblickend seine Geschichte. Er wächst mit den weisen Ratschlägen des Fährmanns auf, feierte die Feste der Dorfbewohner mit und das Hausmädchen wird von ihm als seine Schwester angesehen.
Die Idylle wird schnell gebrochen. Der Rassismus dieser Zeit wird spürbar. Während der Faschist Salazar in Portugal herrscht, wird in den Kolonien durch rigide Maßnahmen der Grundstein für heutige Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent gelegt. So bekommt auch Rui zu spüren, was es bedeutet, wenn mit der Baumwolle eine Monokultur gefördert wird, die zu Hunger und Unterversorgung führt. Je älter er wird, um so mehr nimmt er die Widersprüche wahr. Die Ausbeutung von Menschen und Boden, die Unterschiede in den Kulturen.Eine Liebesgeschichte zwischen der jungen Schwarzen (Ruis ‚Schwester’) und Carlos, einem Cousin von Rui, bringt die Welt aus dem Lot. Die verbotene Liebe findet in einem Rachemord ein jähes Ende. Das Idyll und die Kindheit sind für Rui zerstört.
Andreas Hedrich: Digitale Spiele: wichtige Bausteine für die Medienbildung
Medien, egal ob digital, analog, neu, alt, sind mehr als Mittler. Sie sind eigene Systeme und funktionieren innerhalb eines gesellschaftlichen Systems. Sie haben eigene Sprachen, die mit ihnen verbundene Kommunikation ist spezifisch und der Prozess der Produktion ist, neben dem ökonomischen, immer auch ein inhaltlicher und kreativer. Medienarbeit, oder die Vermittlung von Medienkompetenz, hat damit zu tun, wenigstens einen Teil des Systems verständlich und begreifbar zu machen, sodass Möglichkeiten eröffnet werden, dieses System zu verändern und es für sich selbst zu nutzen oder den Nutzen für sich selbst zu erkennen.
Weiterführende Links
www.computerspielschule-hamburg.de
www.playfestival.de: PLAY19 – Creative Gaming Festival, 14. bis 17. November 2019 in Hamburg
www.medienkompetent-mit-games.de: Hier können Methoden und Konzepte als OER-Material abgerufen werden.