Prof. Dr. Susanne Heidenreich
- Beirat
Vita
Ich bin bei merz seit 2014.
Aktivitäten
Dozentin an der TH Nürnberg Georg Simon Ohm.
Schwerpunkte
Aktuell beschäftigen mich besonders …
- Computerspiele (Kompetenzerwerb/Strategiemuster/Flow-Erleben/“Hürden meistern“ etc.) für die Soziale Arbeit nutzbar machen.
- Medien und Inklusion: Die Bedeutung von Medien/Medienarbeit auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft
- Fotografie im pädagogischen Kontext
Beiträge in merz
Dagmar Hoffmann und Susanne Heidenreich: Zur Bedeutung und Funktion von Empowerment im Kontext inklusiver Medienpraxis
Über die vielfältigen Vernetzungs-, Kollaborations-und Mobilisierungsmöglichkeiten durch neue mediale Öffentlichkeiten und damit verknüpft neue mediale Infrastrukturen, insbesondere Dienste, ist in den vergangenen Jahren viel diskutiert worden. Die Kommunikations- und Partizipationsangebote mittels vielfältiger Medien, Formate und Anwendungen haben sich enorm erweitert. Die neuen medialen Gegebenheiten haben Teilhabemöglichkeiten verändert und auch dazu geführt, dass sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen und/oder Menschen mit Behinderungen in den Medien stärker präsent sind. Anfang des Jahrhunderts attestierten Gerard Goggin und Christopher Newell (2003) dem Internet und den mobilen Telekommunikationstechnologien das Potenzial, das Leben von behinderten Menschen künftig zu revolutionieren. Insbesondere text-basierte Informationen können für Sehbehinderte in auditive Informationen transformiert werden, auch haben sich einige technische Assistenten etabliert, die Beeinträchtigungen kompensieren können. Doch der technologische Fortschritt und die besseren Zugangsbedingungen zu gesellschaftlichen Teilbereichen, die im Netz (re-)präsentiert werden, mindern und eliminieren – so Katie Ellis und Mike Kent (2011) – nicht ohne Weiteres vorhandene Stigmatisierungen von Be-hinderungen und den sozialen Ausschluss benachteiligter Gruppen. Es werden allenfalls die Lebenswelten und Bedürfnisse marginalisierter Menschen offensichtlicher, was nicht zugleich deren Akzeptanz bedeutet. Weiterhin sind vor allem die Betroffenen selbst aufgefordert, auf ihre Belange hinzuweisen und sich zu ermächtigen, auf Probleme aufmerksam zu machen, Hilfen einzufordern sowie Missstände aufzudecken.
Dem Internet wird ein besonderes demokratisches Potenzial zugeschrieben, es gilt bisweilen als Befreiungsinstrument, doch findet sich dort faktisch jeder mit seinen persönlichen und/oder kollektiven Interessen wieder? Ist es nunmehr wirklich für alle sozialen Gruppen einfacher geworden, sich zielorientiert öffentlich zu machen und sich mit persönlichen Problemen und Nöten ausreichend Gehör zu verschaffen? Zu fragen ist, welche vielfältigen Bemühungen es derzeit gibt, mittels digitaler Medien und Anwendungen die Integration marginalisierter Akteure zu fördern und sie zu ermutigen, am sozialen und kulturellen Leben gleichberechtigt teilzunehmen sowie offensiv ihre Rechte verstärkt einzufordern. In diesem Kontext ist Empowerment zu einem Schlagwort avanciert, dass auf die (Wieder-) Herstellung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Lebensalltags abzielt und Menschen befähigen soll, eigenverantwortlich für die eigenen Bedürfnisse, Interessen und Wünsche aktiv einzutreten und sich gegen Bevormundung zu wehren. Es geht darum, sich der eigenen Ressourcen und des eigenen Gestaltungsvermögens bewusst zu werden sowie positive Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und sozialer Anerkennung zu machen. Es sollen Wege aufgezeigt werden, wie man sich Zugang zu relevanten Informationen, Dienstleistungen und Unterstützungsressourcen verschaffen kann, die einem nützlich sind und die helfen, sich mit seinen Problemen nicht allein zu fühlen. Empowerment-Konzepte sind in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen erprobt und bisweilen kritisch diskutiert worden. Sie haben eine längere Tradition in der Sozialen Arbeit, der Behinderten- und Heilpädagogik, sie sind aber auch in der Bewegungsforschungund Entwicklungspolitik vertreten und in Arbeiten der Cultural Studies zu finden. Fokussiert wird auf Aspekte von gesellschaftlichem Machtgewinn und der Stärkung der Autonomie marginalisierter Gruppen. Ferner gilt es, Menschen zu befähigen, Strategien zu entwickeln und anzuwenden, die ihnen bei der Bewältigung der alltäglichen Lebensbelastungen behilflich sind (vgl. u. a. Bröckling 2003; Herriger 2014).
Kernfragestellungen und Problemfelder
Im Mittelpunkt aktueller Betrachtungen stehen Prozesse von Selbstbemächtigung und Selbstkompetenz, die einerseits über die Thematisierung anlassbezogener, temporärer sowie auch dauerhaft relevanter Ereignisse und Probleme, andererseits über selektive Kooperationen und die Nutzung medialer Infrastrukturen möglich werden. Das Laut- und Sichtbarwerden marginalisierter Individuen und Gruppen soll eine verstärkte Sensibilisierung gewähren und ein neues Problembewusstsein seitens der breiten Bevölkerung gegenüber benachteiligten Menschen schaffen. Daraus könnten sich dann – so die damit verbundenen Hoffnungenund Intentionen – Unterstützungsmomente für Inklusionsbestrebungen in unterschiedlichen Bereichen ergeben. Zugleich werden aber auch die Herausforderungen und pädagogischen Handlungsbedarf ein verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen evident, werden die Grenzen des Möglichen und Machbaren proaktiver Selbstintegration marginalisierter Gruppen verdeutlicht. Im Kontext der Debatte um Empowerment-Strategien und inklusive Medienpraxis gilt es herauszufinden, inwieweit strukturelle Ermutigungsbedingungen konkret dazu beitragen können, soziale Benachteiligung, Diskreditierung und Diskriminierung transparent zu machen, ihnen entgegen zu wirken und sie gegebenenfalls überwinden zu helfen. Kaum systematisch untersucht sind bislang die Formen öffentlicher Artikulation – wie etwa Blogging – marginalisierter Gruppen, die effektiv der Empörung, der Kritik und Destigmatisierung dienen. Empowerment-Strategien fokussieren primär auf die benachteiligten Individuen, ihren Befähigungen und Defiziten, eher selten werden die Affordanzen digitaler Medien, Infrastrukturen und Dienste in den Blick genommen, wenn es um die potenzielle und faktische Förderung von Emanzipation, Integration und Inklusion geht. Zu fragen und zu ermitteln ist, ob Bedürftigkeiten sowie Ressourcen und Bereitschaften der Betroffenen mit den vorhandenen Medienangeboten eigentlich zusammenpassen und inwieweit sie gewinnbringend mit gewisser Nachhaltigkeit genutzt werden (können). Welche Kompetenzen sind basale Voraussetzung, um sich eigenständig für soziale und kulturelle Teilhabe stark zu machen und gegebenenfalls andere als Unterstützende und Mitmachende zu gewinnen? Empowerment-Konzepte dienen dazu, sich der eigenen Stärken und Macht bewusst zu werden, sie erlauben es, Schritt für Schritt mutiger zu werden, um sich einzumischen. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass bestimmten pädagogischen und psychologischen Empowerment-Maßnahmen auch Grenzen gesetzt sind.
Zu diesem Heft
Die Frage von Ulrich Bröckling, was Medien mit Empowerment zu tun haben, scheint fast beantwortet: Sie bemächtigen (auch marginalisierte) Individuen, Kommunikation vernetzter, leichter und effizienter zu gestalten, durch einen erleichterten, globalen Zugang zu Wissen und Waren. Zugleich etablieren sie neue Ansprüche an Kommunikation (ständige Erreichbarkeit) und Effizienz (Multitasking, Informationsselektion). „Die Kommunikationsmöglichkeit ist zur Kommunikationspflicht geworden“, so Bröckling. Er hinterfragt, welche Rolle das Konzept des Empowerment spielt, mit welchen Widersprüchen der Begriff ausgestattet ist und in welcher Paradoxie Macht und Ohnmacht im Empowerment-Begriff vereint sind. Im Anschluss begibt sich Alexander Röhm auf die Suche nach Prozessen, die zu stigmatisierenden und destigmatisierenden Medieneffekten führen (können). Vor allem die Potenziale von Medien zur Destigmatisierung von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen oder Behinderungen stehen im Fokus und die Frage, wie sie als Empowerment-Instrument nutzbar gemacht werden können. Die Debatte um Inklusion greift Jan-René Schluchterauf, indem er die Frage nach Chancen-gleichheit in und Zugangsgerechtigkeit zur mediati¬sierten Gesellschaft – unabhängig von sozialer und/ oder kultureller Herkunft, Geschlecht, Alter oder Behinderung – zum Anlass nimmt, den Zusammenhang von Medien und sozialer Ungleichheit zu beleuchten. Dabei stellt Schluchter Medien als Instrumente des Empowerment vor und erarbeitet den Zusammenhang zur aktiven Medienarbeit.
Einen weiteren Schritt gehen Alexander Schmoelz und Oliver Koenig auf ihrer Spurensuche nach einer inklusiven Medienpädagogik. Sie sprechen von einer „Not“ für jene Menschen, „die in ihrer Biografie keine Möglichkeiten für Erfahrungen des Medienzugangs, der Medienkompetenz und der Medienbildung hatten.“ Daraus entsteht die Notwendigkeit einer Medienpädagogik, die in der Lage ist, „befähigende Räume zu schaffen“. Die Journalistin Mareice Kaiser berichtet im Interview mit Dagmar Hoffmann über ihre Intentionen, ein inklusives Familienblog zu führen. Sie erläutert, welches Vorwissen und welche Kompetenzen von Vorteil sind, um solch ein Blog kreativ und erfolgreich zu betreiben. Eindrücklich schildert sie ihre Erfahrungen des digitalen Austausches mit Eltern, die ebenfalls ein Kind mit Behinderung pflegen und betreuen, sowie von behinderten-feindlichen Reaktionen. Abschließend werden zwei Beispiele vorgestellt, in denen Medien Instrumente für Empowerment sind. Die Artikel widmen sich aus zwei Sinnes-Perspektiven dem Medium Film: Kira van Bebber- Beeg analysiert anhand einer US-amerikanischen Fernsehserie die Partizipationsformen gehörloser Rezipierender, während Lena Hoffmann neue Möglichkeiten für blinde und sehbehinderte Menschen im Kino erläutert. Zwei Zugänge, die hörende und sehende Leserinnen und Leser dafür sensibilisieren, dass ein Kinobesuch oder Fernsehabend viel mehr sind als nur Freizeit und Unterhaltung, nämlich Selbstbemächtigung und Teilhabe!
Literatur:
Bröckling, Ulrich (2003). You are not responsible for being down, but you are responsible for getting up. Über Empowerment. In: Leviathan, 31 (3), S. 323–344.
Ellis, Katie/Kent, Mike (2011). Disability and New Media. New York/London: Routledge.
Goggin, Gerard/Newell, Christopher (2003). Digital Disa¬bility: The Social Construction of Disability in New Media. Lanham u. a.: Roman & Littlefield.
Herriger, Norbert (2014). Empowerment-Landkarte: Diskurse, normative Rahmung, Kritik. In: APuZ, 13–14, S. 39–46.
Susanne Heidenreich/Ulrike Wagner: Editorial: Digitale Gewalt – analoge Muster in digitalen Dimensionen?
„Regierungen der industriellen Welt, ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir errichten, als gänzlich unabhängig von der Tyrannei, die ihr über uns auszuüben anstrebt.“ Dieser vielzitierte und pathetische Satz stammt aus der von John Perry Barlow veröffentlichten Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace aus dem Jahr 1996. Gerade einmal 25 Jahre später ist die Verantwortung von allen, auch von diesen Regierungen bei der Suche nach Lösungen gefordert, wie diese neue Heimat eines Geistes zu (maß-)regeln ist, der selbst zum Tyrannen geworden ist. Die Zeiten, aus denen die Unabhängigkeitserklärung stammt, war verbunden mit der Idee eines neuen sozialen, kreativen und gemeinschaftlichen Miteinanders ‚im Internet‘, einer neuen Welt im Cyberspace. Abgesehen davon, dass sich die Begrifflichkeiten gewandelt haben (der Begriff Cyberspace mutet fast schon unzeitgemäß an), ist heute unverkennbar: Digitale Interaktionen bieten nicht nur Möglichkeiten für eine sinnstiftende, konstruktive und kreative Nutzung, sondern auch für Formen des zerstörerischen Gegenteils. In der öffentlichen Diskussion erscheint dieses Internet immer wieder als Nährboden für Hass und Hetze, als Sprachrohr für extreme Ansichten und als Herd für eine ‚verbale Giftsuppe‘. Aber auch weit über die Gewalt der Sprache hinaus werden digitale Instrumentarien des Netzes für die Überwachung, Kontrolle, Verleumdung oder anderweitige Bedrohungen gegenüber einzelnen Personen genutzt. Eine Übersicht über derzeit bekannte Phänomene in diesem Heft (siehe Glossar, S. 24 ff.) zeigt, wie breit das Spektrum digitaler Gewalt sein kann. Und es deutet an, wie weit digitale Aggression in das Leben eindringt. Die Eskalation von Gewalt gegenüber öffentlichen Personen und der Übergang von digitalen Attacken in den physischen, öffentlichen Raum finden regelmäßig ihren Platz in der medialen Berichterstattung. Was aber passiert bei digitaler Gewalt im häuslichen, alltäglichen Umfeld? Welche Aufmerksamkeit und Hilfe erfahren die Betroffenen von digitaler Aggression, die aus dem privaten Beziehungsumfeld ausgeübt wurden? Was passiert mit Ex-Partnerinnen bzw. Ex-Partnern, die privates Bildmaterial veröffentlichen? Oder mit Kindern, die selbst in den privatesten Momenten zum Postingmaterial ihrer Eltern werden? Mit Jugendlichen, die von ihren Eltern permanent digital kontrolliert und überwacht werden? Eltern, die von ihren Kindern in Sozialen Netzwerken verleumdet werden? Kinder, die von Kindern gemobbt werden? Die Aufzählung ist lang und zeigt: Digitale Gewalt ist im Privaten angekommen und lässt sich zumindest auf zwei Ebenen verorten: Zum einen der im obigen Zitat benannten staatlichen Überwachung und Kontrolle des Netzes durch Regierungen, die in Gewalt gegen Gruppen und einzelne Bürgerinnen und Bürger münden kann. Zum anderen tangiert sie Gewalt auf der privaten, persönlichen Ebene, mit dem Ziel, die Integrität einzelner Subjekte anzugreifen. Letzteres bildet den Themenschwerpunkt dieses Heftes. Die zentrale Ausgangsfrage dabei ist, ob digital ‚nur‘ fortgesetzt wird, was in der physischen Welt ‚aus Fleisch und Stahl‘ seit langem traurige Realität ist, oder ob Gewalt-Phänomene eine neue Qualität über ihre Ausübung im digitalen Raum erreichen. Wie analog ist also digitale Gewalt? Ein Konsens aller Beiträge zeigt: Digitale Gewalt kann nicht getrennt von ‚analoger Gewalt‘ betrachtet werden. Angewendet wird sie meist in Ergänzung oder zur Verstärkung von bestehenden Gewaltverhältnissen und -dynamiken (siehe Vobbe in dieser Ausgabe, S. 29 ff.). Hinzu kommt, dass sich die digitale Medienwelt nicht mehr mit einem Appell, einem Verbot oder der Löschung von einzelnen Beiträgen eines Senders, einer Produzentin bzw. eines Produzenten ‚ins Reine bringen‘ lässt. Sie konstituiert sich durch unzählige Beiträge, Einträge und Interaktionen der Netzgemeinde. Ganz im Sinne Barlows, der diesen entstandenen Geist jedoch noch als sozialen Raum ganz ohne Tyrannei vorstellte. Doch neben organisierten Netzwerken sind es eben auch die einzelnen Individuen, die mit ihrem Hass, ihrer Hetze und Gewaltaufrufen (virtuelle) Räume miterschaffen, in denen Gewalt ‚zusammenschweißt‘ und ein Klima der Angst geschürt wird. Juristische Mittel reichen nicht, um grundlegend digitale Gewaltakte zu verhindern. Hier ist – neben anderen Disziplinen – die (Medien-)Pädagogik einmal mehr gefordert, Konzepte für die Vermittlung ethischer Fragen des (digitalen) sozialen und damit demokratischen Miteinanders zu entwickeln und umzusetzen. Für die Soziale Arbeit kristallisiert sich die Aufgabe heraus, stärker als bisher Konzepte und Maßnahmen zum Schutz für die Betroffenen solcher Gewaltakte in der Beratungs- und Hilfepraxis einzubinden. Aus diesen Überlegungen heraus ergaben sich für uns als Fachredaktion folgende, die Auswahl der Beiträge leitende Fragen:
- Welche Formen digitaler Gewalt lassen sich differenzieren?
- Was passiert, wenn sich Attacken gegen Einzelne im digitalen Raum richten? Besitzt die Gewalt eine neue Qualität, zum Beispiel durch die bleibende und ständige Präsenz der persönlichen Gewaltattacke?
- Finden die Betroffenen adäquate Hilfe? Gibt es genügend und vor allem spezielle Beratungsstellen und/oder Hilfeangebote, die Betroffene nutzen können? Welche fachlichen Kompetenzen sind für eine zielführende Prävention notwendig?
- Welche staatlichen und nicht-staatlichen Stellen sind für welche Fragen im Zusammenhang mit Formen digitaler Gewalt geeignete Partner? Und nicht zuletzt: Werden Betroffene in ihrer – vielleicht ‚nur digitalen‘ – Verletzung ernst (genug) genommen?
Handlungsbedarf
Die intensive Arbeit an diesem Themenheft zeigte deutlich: Viele Beratungsstellen und Praxiseinrichtungen sind immer stärker mit dieser Problematik konfrontiert, sie sind ebenso für die möglichen und realen Folgen für das Leben der Betroffenen sensibilisiert. Doch was fehlt, sind sowohl kurzfristige Hilfestellungen als auch langfristig greifende Konzepte des Schutzes und der Prävention. Es fehlt zudem ganz grundsätzlich an Forschungen und Studien zu digitalen Gewaltformen, zu deren Auswirkungen auf das reale Leben für verschiedene Menschengruppen, zu nachhaltigen Schutzmaßnahmen und eine Offenlegung rechtlicher Leerstellen. Eine Ausnahme stellt hier das Thema (Cyber-) Mobbing unter Jugendlichen dar, das im Vergleich dazu häufig im Forschungsfokus steht. Die Recherchen nach medien- und sozialpädagogischen Modellen und Konzepten, die sich mit Formen digitaler Aggression befassen, zeigt: Es finden sich zwar viele engagierte Projekte im lokalen Raum oder begrenzt auf ein bestimmtes Phänomen (z. B. Hate Speech oder Mobbing), jedoch fehlt es an übergreifenden Konzepten, die sich den Phänomenen digitaler Gewalt grundsätzlich annähern. Für die pädagogische Praxis relevant sind diese Phänomene allesamt zweifellos, jedoch besteht die Schwierigkeit, diesen inhaltlich komplexen, multiperspektivischen Themenkomplex angemessen zu bearbeiten. Zusammen mit einer förderpolitischen Ausgangslage, in der langfristig angelegte Projekte meist nur geringe Chancen auf Umsetzung haben, verwundert es daher nicht, dass diese Leerstellen bestehen. Doch auch in der Forschung stellt sich das Thema Digitale Gewalt als ein komplexes Geflecht aus fundierten Erkenntnissen zur Gewaltforschung und (noch) unbekannten Auswirkungen im digitalen Leben dar. Eine Folge der sich stets ändernden, teils undurchschaubaren technischen Möglichkeiten, die sowohl die Formen von Gewalt verändern als auch deren Präsenz. Trotz der Erfordernisse gestaltete sich das Auffinden von wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren für die vorliegende Ausgabe als sehr schwierig. Um die Brisanz des Themenfeldes aufzeigen zu können entschieden wir uns, Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Praxisfeldern und der Praxisforschung in Form von Interviews zu Wort kommen zu lassen, was unserer Ansicht nach der allgemeinen Lage in diesem Themenfeld gerecht wird: Derzeit existieren mehr Fragen und Bedarfe als Antworten und Lösungen.Perspektiven auf digitale Aggression
Im einführenden Artikel geben Nicola Döring und M. Rohangis Mohseni einen fundierten Überblick über Formen digitaler Aggression, deren Ursachen und den Herausforderungen bei der Prävention. Zunächst klären sie, was unter interpersonaler Gewalt und Aggression zu verstehen ist und welche Besonderheiten digitale interpersonale Gewalt aufweist. Sie differenzieren fünf Besonderheiten: Neben der Zeit- und Ortsunabhängigkeit und der Tatsache, dass sich interpersonale Gewalt im (teil-)öffentlichen Raum mittels Text-, Foto- und Videodokumenten realisiert, ist es vor allem die Möglichkeit, digitale Gewalt in unterschiedlichen Lebensbereichen der Betroffenen auszuüben und die Tatsache, dass digitale Spuren kaum endgültig gelöscht werden können. Immer wieder neue Begrifflichkeiten sind in diesem Themenfeld zu hören und zu lesen. Die Redaktion hat eine für dieses Heft relevante Auswahl in einem Glossar zusammengestellt. Ausgehend davon, dass Akte digitaler Aggression längst in die Sphäre zwischenmenschlicher Beziehungen eingedrungen sind, ist die Beratungspraxis vor neue Herausforderungen gestellt, insbesondere vor dem Hintergrund sich rasant entwickelnder technischer Anwendungen und Möglichkeiten. merz hat dazu drei Interviews geführt: Die Brisanz bei sexualisierter Gewalt mit digitalem Medieneinsatz sieht Frederic Vobbe in der Transzendierung der Gewalt. Digitale Medien fungieren als ‚Struktur-Verstärker‘, da die Verletzungen ursprüngliche Gewalthandlungen zeitlich, räumlich, technisch und psychosozial übersteigen. Er fordert eine kritisch-emanzipatorische Haltung in Schutz- und Präventionskonzepten ein, die nicht primär am individuellen Verhalten ansetzen. Dabei müssen verschiedene Gruppen an der Verankerung beteiligt werden. Er sieht vor allem die Anbieter digitaler Kommunikationsdienste in der Pflicht, denen es „unter dem Label von Freiheit“ hauptsächlich um ihre Profitorientierung geht. Gerade sie hätten die technischen Voraussetzungen für eine personalisierte Primärprävention und Aufklärung, für systematische Eindämmung von diskreditierenden Bild- und Videoaufnahmen und für eine Vernetzung der spezialisierten Unterstützungssysteme. Daneben brauche es weiterhin fundierte Präventionsarbeit mit Kindern und Jugendlichen, die „Einsichten in die Dynamiken von Gewaltkontexten“ eröffnet. Vobbe fordert eine kollektive Haltung gegenüber sexualisierter Gewalt, was nur über umfassende Konzepte erreicht werden kann, die partizipativ erarbeitet werden. Ans Hartmann vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) stellt im Interview fest, dass geschlechtsspezifische Gewalt zunehmend digitalisiert wird und durch das Voranschreiten der Digitalisierung des Alltags auch technische Anwendungen und Medien in die Gewalthandlungen und -dynamiken integriert werden. Hartmann sieht hierdurch folgende Herausforderungen für Beratende: Sie brauchen weiterhin Zeitressourcen für eine intensive psycho- soziale Beratung und müssen über aktuelles Wissen über Formen digitaler Aggression verfügen. Immer häufiger sind sie mit technischen Aspekten konfrontiert, gleichzeitig können sie aber keine IT-Beratung leisten. Dieses Manko ortet Hartmann aber auch bei Polizei und Justiz, um effiziente und rasche Unterstützungsleistungen zu bieten. Insgesamt fordert Hartmann mehr finanzielle und personelle (Ab-)Sicherung der Beratungsstellen, aber auch der Behörden, die durch die neuen Anforderungen zum großen Teil an ihre Grenzen stoßen. Jugendliche in ihrer Lebenswelt zu verstehen, sie zu sensiblen Themen zu erreichen und ihnen bei Problemen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen ist Ziel von JUUUPORT. Susanne Neuerburg erläutert, wie die Peer-to-Peer-Beratung der gemeinnützigen Organisation funktioniert und welchen Mehrwert dies bietet: Mit einer gleichberechtigten Beratung auf Augenhöhe begleiten jugendliche Scouts Kinder und Jugendliche und sorgen mit regelmäßigen Treffen zusammen mit psychologischer Beratung durch erwachsene Expertinnen und Experten für Erfahrungsaustausch. Während reale Gewaltattacken in interpersonellen Beziehungen häufig im Verborgenen bleiben, sind Formen digitaler Aggression teilweise mit Öffentlichkeit verbunden bzw. zielen gerade auf Wirksamkeit in der Öffentlichkeit ab. Marlis Prinzing erläutert anhand zahlreicher Beispielen und Belege, wie Personen, die in „der“ Öffentlichkeit stehen, von digitaler Aggression betroffen sind und welche Vorgehensweisen die Aggressoren verfolgen. Sie argumentiert aus einer ethischen Perspektive, welche Handlungsmöglichkeiten gestärkt werden müssen, wie zivilgesellschaftliche Akteure Einfluss nehmen können und macht eindringlich klar, wo Erfordernisse auf individueller aber vor allem auf gesellschaftlicher Ebene liegen. Abschließend wird ein besonderes Beratungsangebot, das Unterstützung bei digitaler Gewalt in seinen vielfältigen Formen bietet, vorgestellt. HateAid ist eine in Berlin ansässige Beratungsstelle, welche Menschen unterstützt, die im Netz mit digitaler Gewalt angegriffen werden. Ihre Besonderheit liegt in der Unterstützung bei der Rechtsdurchsetzung. Hier übernimmt HateAid in entsprechenden Fällen auch die Finanzierung von Zivilklagen.
Conclusio
Diesen Themenschwerpunkt zu konzipieren und umzusetzen war von Herausforderungen begleitet, die auch sinnbildlich dafür stehen können, wie digitale Gewalt verhandelt wird: Eine erste Herausforderung betrifft die Diskussion um Begriffe in diesem sensiblen Themenkomplex: Wie Döring und Mohseni ausführen, sind immer wieder neue Begrifflichkeiten im Umlauf, die aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich analoge Gewalt und solche mittels technischer Hilfsmittel immer stärker verzahnt. Zweitens sind abseits des Themas (Cyber-)Mobbing deutliche Lücken sowohl in der wissenschaftlichen Beschäftigung als auch in der konzeptionellen Arbeit der Prävention zu konstatieren. Übergreifend wird deutlich, dass es zwar auf der individuellen Ebene wichtig ist, vor allem Kinder und Jugendliche stark zu machen gegen die Zumutungen, die ihnen medienvermittelt begegnen. Daneben braucht es jedoch umso mehr eine breitere gesellschaftliche Diskussion zu den sozialen Welten, in denen Kinder und Jugendliche aufwachsen. So haben Kommunikations- und Medienanbieter letztlich fast freie Hand in der weiteren Verfügung über die Daten der Nutzenden und geben wenig Einblick in ihr Geschäftsgebaren mit dieser höchst wertvollen Währung. Ihre Kommunikationsdienste sind gleichzeitig für Kinder und Jugendliche äußerst attraktiv. Wenn es um die ethische Verantwortung für das Ausüben digitaler Formen von Aggression und die Folgen auf Seiten der Betroffen geht, bleiben die Anbieter aber zumeist außen vor und die Konzepte erschöpfen sich im individuellen Aushandeln und dem Schutz vor gewalthaltigen Handlungen online. Aus den Interviews wird eine dritte Herausforderung offenkundig: Die Netzwerkarbeit unter Betroffenen, Beratungsstellen und allen Einrichtungen, die mit Gewalt befasst sind, ist stärker zu forcieren. Nur durch Unterstützungsnetzwerke fühlen Betroffene, dass sie nicht alleine gelassen werden. In einem solidarischen Zusammenschluss können auch die Beratungsstellen zeigen, dass alle Formen von Gewalt zu ächten sind. So kann ein gesellschaftlicher Diskurs angestoßen werden, in dem gemeinschaftliche und partizipative Handlungsweisen zu einer solidarischen Weiterentwicklung von Gesellschaft beitragen und wieder etwas vom Ursprungsgeist des Internets zu spüren ist. Eine offene Frage bleibt, ob sich ‚die Gesellschaft‘ derzeit tatsächlich polarisiert und radikalisiert. Ist dies ein realer Trend, oder entsteht ein verzerrtes Bild der Gesellschaft durch die lautstarken und gewalttätigen Äußerungen Einzelner? Kommt vielleicht solidarisches, gemeinschaftliches Handeln ohne Lautstärke aus und vollzieht sich über andere Kanäle? Für eine Vision des globalen sozialen Raumes, in dem kreatives, gemeinschaftliches und partizipatives Handeln bestimmend ist, würde es sich lohnen, diesen Fragen aus Sicht von Forschung und Praxis nachzugehen.