Heinz-Jürgen Kliewer
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Heinz-Jürgen Kliewer: Hören-lesen-hören
Beckers Roman, 1969 im Aufbau Verlag in der DDR erschienen, aber schon 1965 als Filmdrehbuch fertig, ist ein Paradebeispiel für das gar nicht so seltene Phänomen: ein Autor findet seinen festen Platz im öffentlichen Bewusstsein mit einem einzigen Titel; seine späteren Bücher wird nur noch die Literaturgeschichte verzeichnen. Kaum ein anderes Werk der DDR-Literatur hat im Westen eine ähnliche Resonanz gefunden. Dazu mag auch der berühmte DEFA-Film von Frank Beyer (1974) beigetragen haben, aber entscheidender ist wohl das Thema, eine Ghettogeschichte aus der NS-Zeit und die Art, wie sie erzählt wird. Im Angesicht des Todes sind Humor und Selbstironie lebensnotwendig, die Lüge hält die Hoffnung aufrecht; für aufmerksame LeserInnen gehören sicher auch die Reflexionen über das Erzählen zu den Passagen, mit denen das menschenunwürdige Leben für sie in tragikomischer Weise erträglich wird. Becker war im Ghetto aufgewachsen und hatte als Kind in den KZs Ravensbrück und Sachsenhausen gelebt.
Von seinem Vater kannte er die Geschichte von einem Mann, der verbotenerweise im Ghetto ein Radio besaß. Erst die fiktionale Verdrehung der Realität, Jakob hat kein Radio, sondern gibt es nur vor, wird zur Grundlage des Buches.Sieht man die "Vertonung" analog zur Verfilmung als eigenständigen Text zu einem Text, dann dürfte von Intertextualität nur gesprochen werden, wenn der Text A, der Roman, zu einem Text B, dem Hörspiel verändert wird. Auch die Lesung eines Textes stellt eine Interpretation dar; allerdings bleibt der Text unangetastet (wenn er nicht gekürzt wird), allein die Stimme schränkt die Phantasie des Hörenden ein oder regt sie an. Ist das andere Medium die Stimme oder erst die CD, auf der sie festgehalten und reproduzierbar wird? Die Analyse und Beurteilung von Hörbüchern ist jedenfalls, soweit es sich um Lesungen handelt, ein sehr schwieriges Unterfangen, das für den Unterricht seinen eigenen Reiz hat. Das Problem, und das sei hier schon vorweggenommen, ist die Versprachlichung von Höreindrücken generell, also auch von Musik und Geräuschen, speziell aber von Stimmen. (vgl. Heinz-Jürgen Kliewer 2000) Außer dem Hörspiel von Wieghaus ließe sich die Lesung des Autors zum Vergleich heranziehen sowie eine Lesung von Christian Baumann u.a. (Cornelsen 2001).
Wer es noch multimedialer wünscht, findet neben dem alten Film eine Neuproduktion aus dem Jahre 1999 (auch auf DVD) mit Robin Williams in der Regie von Peter Kassovitz. Das Hörspiel "Jakob der Lügner" wurde 2002 für den Westdeutschen Rundfunk Köln produziert und auf WDR 5 gesendet; auf der Hörbuchbestenliste 3/2003 errang es den 1. Platz. Das 12-seitige Booklet enthält einen für Kinder geschriebenen Text des Autors Georg Wieghaus, in dem er knapp den Inhalt wiedergibt und die Situation in den Ghettos skizziert. Außerdem berichtet er über die Entstehung. Außer einer Zeittafel zum Ghetto Lódz (1939-1945), die in anschaulicher und leicht verständlicher Form die Situation der eingeschlossenen Juden vor Augen führt, findet sich darin u.a. das Verzeichnis der neunzehn SprecherInnen, aus denen Rudolf Wessely als Erzähler und Gerd Baltus als Jakob Heym herauszuheben sind. Die Musik von Henrik Albrecht spielen die fünf Musiker der Gruppe "Klezcetera". Da Kinder durch das Hören des ganzen Hörspiels mit seinen fast 70 Minuten überfordert wären, ist eine Gliederung in zehn Takes zwischen etwa drei und zehn Minuten sehr willkommen; auch für den Unterricht ist die Möglichkeit zum stückweisen Hören unerlässlich.
Eine ungekürzte Lesung würde etwa neun Stunden dauern; die Eingriffe in den Textcorpus müssen also erheblich sein.Der Roman ist nicht nur in eine andere Gattung und in ein anderes Medium transformiert worden, sondern - was viel tiefgreifender ist – er wurde für eine andere Zielgruppe adaptiert. Das Um-Schreiben von Erwachsenenliteratur für Kinder ist zwar durchaus üblich (vgl. ausführlich Ewers 2000, 199 ff.), aber beim Thema Holocaust eine Besonderheit. Auch bei "Jakob der Lügner" wird einerseits wieder die Frage der Zumutbarkeit diskutiert werden wie dereinst beim Bilderbuch "Rosa Weiß" (1986) von Roberto Innocenti (zum Holocaust im Bilderbuch vgl. Wyrobnik 2003) oder bei Gudrun Pausewangs "Reise im August" (1992), andererseits das Problem, wie unterhaltsam das Schreiben über den Holocaust sein darf (vgl. Ursula Kliewer 2002), welche Rolle die Komik dabei spielen darf. Das naive Kind im Buch, bei Becker die achtjährige Lina, oder das Kind in Benignis Film "Das Leben ist schön" (1997), die von den Erwachsenen über die ausweglose Realität hinweggetäuscht werden sollen, verlangen wissende LeserInnen bzw. ZuschauerInnen; nur sparsame Andeutungen dessen, was eigentlich passiert, müssen genügen, um die bedrängende Diskrepanz zwischen dem Humor an der Oberfläche und dem dargestellten Geschehen entstehen zu lassen, die drohende Vernichtung.Einsatz im UnterrichtIch habe für den Einsatz des Hörspiels ausführliche Unterrichtsvorschläge erarbeitet, die für diesen Artikel leider gekürzt werden mussten. Deshalb im Folgenden nur einige Hinweise auf Besonderheiten der Methode.
Ein paar allgemeine Empfehlungen vorweg:· Ein Roman kann nicht am Stück gelesen werden; die Verfilmung und auch die "Vertonung" sollte, wie es bei diesen Medien üblich ist, als Ganzheit aufgenommen werden. Ein häppchenweises Hören würde den emotionalen Gesamteindruck zerstören. Dass erneutes Hören einer erneuten Motivation der SchülerInnen bedarf, muss in Kauf genommen werden.· Bei der späteren Analyse ist dagegen ein geradezu mikroskopisches Vorgehen anzuraten: einzelne Takes sollten sogar mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen mehrere Male gehört werden. Noch besser ist es, wenn innerhalb des Takes vor- und zurückgesprungen werden kann, was einige Geräte ermöglichen.· Bestimmte Stellen sollten nicht wiederholt werden, um nicht Leid auszustellen, z.B. die Erschießung Herschels, die unmittelbar voraufgehende Stelle der Stimmen aus dem Eisenbahnwaggon oder die Szene als Mischa verhindert, dass Rosa ihren Eltern folgt, als sie abtransportiert werden.GattungsgesetzeJedes Lesen eines epischen Textes mit verteilten Rollen, wie es auch an Lesestücken häufig praktiziert wird, ist unter Gattungsgesichtspunkten ein Zwitter. Während im Roman nur eine Person spricht, nämlich der Erzähler, wird sie im dialogisierten Hörspiel zur Person unter anderen; im Drama gibt es keinen Erzähler! Diese Gattungsgesetze lassen sich SchülerInnen gerade an "vertonten" Büchern verdeutlichen, auch wenn es nicht ganz einfach ist.Kürzungen Kürzungen sind zwangsläufig. Was dabei auf der Strecke bleibt, sollte an ein paar Seiten bzw. Minuten geprüft werden: es ist nicht nur Prosatext, sondern der humorvolle, distanzierte Sprechton des Erzählers ist getilgt.
Andererseits ist der Erzähler aber nicht so neutral, wie er bei Wieghaus erscheint. Vielleicht können SchülerInnen erst nach einem eigenen Versuch, ein Kapitel der Vorlage zu kürzen, ermessen, wie diffizil das Umschreiben ist. ErgänzungenDiesen allerdings nur teilweise medienbedingten Auslassungen stehen Ergänzungen gegenüber. Selten werden Anreden eingefügt, um die Personen zu markieren, eine Wortwiederholung, wie sie beim erregten Sprechen üblich ist; aber dann gilt es schon, noch im Bereich der Sprache auf akustische Besonderheiten zu achten, die im geschriebenen Text nicht möglich sind bzw. umschrieben werden müssen. In Take 8 "Professor Kirschbaum" (Wieghaus 48) sind z.B. parallel das Sprechen Kirschbaums und das Schnaufen und Reinsprechen-wollen von Jakob zu hören.Musik und GeräuscheIn sehr gezielter Weise eingesetzt sind Musik und Geräusche; man hat den Eindruck, es gibt keine einzige Stelle ohne sie. Im Unterschied zu vielen Hörspielen, die nach Büchern produziert werden (und die man streng genommen nicht Hörspiele nennen sollte), sind sie nicht nur Pausenfüller oder stereotype Klangfolie, sondern folgen sehr überlegt dem Text. Ein Beispiel: Take 7 "Ein Radiokonzert", eine ideale Vorlage für ein Hörspiel, Jakob stößt gegen einen Blecheimer, das Geräusch wird mit dem Nachhall von gezupften Klaviersaiten fortgesetzt, Schnarrgeräusche werden zwischengemixt. Rolle der Rezipienten
Mit Jugendlichen kann auch die Distanz zwischen eigenem Leseanspruch und dem von Kindern reflektiert werden: Wieghaus vereinfacht die Sprache ("auf dem Territorium" Becker 8 wird zu "auf diesem Gebiet" Take 1), reduziert das Personal. Jugendliche, zwischen Kindheit und Erwachsensein stehend, werden an sich beobachten müssen, ob sie den schwarzen Humor erfassen, der den Roman durchzieht und der Kindern nicht zugemutet wird. Das ist freilich nicht nur eine Frage der Rezeptionskompetenz, sondern auch des Wissens, das sie über die Situation im Ghetto haben und das allein mit dem Nachwort im Bilderbuch bzw. mit leicht abgewandelten Schluss im Booklet (Rechtsfragen mit dem Suhrkamp-Verlag) nicht ausreichend bereitgestellt wird.
Literatu:r
Jurek Becker: Jakob der Lügner.- Frankfurt: Suhrkamp 1982 (=Bibliothek Suhrkamp 510)Jakob der Lügner. Nach dem Roman von Jurek Becker, illustriert von Lukas Ruegenberg, Textfassung von Georg Wieghaus.- Kevelaer: Butzon&Bercker 2002
Jakob der Lügner. Nach dem Roman von Jurek Becker. Hörspiel von Georg Wieghaus. Köln: WDR 5, 2002. Vertrieb: Headroom Sound Production
Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung.- München: Fink 2000Kliewer, Heinz-Jürgen: HörenSagen - Sagen hören. Zur Analyse von Kinderhörspielen. In: Karin Richter und Sabine Riemann (Hrsg.): Kinder-Literatur-"neue" Medien.- Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2000, (=Diskussionsforum Deutsch 1) S. 143-152
Kliewer, Ursula: Wie unterhaltsam darf oder muß Jugendliteratur zum Thema Holocaust sein? Fundevogel Heft 144 (2002) 51 - 64Wyrobnik, Irit: Der Holocaust im Bilderbuch.- Fundevogelo Heft 146 (2003) 5 – 19
Heinz-Jürgen Kliewer: Literatur hören
"Zur Medienpädagogik ist doch alles schon gesagt, oder?" Mit dieser provokanten Frage eröffnet Gudrun Stenzel soeben das 11. Beiheft der "Beiträge Jugendliteratur und Medien" mit dem Thema "Vom Papiertheater zum Computer. Alte und neue Medien in Theorie und Praxis". Vor allem zu den Hörmedien ist offenbar schon alles gesagt, denn sie kommen im Reigen der Aufsätze nur an einer versteckten Stelle vor (Braunagel 2000: 92-96). Haben es CD-ROM, Internet & Co tatsächlich nötiger, ins Bewusstsein der LehrerInnen gehoben zu werden als das Medium menschliche Stimme, das uralte Pärchen Erzählen und Zuhören?
Welche Folge hat die litaneihafte Wiederholung der Forderung: Medienbildung muss integraler Bestandteil der wissenschaftlichen, pädagogischen und didaktischen Ausbildung werden? Sie wird es aber nicht, wo Lehrpläne nebulos und unverbindlich bleiben, wo sporadische Lehrangebote nur sporadisch wahrgenommen werden. Und die Zukunft verheißt nichts Gutes; die lautstarken Aufrufe "Schulen ans Netz" werden dafür sorgen, dass die alten Medien noch stärker ins Abseits geraten! Warum sollte man nur einen "Internet-Führerschein" brauchen und keinen für den Film und das Hörspiel, für das Fernsehen und das Radio?...
(merz 2002/03, S. 164 - 168 )