Dr. Karin Knop
- Redaktion
Vita
1994 bis 2002 Studium der Kommunikationspsychologie & Medienpädagogik an der Universität Landau. 2002 bis 2007 Studium der Medien- und Kulturwissenschaft an der Universität Lüneburg.
Ich bin Redakteurin bei merz seit 2011.
Aktivitäten
freie Medienpädagogin und -forscherin
bis 6/21 – Geschäftsführende Beauftragte am Zentrum für Lehrerbildung der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau).
Schwerpunkte
Aktuell beschäftigt mich besonders die Always-on-Kultur von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die sich in mobiler, potentiell permanenter Online-Vernetzung zeigt. Die damit einhergehenden Potentiale und Risiken stellen neue Anregungen und Herausforderungen für die medienpädagogische Praxis dar.
Beiträge in merz
Karin Knop: Hass und Hetze im Internet geht alle an – No Hate Speech!
In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft sind Phänomene wie Hate Speech (Hassrede) und andere anti-demokratische, menschenverachtende Kommunikationsformen Ausdruck einer sich wandelnden Kommunikationskultur. Bei Hate Speech handelt es sich um eine Form (digitaler) gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (vgl. Puneßen 2017). Diese trifft unter anderem Personen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung. Es sind Personen und Gruppen, die auch außerhalb des Netzes ausgegrenzt und angefeindet werden (vgl. Felling/Fritsche 2017). Online-Hassrede setzt daher letztlich analoge Macht- und Diskriminierungsstrukturen fort (vgl. Buchzik/Rauscher 2017).
Es können aber auch Menschen zur Zielschreibe von massiver Verachtung und Abwertung in Form von Hate Speech werden, die zwar selbst nicht den angefeindeten Gruppen angehören, sich aber für die Rechte dieser Gruppen und gegen Menschenfeindlichkeit einsetzen (vgl. Felling/Fritsche 2017; Buchzik/Rauscher 2017). Hate Speech ist jedoch kein feststehender juristischer Begriff. Innerhalb des Rechtssystems wird lediglich zwischen zulässigen und unzulässigen Meinungsäußerungen unterschieden. (vgl. Puneßen 2017). Unzulässige Meinungsäußerungen, unter die hasserfüllte Kommentare in digitalen Kommunikationsräumen wie Social Network Sites und Blogs fallen, können den Straftatbestand der Volksverhetzung, der Beleidigung, der üblen Nachrede, der Verleumdung, der Nötigung, der Bedrohung oder der Aufforderung zu Straftaten erfüllen und sind dann entsprechend strafrechtlich durch Strafanzeige und zivilrechtlich – z. B. durch Löschungsanspruch, Änderungsanspruch, Abmahnung oder Unterlassungserklärung, Geldentschädigung bzw. Schmerzensgeld – zu ahnden (vgl. Brings-Wiesen 2017). Aktuell wurde außerdem am 5. April 2017 hierzu ein Gesetzentwurf der Bundesregierung beschlossen, der eine Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken zum Inhalt hat (vgl. Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 2017) und die schnellere Entfernung und Sanktionierung von Hassreden und Fake News gewähren soll.
Zunahme extremer Inhalte im Netz
Wollen wir aber sowohl die Redefreiheit und gleichzeitig die Würde Andersdenkender sichern, so muss darüber hinaus ein gesellschaftlicher Konsens über die Inakzeptanz von Hate Speech hergestellt werden. Die Verantwortung hierfür kann keinesfalls ausschließlich im Rechtssystem liegen. Vielmehr ist eine Verständigung über akzeptable bzw. inakzeptable Netzkommunikation mit allen Gesellschaftsmitgliedern herzustellen, die wiederum diese Prinzipien dann in der Netzwelt realisieren und für deren Umsetzung eintreten. Deshalb ist das Thema Hate Speech für alle Mitglieder der Zivilgesellschaft aller Altersgruppen relevant. Dabei ist einerseits der restriktiv-bewahrende Kinder- und Jugendschutz, aber insbesondere auch die generationenübergreifende präventiv-befähigende Medienpädagogik herausgefordert (vgl. Hajok 2017). Da es eine Utopie ist, dass das Netz frei von extremen und extremistischen Positionen sein kann, sollten alle Gesellschaftsmitglieder für einen kompetenten Umgang mit solchen Positionen befähigt werden. Denn auch wenn es keine verlässlichen Zahlen gibt, so scheint abgesichert, dass seit 2015 – mit der abrupt gestiegen Zahl von geflüchteten Menschen – der Hass im Netz nochmals stark zugenommen hat (vgl. ebd.). Ob nun aufgrund erhöhter Sensibilität und erhöhter Beschwerdebereitschaft oder wegen eines tatsächlichen Anstiegs solcher Inhalte, bleibt zu klären. Sicher ist jedoch, dass sich die Zahl der Beschwerden wegen volksverhetzender Inhalte von 2014 auf 2015 nahezu verdreifacht hat. Beim Melden rechtsradikaler Webinhalte kam es innerhalb dieses Zeitraums sogar zu einer Verachtfachung (vgl. Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter 2015).
Gründe für (die Intensivierung von) Hate Speech
Wie kommt es aber überhaupt dazu, dass Menschen diese grenzüberschreitende, verächtliche Kommunikationsform wählen? Hierzu existiert ein Bündel von Gründen für die aktive Erstellung und Verbreitung extremistischer Botschaften und Hasskommentare. Nach Schmitt (2017) lassen sich auf der Individual- bzw. Mikroebene mindestens vier psychologische Motive ausmachen. Nämlich erstens die Ausgrenzung und Abwertung einer Fremdgruppe – die, oft irrational, als Bedrohung wahrgenommen wird – mit dem Ziel der Stärkung einer eigenen positiven Gruppenidentität, zweitens die Einschüchterung der Fremdgruppe, drittens die Machtdemonstration bzw. das Erlangen der Deutungshoheit im gesellschaftlichen Diskurs und schließlich viertens die Freude am Beleidigen und Erniedrigen anderer. Die signifikante Zunahme solcher Inhalte wird wiederum auf Makroebene unter anderem den Anonymisierungsmöglichkeiten im Netz, den (digitalen) Beachtungsexzessen und den damit einhergehenden Extremisierungstendenzen sowie Beschleunigungsprozessen (vgl. Hajok 2017) heutiger Kommunikationskultur zugeschrieben oder auf Ängste und Unsicherheiten der Subjekte zurückgeführt, die aus Wachstums- und Globalisierungstendenzen resultieren (vgl. Krotz 2017 in dieser Ausgabe).
Hate Speech im Netz geht alle an
Dass diese anwachsende Menge hasserfüllter Worte und Bilder auch tatsächlich von vielen wahrgenommen wird, verdeutlichen aktuelle Befunde eindrucksvoll. Gemäß einer länderübergreifenden Befragung des Europarats im Rahmen der No Hate Speech-Kampagne im April 2015 zeigte sich, dass 83 Prozent der 6.601 befragten Heranwachsenden im Internet auf Hassreden gestoßen sind (vgl. Council of Europe 2015). Und auch die 2016 im Auftrag der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen durchgeführte Online-Befragung in Deutschland macht deutlich, dass 82 Prozent der 2.044 befragten 14- bis 24-Jährigen schon Erfahrungen mit Hate Speech im Netz gemacht haben. Mehr als die Hälfte (54 %) dieser Gruppe war schon häufig bzw. sehr häufig durch Kontakt betroffen (vgl. forsa 2016). Sowohl der quantitative Anstieg von extremen Inhalten als auch deren nachweisliche Diffusion innerhalb der Netzgemeinschaft sprechen für die immense Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem Themen- respektive Problembereich.
Interventionsmöglichkeiten
Felling und Fritsche (2017) benennen als konstruktive Formen der Auseinandersetzung unter anderem die Förderung von Medien- und Sozialkompetenz und den Aufbau von Hilfestrukturen sowie die Herstellung einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive zur wertschätzenden Debattenkultur als Möglichkeiten des pädagogischen Umgangs mit Hate Speech. Vielfältige Initiativen setzen sich bereits seit geraumer Zeit mit Hate Speech und anderen diskriminierenden Formen auseinander und stellen genau solche Angebote bereit. Exemplarisch sollen hier ausgewählte Initiativen kurz vorgestellt werden (vgl. z. B. Kaspar/Gräßer/Riffi 2017; Felling/Fritsche 2017): Aufklärend und Sensibilisierend arbeitet seit 1998 die Amadeu Antonio Stiftung im Bereich Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Das JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis setzt sich ebenfalls seit mehreren Jahrzehnten mit Wertevermittlung durch und in Medien auseinander, und bietet dabei beispielsweise seit 2015 Werkstätten zur Förderung von Werte- und Medienkompetenz im Rahmen von ICH WIR IHR im Netz an. Jugendschutz.net – seit 1997 mit unzulässigen Netzinhalten befasst – hält mit hass-im-netz.info ebenfalls ein aktuelles Angebot bereit. Im Juni 2016 startete in Deutschland die europaweite Kampagne no-hate-speech.de,
innerhalb derer relevantes Wissen zum Themenbereich und humoristische Memes zur Gegenrede auf der Website bereitgestellt werden. Beinahe zeitgleich wurde die Initiative Netzkodex (vgl. Schmid/Appelhoff 2017) von der Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen ins Leben gerufen. Verantwortliche von Unternehmen, Staat und Zivilgesellschaft erarbeiten klare Informationen zur jeweiligen Verantwortung der Social Media-Anbieter, Plattformbetreiber, Strafverfolgungsbehörden, Landesmedienanstalten, Internetbeschwerdestellen und auch der Nutzerinnen und Nutzer.
Ziel dieses Themenschwerpunkts ist die Vermittlung von grundlegendem Wissen zu verschiedenen Dimensionen des Phänomens. Es geht hierbei sowohl darum, empirisch fundierte Befunde zu Erscheinungsweisen von extremistischen Inhalten zu vermitteln, sozialwissenschaftlich-empirische Ergebnisse zu Rezeption und Wirkung bereitzustellen und gleichzeitig eine gesellschaftskritische Reflexion anzuregen sowie konkrete medienpädagogische Handreichungen anzubieten.
Zu diesem Heft
Christiane Yavuz (jugendschutz.net) gibt einen Überblick zu den menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Botschaften von Rechtsextremen und Islamistinnen und Islamisten im Internet. Sie zeigt auf, welch subtile Kommunikationsstrategien von hassverbreitenden Akteurinnen und Akteuren verwendet werden, und wie raffiniert diese gerade in der Ansprache von Jugendlichen vorgehen.
Eine gesellschaftskritische Einordnung des Themenbereichs leistet Friedrich Krotz, der auf die kommunikativen Freiheiten des Netzes abhebt und die Schattenseiten dieser Freiheiten – wie Hate Speech – als Form antidemokratischer, symbolisch vermittelter Gewalt deklariert. Auf Spurensuche gehend, wird die zunehmende Radikalisierung vor dem Hintergrund von Wachstums- und Globalisierungstendenzen eingeordnet. Krotz appelliert an die Mitglieder der Zivilgesellschaft, den digitalen Kommunikationsraum zurückzuerobern und sich aktiv gegen Hass und Hetze einzusetzen.
Diana Rieger und Kolleginnen und Kollegen zeigen auf Basis empirischer Forschungsprojekte zu Inhalten und Wirkungen auf, welche Gemeinsamkeiten islamistische und rechtsextreme Propaganda im Netz aufweisen. Ihre quasi-experimentellen Studien verdeutlichen, dass Ablehnung oder Befürwortung extremistischer Propaganda insbesondere vom Bildungsgrad und der Einstellung zu Autoritarismus abhängen. Neben der damit einhergehenden Identifizierung besonders gefährdeter Heranwachsender zeigt das Forscherteam aber auch das Spektrum und die Ziele von Gegenbotschaften auf, und gibt Einblicke in das Präventionsprogramm CONTRA und dessen medienpädagogische Bedeutung.
Erste Befunde aus einem aktuellen Projekt im Auftrag der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen werden im Interview von Karin Knop mit den beiden Forschenden Carsten Reinemann und Claudia Riesmeyer vorgestellt. Basierend auf einer Repräsentativbefragung im Herbst 2016 wird deutlich, dass ein nicht unerheblicher Anteil der Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren unweigerlich im Netz und außerhalb mit extremistischen Botschaften konfrontiert wird. Das Forscherteam geht der Frage nach, ob Jugendliche solche Botschaften auch eindeutig identifizieren können und über eine extremismusbezogene Medienkompetenz verfügen, die bei der Identifizierung der oft verschleierten Strategien der Extremistinnen und Extremisten von enormer Bedeutung ist.Ganz konkrete, medienpädagogische Praxisanregungen stellen Simone Rafael und Christina Dinar (Amadeu Antonio Stiftung) vor dem Hintergrund ihrer jahrelangen Arbeit mit Jugendlichen vor. Sie zeigen auf, welche Interventionsmöglichkeiten in pädagogischen Handlungskontexten angewendet werden können und welches Potenzial in der Befähigung zur Entlarvung von extremistischen Botschaften, aber insbesondere auch in der Befähigung zur Gegenrede besteht, um eine aktive und demokratische Zivilgesellschaft zu stärken und damit Partizipation zu fördern.
Die Datteltäter, muslimische Satirikerinnen und Satiriker mit YouTube-Kanal und Präsenz bei funk (Content-Netzwerk von ARD und ZDF), setzen sich parodistisch mit Stereotypen auseinander und erklären den ‚Bildungsdschihad‘. Swenja Wütscher klärt im Interview mit Fiete Aleksander, welche Ziele die Datteltäter mit ihrem Komikangebot verfolgen und welche positiven und negativen Resonanzen sie durch das satirische Angebot erfahren. Anhand prominenter Beispiele – wie die Hassreden gegen Sportjournalistin Claudia Naumann oder DIE GRÜNEN-Politikerin Renate Künast – geht Caja Thimm auf zwei zentrale Dynamiken von digitalen Shitstorms ein, die anhand ihrer zeitlichen Dimension und ihres Verbreitungsmodus analysiert werden. Auch geeignete Reaktionsoptionen der Opfer von hasserfüllter Kommunikation werden anschaulich beschrieben.
Literatur:
Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz, Landesstelle NRW e. V.; Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (2016). Hate Speech. Hass im Netz. Köln und Düsseldorf. www.akjs-sh.de/wp-content/uploads/2016/11/HateSpeech-Brosch%C3%BCre_AKJS.pdf [Zugriff: 10.05.2017].
Brings-Wiesen, Tobias (2017). Das Phänomen der „Online Hate Speech“ aus juristischer Perspektive. In: Kaspar, Kai/Gräßer, Lars/Riffi, Aycha (Hrsg.), Online Hate Speech. Perspektiven auf eine neue Form des Hasses. München: kopaed, S. 35–50.
Buchzik, Dana/Rauscher, Sami (2017). Kontern statt schweigen. In: Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis (KJug), 1 (62), S. 14–15.
Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (2017). Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) am 05. April 2017. www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RegE_NetzDG.pdf [Zugriff: 10.05.2017].
Council of Europe (2015). No Hate Survey Results. Youth Department of the Council of Europe – European Youth Centre. www.nohatespeechmovement.org/survey-result [Zugriff: 10.05.2017].
Felling, Matthias/Fritzsche, Nora (2017). Hass im Netz – Hate Speech als Herausforderung für die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen. In: Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis (KJug), 1 (62), S. 7–10.
forsa (2016). Ethik im Netz. Hate Speech. Ergebnisse einer von der LfM im Auftrag gegebenen Online-Befragung deutschsprachiger privater Internetnutzer ab 14 Jahren in Deutschland. Berlin. www.lfm-nrw.de/fileadmin/user_upload/lfm-nrw/Service/Veranstaltungen_und_Preise/Medienversammlung/2016/EthikimNetz_Hate_Speech-PP.pdf [Zugriff: 10.05.2017].
Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (2015). Jahresbericht 2015. Online-Jugendschutz und Medienbildung von Kindern & Erwachsenen. Berlin. www.fsm.de/sites/default/files/fsm_jahresbericht_2015_online.pdf [Zugriff: 10.05.2017].
Hajok, Daniel (2017). Hate Speech. Hass und Hetze im Netz als Thema des Kinder- und Jugendmedienschutzes. In: Jugend Medien Schutz-Report (JMS), 1 (40), S. 2–6.
Jugendschutz.net (2015). Rechtsextremismus online beobachten und nachhaltig bekämpfen. Bericht über Recherchen und Maßnahmen im Jahr 2014. Mainz. www.spw.de/data/jugendschutz.net_rex_online_bericht2014.pdf [Zugriff: 10.05.2017].
Kaspar, Kai/Gräßer, Lars/Riffi, Aycha (2017). Kampagnen und Aktivitäten gegen Online Hate Speech. In: Kaspar, Kai/Gräßer, Lars/Riffi, Aycha (Hrsg.), Online Hate Speech. Perspektiven auf eine neue Form des Hasses. München: kopaed, S. 171–180.
Puneßen, Anja (2017). Hate Speech / Rechtsfragen. In: Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis (KJug), 1 (62), S. 16–17.
Schmid, Tobias/Appelhoff, Mechthild (2017). Die Initiative „Netzkodex“. In: Kaspar, Kai/Gräßer, Lars/Riffi, Aycha (Hrsg.), Online Hate Speech. Perspektiven auf eine neue Form des Hasses. München: kopaed, S. 157–162.
Schmitt, Josephine B. (2017). Online Hate Speech: Definition und Verbreitungsmotivationen aus psychologischer Perspektive. In: Kaspar, Kai/Gräßer, Lars/Riffi, Aycha (Hrsg.), Online Hate Speech. Perspektiven auf eine neue Form des Hasses. München: kopaed, S. 51–56.
Karin Knop: Jugendperspektive: Wahrnehmung von Extremismus
Medien bestimmen maßgeblich, wie politische Prozesse wahrgenommen werden. Sie haben großen Einfluss auf Meinungsbildung. Insbesondere in sozialen Onlinemedien ist der Ton rauer geworden, Hass und Hetze sowie extremistische Meinungsäußerungen haben zugenommen. Wie gehen Jugendliche mit diesen Inhalten in sozialen Medien um, wie bewerten sie diese, wie tauschen sie sich darüber aus und welche möglichen Verhaltensweisen resultieren hieraus?
Karin Knop, Akademische Rätin am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Mannheim, im Gespräch mit Carsten Reinemann und Claudia Riesmeyer. Beide arbeiten am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Karin Knop: "Mama Muh kenn‘ ich aus‘n iPad" – Wie Kinder heute fernsehen
Fernsehen hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Karin Knop im Gespräch mit Nadine Kloos, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei FLIMMO, über unterschiedliche Fernsehformate wie Scripted Reality, Entwicklungen im Kinderfernsehen sowie Herausforderungen, die aus neuen Formaten und Zugangswegen für Eltern erwachsen.
Karin Knop: Neues Fernsehen?! – Neues Fernsehverhalten!? Aktuelle Wandlungsprozesse des Fernsehens
Der Diskurs um die aktuellen Entwicklungen des Fernsehens ist heterogen und bipolar. Einige läuten das ‚Ende des (linearen) Fernsehens‘ ein – wie jüngst etwa Netflix-Chef Reed Hastings (vgl. Spiegel Online 2015). Andere Akteure (u. a. Groebel 2014) rufen das ‚neue Fernsehen‘ aus und ein dritter Diskursstrang ist dadurch gekennzeichnet, dass hierin eine moderate Transferleistung alter Fernsehphänomene auf neue digitale Umgebungen behauptet wird. Herbert Schwaab (2012) plädiert dafür, die genuinen Leistungen des linearen, traditionellen Fernsehens und Phänomene wie beispielsweise das Flow-Erleben und Zappen systematisch den neuen Rezeptionsmodi des Onlinefernsehens analysierend gegenüberzustellen und geht von fundamentalen Unterschieden aus. Er konstatiert einen „Exzess der Anpassung an eigene Wünsche […]. Der neue Betrachter will alles zu jeder Zeit“ (Schwaab 2012, S. 117). Karin van Es und Eggo Müller (2012) attestieren dem Fernsehen eine hohe Fähigkeit, sich an die neuen technologischen und kulturellen Bedingungen anzupassen. Bleicher (2012) hingegen geht von Übertragungsbemühungen alter Phänomene auf neue Formen der Bewegtbildkommunikation aus und stellt fest: „Der Begriff Fernsehen wird also auf etwas übertragen, das überhaupt kein Fernsehen im traditionellen Sinn ist“ (S. 110). Erweitert man den Fokus auf die vordigitale Fernsehära, so ist festzustellen, dass das Fernsehen bereits in den 1980er-Jahren auf die Flexibilisierung der Zeitstrukturen und den Trend zur Individualisierung reagiert hat. „Eine nor mativ (öffentlich-rechtliches Fernsehen) bzw. ökonomisch (privates Fernsehen) gewünschte Maximierung der Zuschauerzahlen wurde über drei Strategien erreicht“ (Jandura 2014, S. 182).
Zunächst durch die Erweiterung der Programmvielfalt durch zusätzliche Fernsehkanäle, in einem zweiten Schritt über die Erweiterung des Programmangebots auf 24 Stunden Sendevolumen pro Tag und drittens und neueren Datums durch die Anpassung der Programmstrukturen an die flexibleren zeitlichen Tagesabläufe, durch das zeitversetzte Fernsehen. Im digitalen Zeitalter gestaltet sich nun der Wandel des Fernsehens dynamischer denn je und es kommt zu folgenreichen Ausdifferenzierungen und Konvergenzen. Es ist ein Wandel, der die „technischen, kulturellen, medialen und institutionellen Voraussetzungen dessen, was als Fernsehen bezeichnet wird, grundlegend umzuwälzen scheint“ (Köhler/Keilbach 2012, S. 5). Zeitversetztes Fernsehen aus dem linearen Programm sowie zeit- und ortsunabhängiger Abruf von vornherein non-linearen audiovisuellen Angeboten kennzeichnen die neuere Fernsehlandschaft (vgl. Groebel 2014). Die Nutzungswege sind vielfältiger und die Endgeräte kleiner und mobiler geworden (vgl. Stark 2006), das Programmangebot ist ausdifferenzierter denn je. Vielfältige Labels wie TV 2.0, MeTV und Social TV kursieren.
Fragen danach, ob das traditionelle Fernsehen und seine Großereignisse wie die Fußball-Weltmeisterschaft noch die gleichen, gemeinschaftsstiftenden Qualitäten hat wie das ‚alte‘ Fernsehen oder ob es nur noch das narzistische MeTV gibt, prägen die Auseinandersetzung innerhalb der Scientific Community. Frei nach dem Motto „My time is prime time“ (de Buhr/Tweraser 2010, S. 81) findet die zeitunabhängige, individualisierte Nutzung statt. Sind es nunmehr gänzlich neue Gemeinschaftsformen, die sich durch das Zusammenfinden von Gruppen mit ähnlichen Profilen und Vorlieben in sozialen Online-Netzwerken konstituieren und damit eine (enge) Bindung zu beliebten Formaten und Angeboten aufbauen? Kann durch die Integration der Kommunikationspotenziale sozialer Medien die verlorene Sozialität des Fernsehens zurückgewonnen werden? Wie haben sich Partizipationsformen verändert? Welche spezifische Qualität hat das „viewsing“ (Harries 2002, S. 172), worunter Formen der Interaktion und Partizipation verstanden werden, die durch die Konvergenz von Fernsehen und digitalen Medienentstehen? Handelt es sich dabei tatsächlich um neue Partizipationsformen oder doch letztlich in Form des Social TV um einen senderseitigen Versuch, die Fernsehzuschauenden auf die linearen Zeitstrukturen zu binden? Sind es bedeutsame Veränderungen, wenn man statt zu bügeln während des linearen Fernsehens nunmehr bei der Rezeption non-linearen Online-TVs parallel eine Amazon- Bestellung vornimmt und Phänomene des Multi-Screenings zur Aufmerksamkeitssplittung beitragen, während es vormals Parallelgespräche oder parallele Alltagshandlungen waren, die die ungeteilte Aufmerksamkeit vom Fernsehbildschirm abgezogen haben? Werden neue Formen der Medienkompetenz gebraucht? Benötigen Rezipierende andere Formen der Selbstregulationsfähigkeit in Zeiten, in denen die Nutzung des gerade favorisierten TV-Angebots in Form des Binge Watching theoretisch möglich ist? Benötigen wir neue Konzepte der Medienkunde, innerhalb derer legale und illegale Streamingformen thematisiert werden und ein Bewusstsein für geistiges Eigentum und die Herstellung kultureller Güter ausgebildet wird? Braucht es spezifischere Decodierungsfähigkeiten, wenn durch Genrehybridisierung der dokumentarische Charakter und Realitäts- bzw. Inszenierungsgrad von Fernsehinhalten wie Scripted Reality nicht mehr zweifelsfrei bestimmt werden kann? Fragen, auf die es auf Basis des derzeitigen Forschungsstands noch keine verbindlichen und eindeutigen Antworten geben kann. Ob es nun um Novitäten, partielle Innovationen oder Adaptionen bekannter Phänomene des linearen Fernsehens handelt, fraglos ist jedenfalls, dass sich für die Rezeptionsforschung und den Bereich der Medienkompetenzentwicklung und -förderung gänzlich veränderte Herausforderungen durch den Wandel des Fernsehens ergeben, denen es zu begegnen gilt.
Die vorliegende Ausgabe von merz bietet die Möglichkeit zur Reflexion darüber, welche Implikationen sich für die medienpädagogische Begleitung der Fernsehnutzung von Kindern und Jugendlichen ergeben. Jo Groebel befasst sich mit den aktuellen Entwicklungen des Fernsehens und gibt Prognosen zu künftigen Veränderungen ab. Das in digitale Umgebungen eingebundene Fernsehen befindet sich in einer flexiblen Wechselbeziehung zwischen traditionellen Inhalten und neuen Anwendungen sowie Kommunikationsplattformen. Wie auch beim lineare Fernsehen werden die Präferenzen der Nutzenden von physiologischen, emotionalen, kognitiven und sozialen Prozessen gesteuert. Der Autor geht der Frage nach, wie sich die Ausdifferenzierungen auf Inhaltsseite und Zugangswegen auf das spezifische und ebenfalls stark differierende Seh- respektive Nutzungsverhalten auswirkt und stellt – basierend auf einer Befragung von 1.000 Zuschauenden– eine neue Fernsehtypologie auf. Die Medienwissenschaftler Sven Stollfuß und Felix Kirschbacher nehmen im Diskurs um aktuelle Fernsehentwicklungen eine historisierende Perspektive ein und fokussieren sich auf die jüngsten Entwicklungen der (TV-)Serie. Ausgehend von einer Betrachtung der US-amerikanischen Senderlandschaft seit den 1980er-Jahren zeichnen sie die Umstrukturierungsprozesse nach, die folgenreich für die Novitäten im Bereich der fiktionalen Fernsehserien waren und schließlich in einem Serienmarkt münden konnten, bei dem es genuin für die Online-Ausstrahlung produzierte Serien gibt. Welche textuellen und ästhetischen Strukturveränderungen damit einhergehen und welche novellierten Nutzungsweisen – beispielsweise das Flexible Binge Watching – resultieren, wird von den Autoren herausgearbeitet. Einer dominanten und inhaltlich folgenreichen Novität des klassischen respektive linearen Fernsehens widmet sich die Genderforscherin MargrethLünenborg, indem sie das seit den 1990er-Jahren aufkommende Hybridgenre RealityTV als kostengünstiges, international gehandeltes Fernsehangebot beschreibt, dass einen dominanten Beitrag zur sich stetig ausdifferenzierenden und kommerzialisierten Sendelandschaft darstellt.
Die Autorin liefert Gründe für die Attraktivität dieses problematischen Genres gerade für ein junges Publikum und stellt das Potenzial der Sendungen innerhalb der Aushandlungsprozesse von Verhaltensweisen und eigenen Handlungsoptionen und der beständigen Neuverhandlung gesellschaftlicher Normen und Werte heraus. Die Perspektive des Jugendmedienschutzes bringt Claudia Mikat, Vorsitzende des Prüfausschusses der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen ( FSF), ein. Im Gespräch mit Swenja Wütscher hebt sie auf die Notwendigkeit der Kooperationzwischen FSF und Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia (FSM) ab und hebt hervor, dass die Prüfung von Fernsehangeboten nicht mehr auf den Bereich des linearen Fernsehens beschränkt bleiben kann. Sie macht sehr deutlich, dass die Arbeit der FSF ausschließlich auf die Analyse und Bewertung von Inhalten beschränkt ist. Die Berücksichtigung von Wandlungstendenzen innerhalb der Zuschauerschaft – wie Phänomene des Binge Watching im Bereich fiktionaler Serien oder die je unterschiedlich stark ausgeprägte Kompetenz des Publikums bei der Einschätzung des Inszenierungsgrades beispielsweise von Scripted Reality-Formaten – bleiben aus Perspektive der FSF beinahe ausgeklammert.
Die Medienwissenschaftlerin Claudia Wegener wendet sich den Formen und Modi des Second-Screenings – der gleichzeitigen Nutzung unterschiedlicher Bildschirmmedien – zu und entwirft eine Systematik der unterschiedlichen Formen bis hin zum Multi-Screening. Sie empfiehlt Programmanbietern – als Ausweg aus dem Aufmerksamkeitsdilemma – den Second-Screen als Bestandteil des Sendekonzeptes zu verstehen und konzeptionell einzubinden, damit sich Nutzende auch weiterhin mit dem Programm auseinandersetzen und mit Inhalten interagieren, die das Fernsehprogramm ergänzen. Basierend auf der Auswertung von Gruppendiskussionen mit 43 Rezipierenden im Alter von 15 bis 25 Jahren werden empirische Befunde zum Phänomen des Second- und Multi-Screening generiert. Erkenntnisse zu neuen Fernsehzugangswegen und Veränderungen durch die Nutzung nonlinearen Fernsehens werden auch im Gespräch von Karin Knop mit FLIMMO-Redakteurin Nadine Kloos deutlich. Aus medienpädagogischer Perspektive nimmt sie eine Einschätzung zu den mit der Digitalisierung des Fernsehens einhergehenden Potenzialen und Herausforderungen für Eltern und Kinder vor. So bieten zeitversetzte Nutzungsmöglichkeiten eine erhöhte Flexibilisierung und Unabhängigkeit von Ausstrahlungszeiten, während gleichzeitig die altersspezifische Eignung von digitalen Bewegtbild-Angeboten zunehmend schwerer einzuschätzen ist und der Schutz vor ungeeigneten Inhalten höheres Engagement und zum Teil technische Kompetenzen seitens der Eltern erfordert. Außerdem skizziert sie auf Basis der langjährigen Programmbeobachtungen des FLIMMO die relevantesten Fernsehentwicklungen der letzten Jahre.
Literatur:
Bleicher, Joan (2012). Der Begriff Fernsehen wird auf etwas übertragen, das überhaupt kein Fernsehen ist. Joan Bleicher über altes und ‚neues‘ fernsehen. In: Montage AV, 21 (1), S. 109–114.
Buhr, Thomas de/Tweraser, Stefan (2010). My Time is Prime Time. In: Beißwenger, Achim (Hrsg.), YouTube und seine Kinder. Wie Online-Video, Web TV und Social Media die Kommunikation von Marken, Medien und Menschen revolutionieren. Baden-Baden: Nomos, S. 69–92.
Harries, Dan (2002). Watching the Internet. In: Harries, Dan (Hrsg.), The New Media Book. London: British Film Institute, S. 171–182.
Jandura, Olaf (2014). Der Erfolg zeitversetzter Fernsehnutzung im Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung. In: Wimmer, Jeffrey/Hartmann, Maren (Hrsg.), Medienkommunikation in Bewegung. Wiesbaden: Springer VS, S. 173–188.
Köhler, Kristina/Keilbach, Judith (2012). Editorial. In: Montage AV, 21 (1), S. 1–9.
Schwaab, Herbert (2012). Ich weiß ja nicht, was ich suche. Betrachtungen zu Flow, Segmentierung, liveness und Subjektivität des Fernsehens im Internet. In: Montage AV, 21 (1), S. 115–132.
Spiegel Online (2015) Streamingdienst: Netflix-Chef hält klassisches Fernsehen für Auslaufmodell. www.spiegel. de/wirtschaft/unternehmen/netflix-chef-hastings-prophezeit- ende-des-fernsehens-a-1033037.html [Zugriff: 05.07.2015].
Stark, Birgit (2006). Fernsehen in digitalen Medienumgebungen. Eine empirische Analyse des Zuschauerverhaltens. München: Fischer. van Es, Karin/Müller, Eggo (2012). THE VOICE: Über das ‚Soziale‘ des sozialen Fernsehens. In: Montage AV, 21 (1), S. 63–84.
Karin Knop und Dagmar Hoffmann: Editorial
Mit dem populären und zugleich missverständlichen Begriff Work-Life-Balance wird heute häufig für Beratungsliteratur und Personal-Coaching-Angebote geworben. Es wird suggeriert, dass Arbeit und Leben zwei getrennte Sphären seien, deren jeweilige Anforderungen man in technologisierten Welten kompetent meistern müsse, um ein gelingendes Leben zu führen. Richtig ist, dass Erwerbsarbeit und (ein sehr wohl mit nicht erwerbswirtschaftlicher Arbeit durchdrungenes) Privatleben lange Zeit getrennte Sphären waren, deren Grenzen sich nunmehr in Auflösung befinden. Weltweit finden umfassende gesellschaftliche Transformationsprozesse statt, die sich in veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen niederschlagen. Insbesondere vielfältige technologische Entwicklungen sind Anlass dieser tiefgreifenden Veränderungen. Der zentrale Stellenwert der Vernetzung und der Digitalisierung von Information hat großen Einfluss auf spezifische Arbeits- und auch allgemeine Lebensbedingungen von Beschäftigten. Denn heutige Arbeitswelten sind in zunehmend hohem Maße durch mobile Kommunikationstechnologien geprägt. Verschiedene Erwerbsarbeiten können (und müssen) tendenziell ortsunabhängig und in Teilen auch mobil erfolgen. Gründe dafür sind die Beschleunigung der Arbeitsorganisation und die stetig wachsenden Leistungsanforderungen. Zudem gibt es den latenten Druck, in seinem Job bestehen zu müssen, denn Arbeitsverhältnisse sind nur noch selten sicher, das heißt auf Dauer angelegt (vgl. Sennett 1998).
Es ist heute selbstverständlich geworden, aus beruflichen Gründen den Wohnort zu wechseln. Menschen sollen stets mobil und flexibel sein, werden zu sogenannten postmodernen Arbeitsnomaden, wobei dies auf Frauen und Männer gleichermaßen zutrifft. Die raum-zeitlichen Flexibilisierungspotenziale können hierbei als Chance für eine nun weitgehend individualisierte Organisation von Arbeit und Freizeit gesehen werden. Sie versprechen zudem Selbstverwirklichungs- und Selbstentfaltungsmöglichkeiten. Gleichwohl gehen mit den beschriebenen Entgrenzungsprozessen aber auch Risiken wie Stressbelastungen und Überforderungen einher und verlangen zudem neue Formen der Beziehungs-, Familien- und Erziehungsarbeit. Paare und Familien müssen sich neu finden und organisieren. Tradierte Leitbilder werden auf den Prüfstand gestellt, werden modifiziert und lösen sich mitunter auf. Lebenslagen werden folglich einerseits beweglicher und durchlässiger, andererseits fragiler und brüchiger (vgl. Beck-Gernsheim 2010). In den Medien werden diese neuen Anforderungen sowie auch die veränderten Formen des Lebens und Arbeitens auf unterschiedliche Weise thematisiert. Als Repräsentationsmedien nehmen sie sich der Visualisierung von Berufs- und Arbeitswelten an. Sie offerieren den Nutzerinnen und Nutzern aber auch spezifische Bilder von Arbeitwelten und können gemäß vorliegender Wirkungsstudien – genannt sei hier beispielsweise der CSI-Effekt – auch Berufsvorstellungen und Berufswünsche von Zuschauerinnen und Zuschauern und Usern prägen (vgl. z. B. Keuneke 2010). Sie stellen Identitätsofferten bereit, die eine Auseinandersetzung mit beruflichen Anforderungen, beruflichem Erfolg und arbeitsbezogenem Scheitern ermöglichen und in Teilen herausfordern. Leider weiß man bislang wenig darüber, inwieweit sowohl mediale Angebote als auch Diskurse über traditionelle und vor allem neue Formen der Arbeit mit relevanten Normen und Werten und gesellschaftlichen Kontexten verbunden werden. Die vorliegende Schwerpunktausgabe widmet sich diesem Manko und soll zunächst den Stand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bilanzieren sowie forschungsleitende Fragestellungen entwickeln, die explizit die komplexen Zusammenhänge der Mediatisierung von Arbeitswelten berücksichtigen. Anhand exemplarischer Studien soll aufgezeigt werden, inwieweit moderne Arbeitswelten in besonderen TV-Formaten (re-) präsentiert werden und in welcher Hinsicht sie an ein gesellschaftliches Bewusstsein oder propagierte Arbeitsethiken anknüpfen. Ferner werden die Auswirkungen der Präsenz von Informations- und Kommunikationstechnologien im Berufsalltag beschrieben. Nicht zuletzt wird anhand beispielhafter Best-Practice-Angebote aufgezeigt, wie man junge Menschen, die in der Berufsfindungsphase sind, bei der Ausbildungsplatzsuche unterstützen kann. Durch eine kreativ-kritische Medienarbeit lernen sie, diese Orientierungsphase als weniger belastend zu erleben und ihre eignen Potenziale besser einzuschätzen. Mediale und mediatisierte Arbeitswelten in Theorie, Empirie und PraxisZunächst zeigt der Sozialpsychologe Heiner Keupp auf, dass Teilhabe an Erwerbsarbeit und das damit verbundene Einkommen die soziale Position von Menschen in der Gesellschaft bestimmen und dadurch zentral für die Identitätskonstruktion ist. Die Arbeit an der eigenen Identität wird in beschleunigten Zeiten zu einem unabschließbaren Projekt und erfordert permanente psychische Investitionen. Er macht deutlich, wie im Verlauf der letzten Dekaden fertige soziale Schnittmuster für die alltägliche Lebensführung ihren Gebrauchswert verloren haben. Sowohl die individuelle Identitätsarbeit als auch die Herstellung von gemeinschaftlich tragfähigen Lebensmodellen unter Menschen, die in ihrer Lebenswelt aufeinander angewiesen sind, erfordern nun neue Kompetenzen. Die Beschleunigung und Verdichtung der Abläufe in den veränderten beruflichen und privaten Lebenswelten stellen die flexiblen Subjekte vor große Herausforderungen. Heiner Keupp macht die damit einhergehenden Chancen und Optionen zur individuellen Ausgestaltung deutlich, problematisiert aber auch die Belastungen und Risiken, denen der Einzelne ausgesetzt ist. In diesem Prozess stecken einerseits Potenziale für selbstbestimmte Gestaltungsräume, aber andererseits auch das Risiko und die leidvolle Erfahrung des Scheiterns.
Heiner Keupp interpretiert die massiv steigenden Depressionsraten und depressionsbasierte Arbeitsunfähigkeit vor dem Hintergrund von Selbsttechnologien und Ideologien des Neoliberalismus. Da Medien maßgeblich an der gesellschaftlichen Bedeutungskonstruktion beteiligt sind, analysiert die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Karin Knop ein jugendaffines Jobvermittlungsformat im Bereich des Reality TV daraufhin, wie spezifische Arbeitswelten konstruiert werden. Wie sich diese telemedialen Repräsentationsformen von Arbeit vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Kontextes und hegemonialer Subjektivierungsformen interpretieren lassen, wird hierbei auf Basis exemplarischer Sendeanalysen aufgezeigt und mit Rekurs auf das Konzept des Unternehmerischen Selbst und des Arbeitskraftunternehmers gesellschaftskritisch interpretiert. Die Ergebnisse von Gruppendiskussionen lassen außerdem deutlich werden, wie anhand solcher Formate arbeitsbezogene Wissensbestände und -ordnungen rezipiert werden, und sie veranschaulichen die potenziell handlungsleitende Relevanz der Deutungsangebote von Jobvermittlungsformaten. Die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Caroline Roth-Ebner reflektiert die Entwicklung der Mediatisierung von Arbeit. Auf Basis der Befragungsergebnisse von Digicom-Arbeiterinnen und Arbeitern verdeutlicht sie die Potenziale und Herausforderungen, die mit der Dominanz von Informations- und Kommunikationstechnologien im Berufsalltag einhergehen. Es werden spezifische Strategien und Kompetenzen herausgearbeitet, die in diesen Arbeitsfeldern konstruktiv genutzt werden können, um den Entgrenzungsprozessen in flexibilisierten und virtualisierten Arbeitsprozessen zu begegnen. Über welche Kompetenzen die Arbeitskräfte von morgen verfügen müssen, um die Chancen einer mediatisierten Arbeitswelt zu nutzen und die Herausforderungen zu bewältigen, wird anhand von Medienkompetenzkonzepten systematisiert. Michael Bloech, medienpädagogischer Referent des JFF-Medienzentrums, skizziert das expandierende Angebot von Medienangeboten zu Berufsbildern und Ausbildungsmöglichkeiten. Vor dem Hintergrund eines spartenbezogenen Fachkräftemangels werden verschiedene Optionen Ausbildungsangebote medial zu bewerben und damit attraktiv zu machen beschrieben. Er stellt den Video-Wettbewerb Ausbildung läuft? Kamera läuft!, ein Projekt aktiver medienpädagogischer Arbeit vor, bei dem der lebensweltliche Bezug zu Ausbildung und Arbeit im Vordergrund steht. Im Fokus des Projektes stehen die persönlichen Informationen über einen von den Teilnehmenden gewählten Lehrberuf. Es handelt sich also um ein innovatives Konzept, bei dem arbeitsweltbezogene Informationen von Jugendlichen für Jugendliche im Zuge aktiver Medienarbeit aufbereitet werden. Die Journalistin und Medienpädagogin Elke Dillmann stellt das Projekt Jobcast des Bayerischen Rundfunks vor. In diesem werden unterschiedlichste Kompetenzen gefördert. Jugendlichen wird Hilfestellung bei der Berufsorientierung gegeben, sie erweitern ihre Medienkompetenz durch aktive Medienarbeit und zusätzlich werden bei der Projektrealisierung soziale Kompetenzen erweitert. Die Beiträge verdeutlichen, dass Medien bei der Darstellung und Vermittlung von Berufsbildern und Arbeitswelten eine besondere Verantwortung zukommt. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass im Zuge der modernen Lebensführung Arbeitswelten von privaten Lebenssphären nicht entkoppelt betrachtet werden können. Es gilt insofern, Heranwachsenden bei dieser schwierigen, in Teilen unübersichtlichen beruflichen Orientierungsphase Hilfestellungen und Unterstützungsmöglichkeiten anzubieten. Dabei kann eine kritisch-reflektierte Medienarbeit äußerst nützlich sein, wobei das Spektrum an speziell für diese Thematik ausgerichteten Angeboten noch erweitert werden müsste.
Karin Knop und Dagmar Hoffmann
Literatur:
Beck-Gernsheim, Elisabeth (2010). Was kommt nach der Familie? Alte Leitbilder und neue Lebensformen. 3. überarb. u. erw. Aufl., München: C. H. Beck Verlag.
Keuneke, Susanne/Graß, Hildegard/Ritz-Timme, Stefanie (2010). CSI-Effekte in der deutschen Rechtsmedizin. Einflüsse des Fernsehens auf die berufliche Orientierung Jugendlicher. In: Rechtsmedizin (5), S. 400-406.
Sennett, Richard (1998). Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin-Verlag.
Karin Knop: Berufswelten im Fernsehen
Anhand eines Jobvermittlungsformats aus dem Genre Reality TV wird exemplarisch veranschaulicht, welche Charakteristika diese telemedialen Berufsvermittlungsbilder aufweisen. Ergebnisse von Gruppendiskussionen zeigen, wie Jugendliche und junge Erwachsene sich dieses Format aneignen und sich darüber mit Anforderungen des heutigen Arbeitsmarktes auseinandersetzen.
Literatur:
Bröckling, Ulrich (2007). Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Gangloff, Tilmann P., (2008). Lebenshilfe mit Herz. Warum Coachingformate im Fernsehen so erfolgreich sind. In: tv diskurs 45(3), S. 62-68.
Hill, Annette (2005). Reality TV: Audiences and Popular Factual Television. London, UK: Routledge.
Honneth, Axel (1993). Die Wiederkehr der Armut. In: Merkur 47(531), S. 518-524.
Hradil, Stefan (2001). Soziale Ungleichheit in Deutschland. Opladen: Leske + Budrich.
Keupp, Heiner/Ahbe, Thomas/Gmür, Wolfgang/Höfer, Renate/Mitzscherlich, Beate/Kraus, Wolfgang/Straus, Florian (2006³). Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek: Rowohlt.
Klaus, Elisabeth (2008). Fernsehreifer Alltag: Reality TV als neue, gesellschaftsgebundene Angebotsform des Fernsehens. In: Thomas, Tanja (Hrsg.), Medienkultur und soziales Handeln. Wiesbaden: VS Verlag, S. 157-174.
Knop, Karin (2012a). Reality TV und Arbeitswelten: Inhalte und Rezeptionsweisen von Docu Soaps zum Thema Jobvermittlung. In: Stegbauer, Christian (Hrsg.), Ungleichheit: Medien- und kommunikationssoziologische Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag, S. 121-149.
Knop, Karin (2012b). Arbeitsvermittlung im Genre Reality TV. Mediale Repräsentationen zwischen Motivierung, Disziplinierung und Stigmatisierung. In: Medienjournal 2, Medien, Arbeit und Kultur, S. 5-19.
Krotz, Friedrich (2003). Medien als Ressource der Konstitution von Identität. Eine konzeptionelle Klärung auf der Basis des symbolischen Interaktionismus. In: Hepp, Andreas/Thomas, Tanja/Winter, Carsten (Hrsg.), Medienidentitäten. Identität im Kontext von Globalisierung und Medienkultur. Köln: Herbert von Halem, S. 27-48.
Krotz, Friedrich/Lange, Andreas (2010). Leistung und Stigmatisierung als Inszenierung im Fernsehen. Ein gesellschaftstheoretischer Rahmen. In: merz, 54, S. 8-14.
Langness, Anja/Leven, Ingo/Hurrelmann, Klaus (2006). Jugendliche Lebenswelten: Familie, Schule, Freizeit. In: Shell Deutschland Holding (Hrsg.), Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck. Hamburg: Fischer, S. 49-102.
Leven, Ingo/Quenzel, Gudrun/Hurrelmann, Klaus (2010). Familie, Schule, Freizeit: Kontinuitäten im Wandel. In: Shell Deutschland Holding (Hrsg.), Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. Hamburg: Fischer, S. 53-128.
Mahnkopf, Birgit (2000). Formel 1 der neuen Sozialdemokratie: Gerechtigkeit durch Ungleichheit. Zur Neuinterpretation der sozialen Frage im globalen Kapitalismus. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 121, S. 527-546.
Mansel, Jürgen/Kahlert, Heike (2007). Arbeit und Identität im Jugendalter vor dem Hintergrund der Strukturkrise. Ein Überblick zum Stand der Forschung. In: Mansel, Jürgen/Kahlert, Heike (Hrsg.), Arbeit und Identität im Jugendalter. Die Auswirkungen der gesellschaftlichen Strukturkrise auf Sozialisation. Weinheim: Juventa, S. 7-31.
Michelle, Carolyn (2007). Modes of Reception: A Consolidated Analytical Framework. In: Communication Review 10(3), S. 181-222.
Neckel, Sighard (2004). Tragödie des Erfolgs. Hoffen am Montag, diskurs 04 (Vortrag vom 21. Juni 2004) http://04.diskursfestival.de/pdf/vortragneckel.pdf.
Neckel, Sighard (2008). Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft. Frankfurt am Main: Campus.
Nolte, Andrea (2009). Deine Chance! 3 Bewerber – 1 Job. Jugendarbeitslosigkeit und Reality TV. In: tv diskurs 48(2), S. 54-57.
Schemer, Christian (2006). Soziale Vergleiche als Nutzungsmotiv? Überlegungen zur Nutzung von Unterhaltungsangeboten auf der Grundlage der Theorie sozialer Vergleichsprozesse. In: wirth, Werner/Schramm, Holger/Gehrau, Volker (Hrsg.), Unterhaltung durch Medien. Theorie und Messung. Köln: Herbert von Halem, S. 80-101.
Voß, Günter/Pongratz, Hans (2003). Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen. Berlin: Edition Sigma.
Wegener, Claudia (2008). Medien, Aneignung und Identität. „Stars“ im Alltag jugendlicher Fans. Wiesbaden, VS Verlag. Internetquellewww.prosieben.de/tv/deine-chance/episoden/chance-sendung-1.144397/.
Karin Knop: nachgefragt
Dr. Karin Knop sprach mit Prof. Dr. Rainer Riedel, Direktor des Instituts für Medizinökonomie und medizinische Versorgungsforschung der Rheinischen Fachhochschule Köln und Leiter der BLIKK-Studie 2017 (BLIKK = Bewältigung, Lernverhalten, Intelligenz, Kompetenz, Kommunikation) über deren Ergebnisse und das Medienverhalten von Heranwachsenden.
merz: Im Rahmen des Projekts BLIKK wurden 5.636 Eltern und deren Kinder zum Umgang mit elektronischen Medien befragt und gleichzeitig im Rahmen der üblichen Früherkennungsuntersuchung die körperliche, entwicklungsneurologische und psychisch-soziale Verfassung nach Paed.Check® dokumentiert. Wie kam es zum Zuschnitt der Studie?
Riedel:In der Fernsehforschung wurde bereits vor einigen Jahren festgestellt, dass der übermäßige Konsum von Fernsehen zu Leistungs- und Schlafstörungen führen kann. Zu lange Nutzungszeiten könnten diagnostisch betrachtet zu Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen führen. Wir arbeiteten mit Evaluationsinstrumentarien, die auch in der Pädiatrie bei Früherkennungsuntersuchungen etabliert sind. Die empfohlenen Richtwerte der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und von no-ZOFF, einer schweizer Organisation zur Jugend- und Familienberatung, wurden als Cut-off- Werte zur Beurteilung der Nutzung elektronischer Medien für Kinder im Alter von drei bis 14 Jahren verwendet.
merz: Was waren für Sie die überraschendsten oder bedeutsamsten Befunde dieser Querschnittsstudie?
Riedel: Auffallend ist, dass bereits ein wesentlicher Teil der Drei- bis Sechsjährigen elektronische Medien (Fernseher und Smartphone in Kombination) länger als 30 Minuten nutzt. Der entsprechende Richtwert (BZgA bzw. no-ZOFF) wird somit bei jedem zweiten Kind überschritten. In der Gruppe der Sechs- bis Neunjährigen nutzten schon rund 75 Prozent die elektronischen Medien über 30 Minuten pro Tag.
merz: Sie plädieren also für eine starke Begrenzung der Nutzung von mobilen digitalen Bildschirmmedien?
Riedel: Wir empfehlen aufgrund unserer Studienergebnisse grundsätzlich, dass die empfohlenen Richtwerte für die Nutzung elektronischer Medien im Kindesalter eingehalten werden. Einen Einjährigen mit bewegten elektronischen Bildern abzulenken und so zu beruhigen, halte ich im Hinblick auf die zu diesem Zeitpunkt noch unzureichende Entwicklung des kindlichen Gehirns für problematisch. Ebenso kann man kontrovers diskutieren, ob es sinnvoll ist, einen Dreijährigen in der S-Bahn mit einem Tablet oder Smartphone zu beschäftigen, damit er Dritte nicht stört. Auch sollten wir darüber nachdenken, dass man noch vor wenigen Jahren Kindern Malbücher für eine kreative Beschäftigung gegeben hat. Ich unterstütze diese Idee mit den Malbüchern, denn hier lernen unsere Kinder bereits früh, die gewünschte Farbe zu wählen; nehmen sie die falsche Farbe, müssen sie radieren oder neu anfangen; dies erfordert eine höhere Konzentrationsspanne im Vergleich zur Nutzung eines Tablets, bei dem man dann das fehlerhafte Ausmalen einfach wegwischen kann. Eine solche Erfahrung ist im Hinblick auf die feinmotorische sowie geistige Entwicklung eines Kindes bedeutsam.
merz:Vom Ausgangsdesign her haben Sie Risiken und Entwicklungsauffälligkeiten und -störungen wie zum Beispiel Konzentrationsschwächen, Sprachentwicklungsstörungen und Hyperaktivität sehr stark in den Mittelpunkt gerückt. Warum?
Riedel:Es sei der Hinweis erlaubt, dass wir die eben angesprochenen Entwicklungsauffälligkeiten nicht in den Fokus gerückt hatten – denn wir haben nur die Untersuchungs-Tools der pädiatrischen Früherkennung unserer Studie zugrunde gelegt. So bestand die Zielsetzung, zu untersuchen, inwieweit gegebenenfalls Hinweise auf mögliche kindliche Entwicklungsstörungen in Verbindung mit einer Nutzung der elektronischen Medien zu beobachten wären. Diese Untersuchung steht im Zusammenhang mit den bereits in der Literatur bei (jungen) Erwachsenen beschriebenen Gesundheitseinschränkungen wie etwa Schlafstörungen oder depressiven Verstimmungen im Zusammenhang mit der Nutzung von elektronischen Medien. So kann man davon ausgehen, dass deren Nutzung eine neuropsychologische Wirkung induzieren kann. Vor diesem Hintergrund kommt dem Untersuchungsdesign eine besondere Bedeutung zu, da man so mögliche Hinweise auf eine neuropsychologische Entwicklungsauffälligkeit im Verlauf der Entwicklung des (früh-) kindlichen Gehirns abbilden kann. In dieser Phase werden dort lebensbedeutsame neuronale Netze „gespannt“, die für die Ausbildung menschlicher Grundelemente wie etwa Empathie, Sprache und auch die motorische Entwicklung erforderlich sind. So verstehen wir unter Letzterer nicht das Herumtippen auf einem Tablet, sondern beispielsweise im Sandkasten mit nassem und trockenem Sand oder Bauklötzen zu spielen oder Dreirad und Roller zu fahren. So können unterschiedliche motorische/ haptische Erfahrungen gesammelt werden.
merz:Kindliche Entwicklung kann nicht ausschließlich über Medienhandeln erfolgen, das ist richtig. Alle Ihre benannten Aspekte sind definitiv wichtig. Nichtsdestotrotz gibt es viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sagen, dass eine strikte Richtlinie für Nutzungszeiten an der Realität vorbei zielt. Denn wenn ein Kind zwar diese Zeiten überschreitet, Bildschirmmedien sonst aber vollkommen funktional, sozial und individuell zuträglich nutzt und all diese außermedialen Entwicklungspotenziale ebenfalls ausschöpft, kann es gar nicht zu diesen negativen Effekten kommen. Man kann es also nicht ausschließlich an der reinen Nutzungsdauer festmachen.
Riedel: Wir sollten jedoch berücksichtigen, dass wir uns heute in einem weltweiten „in vivo-Experiment“ hinsichtlich der Nutzung von elektronischen Medien während der (früh-)kindlichen geistigen, seelischen und motorischen Entwicklung befinden. Wie bereits ausgeführt, müssen Kinder nach den bisherigen entwicklungstheoretischen Modellen hier entsprechende analoge Fähigkeiten entwickeln. So ist es unsere Aufgabe präventiv dafür zu sorgen, dass unsere Kinder heute auch eine entsprechende Entwicklung „mit auf ihren Weg“ bekommen, damit sie in die Lage versetzt werden, sich in einer analogen wie auch in der digitalen Welt erfolgreich zu positionieren. Die angesprochenen Richtwerte sind im Moment die einzige Grundlage für einen adäquaten Umgang mit elektronischen Medien im (Klein-) Kindesalter. Eine ausgewogene und gesunde Ernährung ist eine gute Analogie: Wir können heute auf elektronische Medien genauso wenig verzichten wie auf eine ausgewogene Ernährung – denn wir wissen, dass erworbene falsche Ernährungsgewohnheiten im Kindesalter langfristige gesundheitliche Folgen haben können. Wir möchten Menschen deswegen gerne Empfehlungen an die Hand geben können, ähnlich eines Kochrezeptes, um elektronische Medien in einem „gesunden Maß“ im (Klein-)Kindesalter nutzen zu können
merz: In den pädiatrischen Empfehlungen finden sich Angaben wie „Vermeiden Sie Bildschirmmedien bei unter Dreijährigen“. Finden Sie, dass exakte Angaben für die Nutzung hilfreich sind oder haben Sie selbst Schwierigkeiten, so genaue Richtwerte und Empfehlungen auszusprechen?
Riedel: Als Arzt für Nervenheilkunde möchte ich Ihnen klare Antworten geben. Wenn wir uns nach der BZgA oder no-ZOFF richten, da es keine anderen belastbaren Richtwerte zur Verfügung gibt, empfehle ich keine Nutzung von elektronischen Bildschirmmedien bei den Null- bis Dreijährigen. Nun haben wir auch einen gesellschaftlichen Evaluationsprozess, der darauf abzielt, dass wir uns täglich mit elektronischen Bildschirmmedien umgeben. In diesem „permanently online – permanently connected“-Modus empfehle ich, wieder „On- und Offline-Phasen“ einzuführen – denn unser Gehirn braucht schließlich auch Ruhephasen. So bietet eben nicht nur die digitale Welt schöne Lebensinhalte – auch die Schönheit in der uns umgebenden analogen Natur sollten wir zumindest im gleichen Maße wieder wahrnehmen. Elektronische Medien haben das Verhalten der Menschen und deren Alltag sicherlich extrem verändert. Im Rahmen dieser sozioevolutionären Entwicklung müssen wir nun lernen, entsprechende kinderkonforme pädagogische Konzepte zu entwickeln, um die elektronischen Bildschirmmedien angemessen in eine analoge Erlebniswelt zu integrieren.
merz:Kinder anzuleiten und pädagogisch zu begleiten, sollte für eine individuell und sozial zuträgliche Mediennutzung im Vordergrund stehen. Finden Sie nicht, dass dramatische Befunde da schnell zu einer Verteuflung führen können?
Riedel:Das ist genau der Tenor, den wir in unserem Bericht nicht angeschlagen haben. Deswegen haben wir uns auch für die Einbeziehung der Cut-off-Werte entschieden. Wir haben sie entsprechend gewählt, wie diese von der BZgA und von no-ZOFF vorgegeben sind. Des Weiteren gibt es heute etwa US-amerikanische Studien, die Zusammenhänge zwischen der Nutzungsdauer sozialer elektronischer Medien und der Höhe des depression score zeigen. So haben wir darauf hingewiesen, dass die Eltern sowie deren Nachwuchs eine entsprechende Medienkompetenz entwickeln sollten, um zukünftig ein ausgewogenes Gleichgewicht einer analogen-digitalen Erlebniswelt genießen zu können. Im Augenblick sind wir eine Forschungsgruppe, die die Hinweise aus der Fernsehforschung hinsichtlich einer langen Mediennutzungsdauer und den korrespondierenden beobachteten Beschwerden und Leistungsstörungen wie Schlafstörungen, Depressionen oder Leistungsstörungen im Hinblick auf eine mögliche Übertragbarkeit auf die übrigen elektronischen Bildschirmmedien überprüfen. So werden wir die Aufgabe haben, zukünftig die wissenschaftlichen neuropsychologischen mit den medienpädagogischen Kompetenzbereichen zu koppeln, um in Längsschnittstudien etwa tragfähige Konzepte für die Nutzung elektronischer Bildschirmmedien zu untersuchen und zu entwickeln.
merz: In der Medienlogik sagt man ja „bad news are good news“. Wie ist es Ihnen mit der medialen Aufmerksamkeit ergangen?
Riedel: Wir haben keine „bad news“ gebracht, das ist immer eine Frage der Interpretation. Wir weisen nur darauf hin, dass die übermäßige Nutzungsdauer von elektronischen Medien (Fernseher/ Smartphone) in Abhängigkeit zur Altersgruppe zu Entwicklungsstörungen führen kann. Nur weil ein Kind länger als 30 Minuten Medien nutzt, muss es nicht an Konzentrationsstörungen leiden; aber bei den Kindern, die eben über diese Richtwerte hinaus Medien nutzen, ist statistisch signifikant auffällig, dass sie in höherem Maße darunter leiden. Digitalisierung bedeutet ubiquitäre 24-stündige Erreichbarkeit und wir möchten zumindest darauf hinweisen, dass es unter bestimmten Konstellationen zu Entwicklungsauffälligkeiten führen kann. Also ist dies eine „Good News“, denn so ermöglichen wir Eltern und Pädagogen, präventiv die Nutzungszeiten von elektronischen Medien zu steuern, um so unseren Kindern eine ausgewogene analoge und digitale Entwicklung zu bieten.
Karin Knop/Roland Bader/Andreas Lange: Medien, Wohlbefinden, gelingendes Leben
Der Wohlstand von Gesellschaften oder einzelner Individuen wurde und wird noch häufig (ausschließlich) anhand monetärer oder materieller Indikatoren bestimmt. Bezogen auf die ebenfalls mehrdimensionalen Konzepte subjektives Wohlbefinden, Lebensqualität und Lebenszufriedenheit werden neben dem Einkommen nunmehr unter anderem aber auch Gesundheit, Bildung, Arbeit, die sozialen Verbindungen und Beziehungen als Gradmesser herangezogen (u. a. Diener et al. 1997). Positive Emotionen, Kompetenz- und Autonomieerleben sowie gelingende soziale Beziehungen haben dabei einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Glückserleben und psychologisches Wohlbefinden oder well-being (Ryan/Deci 2000). Es geht also um die Summe an bereichsspezifischen Verwirklichungschancen von Menschen und die objektiven und subjektiven Freiheitsgrade und Potenziale im Bereich realisierbarer Lebensentwürfe, die das Individuum hat oder eben vermisst, um ein gelingendes, selbstbestimmtes Leben nach eigenen Plänen und Vorlieben zu führen. Der Einfluss der Medien auf die Lebensqualität ist dabei nicht zu unterschätzen. Wohlbefinden und Glück sind dann dezidiert das Resultat der Auseinandersetzung mit verschiedensten Medieninhalten von Buch, Radio, Fernsehen und Onlinemedien. Medien sind dann in vielen Bereichen des Lebens eine wertvolle Ressource, die beispielsweise durch Erholung, vielfältige Bedürfnisbefriedigungsoptionen, soziale Interaktionen und soziale Unterstützung das Wohlbefinden erhöhen (kann). Wenn – um einige anschauliche Beispiele zu nennen – durch eine spannende Serie Unterhaltungserleben und Abschalten ermöglicht wird, wenn durch einen Spielfilm oder eine Dokumentation eine Auseinandersetzung mit Werten oder Lebenszielen geschieht, wenn soziale Unterstützung erfahren oder Identitätsarbeit durch digitale soziale Medien praktiziert werden kann, wenn durch Produktion eines Videos, Radiobeitrags oder eines Blogs selbstständig und kreativ Medienprodukte erschaffen werden, wenn durch digitale Technologien Zeitersparnis und generelle Lebenserleichterung erfolgt, dann tragen Medien fraglos zur Verbesserung des individuellen Wohlbefindens und der Steigerung von Verwirklichungschancen bei. Voraussetzung für diese positiven Medienwirkungen auf das Wohlbefinden ist aber unter anderem ein selbstbestimmtes, kompetentes Medienhandeln. Vor diesem Hintergrund unternimmt merz 1/2019 eine vielfältige und facettenreiche Bearbeitung des komplexen Themas.
Zu diesem HeftAndreas Lange und Karin Knop geben einen Überblick zum Stand der allgemeinen, soziologischen und psychologischen Glücks- und Zufriedenheitsforschung. Lebenszufriedenheit, Wohlbefinden, Wohlstand und Glückserleben werden bezogen auf die Lebensphasen Kindheit, Jugend-, Erwachsenen- und Seniorenalter beleuchtet. Aufgezeigt wird die zentrale Rolle von Selbstregulationsfähigkeiten deren Bedeutung für die Erfüllung von Grundbedürfnissen nach Autonomie, Kompetenzerleben und Zugehörigkeit. Dabei kann Mediengebrauch das Wohlbefinden situativ oder langfristig steigern. Es wird ausgelotet, wo Grenzen undChancen der Steigerung des Wohlbefindens qua Medien zu verorten sind.
Frank Schneider und Annabell Halfmann befassen sich mit den gesundheitsfördernden und vorbeugenden Aspekten der Salutogenese und zeigen auf, wie der achtsame, selbstkontrollierte und sinnstiftende Umgang mit Onlinemedien gelingen und zur Steigerung des Wohlbefindens beitragen kann.
Karin Knop, Sarah Lutz, Ines Vogel und Roland Gimmler veranschaulichen auf Basis des aktuellen Forschungsstandes die Potenziale und Herausforderungen der mobilen, digitalen Kommunikation via Smartphone für direkte interpersonale Kommunikation. Mit Bezug auf relevante Dimensionen von Medienkompetenz werden Gelingensbedingungen skizziert und medienpädagogische Implikationen abgeleitet.
Das Schulfach Glück trägt seit 2007 an der Willy-Hellpach-Schule in Heidelberg zur Steigerung des Wohlbefindens von Schülerinnen und Schülern bei. Welche Rolle die Medien innerhalb dieses innovativen Fachunterrichts spielen, erläutert die Lehrerin Andrea Gietzelt im Interview mit Karin Knop.
Roland Bader diskutiert in seinem Beitrag, inwieweit Alltagsunterstützende Assistenzlösungen, sogenanntes Ambient Assisted Living, das Potenzial haben, älteren Menschen durch eine medienunterstützte intelligente Lösung einen längeren Verbleib in ihrem eigenen häuslichen Wohnumfeld zu ermöglichen. Es werden Beispiele und Einblicke in die bisherigen Projekte und den aktuellen Stand der Entwicklung gegeben.
Überblicksorientierte Beiträge aus der Forschung werden ergänzt durch Einblicke in medienpädagogische Praxisprojekte und nützliche Tools. Das Projekt ATOLE (Attentif à l’école) des französischen Hirnforschers Jean-Philippe Lachaux arbeitet daran, Kindern Wege aufzuzeigen, wie sie auf der Grundlage aktueller Hirnforschung die Steuerung ihrer Aufmerksamkeit verbessern können. Elke Dillmann berichtet über das Webvideo-Projekt Here’s my story von der Arbeit mit geflüchteten Menschen, die ihre Geschichten erzählen und dabei Identitätsfragen und ihre eigenen Kompetenzen fokussieren. Nadja Jennewein beschreibt in ihrem Beitrag MoMimA – Moderne Medizintechnik im Altenheim, wie sich Pflegeschülerinnen und -schüler mediengestützt mit ethischen Fragen des Technikeinsatzes in der Pflege auseinandersetzen.
Aus der Fülle der Apps, die für die medienpädagogische Arbeit oder zum Eigengebrauch hilfreich sein können, hat die Redaktion einige ausgewählt und getestet, darunter Smiling Mind, Breathe, Think, Do with Sesame, Quality Time und Daylio – Tagebuch und Stimmungen. Weitere App-Rezensionen sind zudem auf der merz-Homepage unter www.merz-zeitschrift.de abrufbar.
Literatur
Diener, Ed/Suh, Eunkook/Oishi, Shigehiro (1997). Recent findings on subjective well-being. In: Indian Journal of Clinical Psychology, 24(1), pp. 25–41.
Reinecke, Leonard/Oliver, Mary Beth (2017). Handbook of media use and well-being. New York, NY: Routledge.
Ryan, Richard M./Deci, Edward L. (2000). Self-determination theory and the facilitation of intrinsic motivation, social development, and well-being. In: American Psychologist, 55(1), pp. 68–78.Andreas Lange/Karin Knop: Medien, Wohlbefinden, gelingendes Leben in unterschiedlichen Lebensphasen
Wie können Medienangebote, Medienrezeption sowie aktive Medienbeteiligung zu einem guten gelingenden, glücklichen Leben beitragen? Dieser Frage wird im Kontext allgemeiner, soziologischer und psychologischer Glücks- und Zufriedenheitsforschung bezogen auf die Lebensphasen Kindheit, Jugend-, Erwachsenen- und Seniorenalter nachgegangen. Aufgezeigt wird die zentrale Rolle der Förderung von Selbstregulationsfähigkeiten und der Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse wie denjenigen nach Autonomie, Kompetenzerleben und Zugehörigkeit durch Mediengebrauch als vermittelnde Faktoren, die das Wohlbefinden situativ oder langfristig steigern können. Abschließend wird übergreifend diskutiert, wo Grenzen und Chancen der Steigerung des Wohlbefindens qua Medien zu verorten sind.
Literatur
Andresen, Sabine/Neumann, Sascha/Kantar Public (Hrsg.), Kinder in Deutschland. 4. World Vision Studie. Weinheim: Beltz Juventa.
Appel, Markus/Schreiner, Constanze (2014). Digitale Demenz? Mythen und wissenschaftliche Befundlage zur Auswirkung von Internetnutzung. Psychologische Rundschau, 65, 1–10.
Bartsch, Anne/Oliver, Mary Beth (2017). Appreciation of Meaningful Entertainment Experiences and Eudaimonic Well-Being. In: Reinecke, Leonard/Oliver, Mary Beth (Hrsg.), Handbook of media use and well-being. New York, NY: Routledge, S. 80– 92.
Bertram, Hans (2013). Reiche Kinder, kluge Kinder: Glückliche Kinder. In: Bertram, Hans (Hrsg.), Reiche, kluge, glückliche Kinder? Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland. Weinheim: Beltz Juventa, S. 7–25.
Bertram, Hans (2015). Kindliches Wohlbefinden als Maßstab. DJI-Impulse, 111, S. 4–7.
Betz, Tanja/Bollig, Sabine/Joos, Magdalena/Neumann, Sascha (Hrsg.) (2018). Gute Kindheit. Wohlbefinden, Kindeswohl und Ungleichheit. Weinheim: Beltz Juventa.
Bucher, Anton (2009). Psychologie des Glücks. Ein Handbuch. Weinheim: Beltz PVU.
Easterlin, Richard A. (2013). Happiness and Economic Growth: The Evidence. Bonn: IZA Paper 7187.
Easterlin, Richard A./McVey, Laura Angelescu/Switek, Malgorzata/Sawangfa, Onnicha/Zweig, Jacqueline. (2011). The Happiness-Income Paradox Revisited. Bonn: IZA Paper 5799.
Fritz-Schubert, Ernst (2017). Lernziel Wohlbefinden. Entwicklung des Konzeptes „Schulfach Glück" zur Operationalisierung und Realisierung gesundheits- und bildungsrelevanter Zielkategorien. Weinheim: Beltz.
Hefner, Dorothée/Vorderer, Peter (2017). Digital stress: Permanent connectedness and multitasking. In: Reinecke, Leonard/Oliver, Mary Beth (Hrsg.), Handbook of media use and well-being. New York, NY: Routledge, S. 237–249.
Hefner, Dorothée/Knop, Karin/Klimmt, Christoph (2018). Being Mindfully Connected: Responding to the Challenges of Adolescents Living in a POPC World. In: Vorderer, Peter/Hefner, Dorothée/Reinecke, Leonard/Klimmt, Christoph (Hrsg.), Permanently online, permanently connected. Living and communicating in a POPC world. London: Routledge, S. 176–187.
Helliwell, John F./Layard, Richard/Sachs, Jeffrey (2018). World Happiness Report. New York: Sustainable Development Solutions Network.
Hofer, Matthias (2017). Older Adults’ Media Use and Well-Being: Media as a Resource in the Process of Successful Aging. In: Reinecke, Leonard/Oliver, Mary Beth (Hrsg.), Handbook of media use and well-being. New York, NY: Routledge, S. 384–395.
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Karin Knop/Sarah Lutz/Ines Vogel/Roland Gimmler: Potenziale und Herausforderungen der Smartphone-Nutzung für (gelingende) soziale Beziehungen und f2f-Kommunikation
Dank Smartphones und mobilem Internet ist es so einfach wie nie zuvor, Kontakte zu pflegen und Erlebnisse mit anderen zu teilen. Gleichzeitig verweisen Kampagnen wie „Heute schon mit Ihrem Kind gesprochen?“ auf negative Folgen für das soziale Miteinander und individuelle Wohlbefinden. Der vorliegende Beitrag beleuchtet Chancen und Risiken der Smartphone-Nutzung für soziale Beziehungen, stellt aktuelle Studienergebnisse vor und leitet daraus medienpädagogische Implikationen ab.
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Karin Knop: Schulfach Glück
Ein ungewöhnliches Schulfach trägt zur Steigerung des Wohlbefindens von Schülerinnen und Schülern bei. Welche Rolle nehmen Medien innerhalb dieses innovativen Fachunterrichts ein? Dr. Karin Knop, geschäftsführende Beauftragte am Zentrum für Lehrerbildung der Universität Koblenz-Landau, sprach mit Andrea Gietzelt, Lehrerin an der Willy-Hellpach-Schule in Heidelberg, um Inhalte, Potenziale und Weiterentwicklungen dieses außergewöhnlichen Schulfachs kennenzulernen.
Das Interview führte Karin Knop.
Karin Knop und Ines Welzenbach-Vogel: Machen wir uns die Welt, wie sie uns gefällt? Ein Forschungsüberblick zur Verbreitung, Rezeption und Aneignung von Fake News und daraus abgeleiteten Implikationen für medienpädagogische Maßnahmen
Fake News sind ein weitverbreitetes Phänomen, dem die Mehrheit der Internetnutzenden online bereits begegnet ist. Menschen glauben vor allem dann an Fake News, wenn diese einstellungskonsistent sind und wiederholt rezipiert werden. Besonders anfällig für Fake News sind Menschen mit geringer Medienkompetenz, extremen politischen Einstellungen und hohem Misstrauen gegenüber etablierten Medien. Abgeleitet aus dem Forschungsstand diskutiert der Beitrag Empfehlungen für die medienpädagogische Praxis.
Fake news are a widely spread phenomenon that the majority of internet users have already noticed online. Research shows that repeated exposure and consistency with worldviews increase the believability of fake news to users. Moreover, susceptibility is high among users with low media literacy skills, extreme political attitudes and high mistrust towards traditional media. Implications for media education are derived from research findings and discussed in the paper.Literatur
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Wie die Mediennutzung von jungen Menschen und deren Bezugspersonen eingeschätzt wird, ist oft im erheblichen Maße abhängig von deren persönlicher Einstellung dem jeweiligen Medium gegenüber. Jedes Medium scheint in der Geschichte seine eigene verlorene Generation zu generieren. Der immer wieder – anhand spezifischer medienhistorischer Phänomene – aufflackernde Diskurs um suchtartige Nutzung unterschiedlicher Medien nimmt in der Corona-Pandemie mit neuer Intensität Fahrt auf. Unter ‚Mediensucht‘ wird dabei ein exzessiver Umgang mit einzelnen oder mehreren elektronischen bzw. digitalen Medien verstanden. Der Begriff wird als Sammelbegriff für vieles gebraucht – häufig wird unter anderem zwischen Computerspielsucht, Social-Media-Sucht, Onlinesucht, Computersucht, Handysucht unterschieden. Dabei ist der Übergang von durchschnittlicher über exzessive bis zur suchtartigen Mediennutzung fließend.
Auffallend ist in aktuellen Diskussionen der oft undifferenzierte Fokus auf die reinen Nutzungszeiten. Zunahmen der Nutzungsdauer von Bildschirm- und Onlinemedien werden im Kontext der Corona-Pandemie mit Nachdruck kommuniziert. Diese erhöhen die Sorge von Eltern und Pädagog*innen. Die reine Quantität der Nutzung sagt jedoch wenig bis gar nichts darüber aus, ob Kinder und Jugendliche den Bereich des selbstbestimmten, funktionalen und kompetenten Medienhandelns verlassen, der ihnen beispielsweise Teilhabe an Bildung und soziale Kontakte ermöglicht.
Vielmehr müssen zur Diagnose von konkreten Mediensüchten spezifische Kriterien wie Kontrollverlust, Vernachlässigung anderer Lebensinhalte und Alltagsaktivitäten sowie die Fortsetzung des Verhaltens trotz negativer Konsequenzen über einen längeren Zeitraum festgestellt werden. Auch wird in der Diskussion häufig übersehen, dass Lockdown, Homeschooling und die Einschränkung alternativer Freizeitaktivitäten unweigerlich zur Erhöhung der Nutzungszeiten führen müssen. Den positiven Aspekten wie dem E-Learning, der Weiterführung sozialer Kontakte und Beziehungen wird zwar Rechnung getragen, die Risikoperspektive dominiert jedoch.
So fordert beispielsweise die DAK-Gesundheitsstudie eine „Präventionsoffensive gegen Mediensucht“ (Thomasius 2021). Die Autor*innen tun dies mit Rekurs auf die beeindruckend hohe Zahl von 700.000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland, deren Gaming- und Social-Media-Nutzung als riskant oder pathologisch eingestuft wird. Eine differenzierte Betrachtung des Zusammenspiels von Medien, Mediensucht und Mediensuchtprävention ist daher notwendiger denn je.
Bemerkenswert ist, dass bis vor knapp zehn Jahren keine Form von Mediensucht in einem der einschlägigen medizinischen Manuale geführt und definiert wurde. Felix Reer und Thorsten Quandt legen in ihrem Beitrag entsprechend dar, wie Mediensüchte derzeit definiert werden und welche Risikofaktoren für das Zustandekommen einer suchtartigen Mediennutzung ausschlaggebend sind. Sie geben damit eine Hilfestellung für eine differenziertere Unterscheidung zwischen intensiven und suchtartigen Nutzungsweisen. Neben dieser Grundlegung widmen sie sich der Frage, welchen Einfluss Corona in Hinblick auf eine Ausbreitung suchartiger Mediennutzungsformen hat(te).
Klaus Lutz und Ulrike Wagner nehmen in ihrem Artikel den Stellenwert von Medien im Aufwachsen junger Menschen und konkret der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in den Blick. Sie fordern, dass das Eingrenzen von Mediennutzungszeiten und damit verbundenen Konflikte im Erziehungsalltag viel stärker aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen gesehen werden müssen. Sie legen folglich einen Fokus auf die zentrale Rolle des Medienhandelns in der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen. Ein Steckbrief des GG – E-Sport und Gaming Jugendzentrum dient anschließend als Beispiel für ihr angeführtes Praxisvorhaben.
Mareike Schemmerling hat das Gespräch mit Philipp Benz-Verhülsdonk gesucht. Er arbeitet in der psychosozialen (Sucht-)Beratung für Einzelpersonen, Angehörige und Familien bei der Drogenhilfe Köln. In ihrem Austausch widmen sie sich beispielsweise der Frage, inwiefern sich stoffgebundene Süchte und exzessiven Mediennutzung vergleichen lassen und welche Rolle die Diagnose ‚Sucht‘ im Beratungskontext spielt. Benz-Verhülsdonk gibt darüber hinaus Einblicke in seinen Beratungsalltag.
Auf Basis wissenschaftlicher Studien stellt Karin Knop – nach einer Begriffsbestimmung und einem Exkurs zur Geschichte der Mediensüchte – aktuelle Ergebnisse zur Mediennutzung und Mediensucht von Kindern und Jugendlichen vor und während der Corona-Pandemie vor. Die Befunde zieht Knop heran, um die zeitlos hohe Bedeutung von Medienkompetenzförderung und die Förderung von (medienbezogener) Selbstregulationsfähigkeit und achtsamem Medienhandelns am Beispiel exzessiv-funktionaler bis pathologischer Mediennutzung zu verdeutlichen.
Am Beispiel des Jugendmedienzentrums Connect stellt Florian Seidel präventive Praxisaktivitäten vor. In einer von digitalen Medien durchdrungenen Welt exzessiver und suchtartiger Mediennutzung mit Abstinenz zu begegnen ist für ihn kein zielführender Ansatz. Er beschreibt vielmehr die Bedeutung medienpädagogischer Angebote, in denen Kinder und Jugendliche im Sinne eines handlungsorientierten Ansatzes notwendige Fähigkeiten und Kompetenzen entwickeln können. Ausgehend von Formaten wie FürthCraft und MakerKids geht er auf Potenziale ein, welche medienpädagogische Gamingaktivitäten zur Prävention von problematischen Medienhandeln bieten. Zwischendurch kommen an verschiedenen Stellen immer wieder Jugendliche selbst zu Wort, in Form von markanten Statements aus dem ACT ON!-Jugendpodcast Was geht ... ?.
Nicht zuletzt möchten wir mit diesem Titelthema auch Einblicke geben, wie Jugendliche selbst ihr Medienhandeln erleben, beschreiben, reflektieren, problematisieren und sich damit auseinandersetzen, was eine zuträgliche oder problematische, gar suchtartige Nutzungsweise darstellt.
Literatur
Thomasius, Rainer (2021). Mediensucht während der Corona Pandemie: Ergebnisse der Längsschnittstudie zu Gaming und Social Media. www.dak.de/dak/download/praesentation-2508260.pdf [Zugriff: 06.07.2022]Karin Knop: Mediensucht und Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie
Die Corona-Pandemie hat den historisch gewachsenen Diskurs um Mediensucht stark angeheizt. Im Beitrag wird Mediensucht definiert und auf Basis wissenschaftlicher Studien werden aktuelle Ergebnisse zur Mediennutzung und Mediensucht von Kindern und Jugendlichen vor und während der Pandemie vorgestellt. Die zeitlos hohe Bedeutung von Medienkompetenzförderung und Förderung (medienbezogener) Selbstregulationsfähigkeit wird am Beispiel aktueller Herausforderungen herausgearbeitet.
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Michael Gurt/Dagmar Hoffmann/Karin Knop: Editorial: Bewegte Bilder in Bewegung. Potenziale und Herausforderungen neuer Formen der Bewegtbildangebote und -nutzung
„Kinderfernsehen ist, wenn Kinder fernsehen.“ Das Bonmot von Gert K. Müntefering, einem der Urgesteine des (bundes-)deutschen Kinderfernsehens und Erfinder der Sendung mit der Maus, ist mittlerweile 53 Jahre alt. Wenn man dieser Prämisse heute folgt, fällt es gar nicht so leicht, die Frage zu beantworten, was Kinderfernsehen ist. Denn was Kinder „fernsehen“, ist alles andere als klar: TikTok, Instagram, YouTube, Twitch, Smart-TV, Mediatheken, VoD-Dienste, Live-Streams; die Kanäle für und die Zugänge zu Bewegtbildinhalten sind ebenso vielfältig wie die Methoden, belastbare empirische Daten über die Gesamtheit der Bewegtbildnutzung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu generieren.
War das klassische lineare Fernsehen über Jahrzehnte das Hauptmedium, wenn es um die Ansprache großer Publika ging, verändert sich nunmehr die Nutzung von Bewegtbildinhalten rasant. Insbesondere die Nachfrage nach Fernsehcontent im Netz nimmt zu und vor allem jüngere Zuschauer*innen verlagern ihren Fernsehkonsum auf neue Plattformen. Unter der Bezeichnung Bewegtbild im Netz oder Streamingangebote sind alle audiovisuellen Angebotsformen subsumiert, die im Internet zur Verfügung stehen, seien es allgemein Videos, ganze Fernsehsendungen oder Ausschnitte daraus sowie sonstige bewegte Bilder. Zunächst erlebte die Nutzung von Mediatheken der Fernsehsender einen deutlichen Anstieg, die zeitversetztes Fernsehen ermöglichten. Nach YouTube waren die Sendermediatheken die meistgenutzten Bewegtbildangebote. In den letzten zehn Jahren hat sich der Markt der Streamingangebote jedoch nochmals fundamental verändert. Die großen Player im Bereich der Bewegtbildangebote von Serien, Filmen über Dokumentationen etc. sind nunmehr YouTube, Netflix, Amazon Prime Video, Disney+ und viele weitere. Der Streamingmarkt wächst stetig und differenziert sich aktuell weiter aus.
Heute stellen sich die Nutzer*innen ihr Programm selbst zusammen. Streamingplattformen ermöglichen die gewünschte zeit- und ortsunabhängige und in der ‚Dosierung‘ selbstgewählte Form der Nutzung von Bewegtbildangeboten. Neue und zum Teil exzessive Nutzungsweisen wie das sogenannte Binge-Watching etablierten sich. Diese Nutzung wird kontrovers diskutiert, da es sich (je nach Ausgangslage und individueller Disposition der Nutzer*innen) auch um ein suchtartiges Sehverhalten handeln kann, das über ein temporäres unterhaltsames, vergnügliches Eintauchen in einen Narrationskosmos hinausgeht. Durch die Ausschöpfung von Algorithmen werden Konsument*innen direkt adressiert und wird eine individualisierte Angebotslenkung möglich.
Streaming ist demnach ein Thema, das für Kinder, Jugendliche und Erwachsene von hoher Bedeutung ist, denn alle Nutzer*innen sind in veränderten und algorithmisierten und sich dynamisch wandelnden Angebotsmärkten herausgefordert, kompetent im Bewegtbildfluss zu navigieren. Freiheit und selbstbestimmte Nutzung setzen ein hohes Maß an Eigenverantwortung und reflektierter, bewusster Nutzungsweisen voraus, um positive Rezeptionserfahrungen zu machen.
Insbesondere Kinder und Jugendliche sehen heute gänzlich anders fern, was Eltern vor neue Herausforderungen stellt, da sie sich nicht mehr auf die Klassifikation ‚Kinderfernsehen‘ der Sender verlassen können, sondern den von ihren Kindern gewählten Content einschätzen lernen müssen. Vor diesem Hintergrund widmet sich die vorliegende Ausgabe multiperspektivisch, das heißt medienhistorisch, -ökonomisch, angebots- bzw. inhaltsseitig als auch rezeptionsseitig dem Thema Streaming. Bereitgestellt und aufgearbeitet werden einige Basisinformationen über den Wandel im Bewegtbildangebot. Weiterhin werden die Herausforderungen für die medienpädagogische Praxis mit Bezug auf die veränderten Nutzungsweisen der Streamingangebote kritisch beleuchtet.
Der Medien- und Fernsehwissenschaftler Christian Richter befasst sich in seinem Beitrag zunächst mit den Mechanismen und der Wirkmacht der logarithmischen Interfaces von Netflix und ähnlichen VoD-Anbietern. Seine zentrale These lautet, dass die Benutzeroberfläche solcher Dienste so gestaltet ist und darauf abzielt, eine maximale Verweildauer der Nutzer*innen zu gewährleisten. Dazu beschreibt er fünf Methoden, mithilfe derer dieses Ziel erreicht werden soll: Räumliche Visualisierung, Ästhetik des Überangebots, nahtlose Fortsetzung, Mehr-vom-Gleichen-Logik und algorithmische Aggregation. Richter stellt in seinem Beitrag heraus, wie VoD-Dienste wie Netflix eine Nähe zum Fernsehen aufweisen und Strukturen, Ästhetiken und Mechanismen reproduziert werden, die bereits aus dem Fernsehen bekannt sind. Für ihn sind Streamingdienste exemplarische Anschauungsobjekte, deren Mechanismen und Funktionsweisen in der medienpädagogischen Arbeit hinterfragt werden sollten. Sie lassen sich nämlich auf andere Umgebungen übertragen, so dass sich für die Nutzer*innen ähnliche Herausforderungen aufgrund der algorithmischen Aggregation von individualisierten Oberflächen und Auswahlangeboten ergeben, die man auch von der Anwendung von Suchmaschinen oder von sozialen Netzwerken her kennt.
Birgit Guth, Leiterin der Forschungsabteilung Insights & Analytic Kids bei RTL Data, erörtert dann datenbasiert den Wandel der Nutzungsgewohnheiten der Zielgruppe der Kinder. Demzufolge nimmt die Nutzung des linearen Kinderfernsehens in den letzten Jahren kontinuierlich ab. Die zunehmende Konkurrenz durch VoD-Anbieter, aber auch Social-Media-Anwendungen, die Bewegtbildinhalte aller Art Kindern und Jugendlichen anbieten, machen nicht nur die medienpädagogische Begleitung komplizierter, sondern auch die Erfassung des Nutzungsverhaltens, insbesondere die Reichweitenmessung, die die Mediatheken der TV-Sender bislang unberücksichtigt ließ. Neben der Entwicklung des Kinderfernsehmarktes werden die Motive und Bedürfnissen, die der Bewegtbildnutzung von Kindern zugrunde liegen, beleuchtet. Hier zeigt sich, dass die Veränderungen der Struktur von Angeboten und Medienlandschaft wenig an den grundlegenden Bedürfnissen junger Zielgruppen ändert: dem Bedürfnis nach Unterhaltung, aber auch Orientierung in lebensweltlich relevanten Kontexten.
Der Elternratgeber FLIMMO informiert seit 1997 Eltern über TV-Inhalte und altersgerechte Filmangebote für Kinder und Preteens im Alter zwischen 3 und 13 Jahren. Der Projektleiter Michael Gurt und die mitverantwortliche Redakteurin Nadine Kloos berichten im Gespräch, wie der Elternratgeber nunmehr auch das Programm von Mediatheken und Streaming-Plattformen aufgreift und dezidierte Empfehlungen dazu gibt. Erklärt wird, wie aus pädagogischer Sicht auf die zunehmende Nutzung von Streamingdiensten zu reagieren ist und welcher Aufklärungsbedarf besteht. Deutlich wird, dass Streamingangebote, vor allem YouTube, selbstverständlicher Bestandteil des Medienalltags von Kindern sind und diese oftmals eigenständig darauf zugreifen können, was aus jugendschutzrechtlicher Perspektive problematisch ist. Weiterhin gehen die Medienpädagog*innen auf die verschiedenen Umgangsweisen mit Streaming in den Familien ein, die teilweise an der Nutzungszeit festgemacht wird, zuweilen aber situativ und anlassbezogen ausgehandelt wird. Eltern sind oftmals überfordert, sich mit den jeweiligen Nutzungsbedingungen der Streaminganbieter sowie den Sicherheitseinstellungen auseinanderzusetzen.
Der Medien- und Filmwissenschaftler Florian Kraus befasst sich mit der Entwicklung öffentlich-rechtlicher Formate hin zum Streaming – wie zum Beispiel in Form des Online-Content-Netzwerks funk. Diese Entwicklung wird am Beispiel der Webserie ECHT nachvollzogen, indem Strategien bei der Entwicklung von Ästhetik und Produktion in den Blick genommen werden. Grundlage liefern drei Expert*innen Interviews. Zielgruppe der Serie ECHT ist die eng begrenzte Altersgruppe der Preteens. Die Erzählweise ist horizontal, also über mehrere Folgen hinweg durchzogen von Perspektivwechseln. Wesentliche inhaltliche Strategie stellen der Fokus auf Diversität und den Einbezug relevanter Communities in der Serie dar, sowie das Ziel größtmöglicher Authentizität in der Darstellung der Lebenswelt jugendlicher Protagonist*innen. In der Produktion wurde vor allem auf intensive Recherche samt Einzelinterviews mit Preteens und ein glaubwürdiges Setting Wert gelegt. Auch beim Testscreening ging die Produktion neue Wege, indem den Kinderdarsteller*innen einzelnen Szenen oder Folgen vorab gezeigt wurden und deren Reaktionen in die Stoffentwicklung weiterer Folgen eingeflossen sind. Ein weiterer wichtiger Feedback-Kanal waren die Kommentare zur YouTube-Ausstrahlung der Serie. YouTube stellt insgesamt einen wichtigen Distributionskanal für das funk-Netzwerk dar, wobei ECHT auch linear im KiKA ausgestrahlt wird. Die Koppelung von Streaming auf YouTube und in Social-Media-Kontexten mit den Angeboten des öffentlich-rechtlichen Kinderfernsehens wird vom Autor vor allem in Bezug auf die Zielgruppe der Preteens als tragfähiges Konzept skizziert.
Die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Karin Knop widmet sich dem Rezeptionsmodus Binge-Watching, was die exzessive Nutzung von (seriellen) Bewegtbildangeboten innerhalb einer Zeiteinheit im Sinne eines Serienmarathon meint. Auf Basis des Forschungsstandes zu Motiven, Rezeptionsmodalitäten und Wirkungen dieser veränderten Nutzungsmöglichkeiten durch Streamingangebote verdeutlicht sie das Spannungsverhältnis aus autonomer, selbstbestimmter zeitversetzter Nutzung von Bewegtbildangeboten zwischen genussvoll vertieftem exzessivem Rezeptionsvergnügen und dem Risiko der unregulierten problematischen bis suchtartigen Nutzung mit (subjektiv empfundenen) potentiell negativen Nachwirkungen. Die Autorin zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen Zuschauer*innen diesen neuen Rezeptionsmodus für sich individuell und sozial zuträglich funktional und lustvoll ausgestalten und worin die derzeitigen großen Herausforderungen für heranwachsende aber auch erwachsene Bewegtbildnutzer*innen bestehen. Achtsamkeit und Selbstregulationsfähigkeit werden in ihrer Bedeutung für die reflektierte und bewusste Nutzung herausgestellt und ein Differenzierungsvorschlag entlang von relevanten Dimensionen für das medienpädagogische Reflexionsgespräch gemacht.
Schließlich reflektieren Lars Gräser, Grimme Institut, und Markus Gerstmann, Medienpädagoge beim ServiceBureau Jugendinformation in Bremen, den Wandel des Zugangs zu Bewegtbildinhalten, allerdings fokussiert auf die Zielgruppe der Jugendlichen. Sie gehen der Frage nach, was und wie Jugendliche streamen und welche Zugänge zu VoD-Anbietern sie nutzen. Grundlage ist unter anderem eine Befragung von 47 jungen Menschen des ServiceBureau Jugendinformation, die unter Gästen der Bremer Jugendzentren durchgeführt wurde. Ausgehend von der These, dass Streamingangebote Aufmerksamkeit erzeugen (müssen), analysieren sie die interaktive Komponente von aktuellen populären Serien, Games oder Musikproduktionen einerseits und der Kommentierung und Verbreitung über Social-Media andererseits. Hier sehen die Autoren Parallelen zwischen aktuellen Diensten wie Twitch oder YouTube und älteren Vorläufern wie MySpace. Weiterhin stellen die Autoren das Potenzial heraus, das sich aus der pädagogischen Auseinandersetzung mit den Vorlieben und Praktiken jugendlicher Streaming-Nutzung ergibt, etwa im Hinblick auf die Bearbeitung identitätsbezogener Entwicklungsaufgaben und die Reflexion gesellschaftspolitischer Fragen. Anknüpfend an diese Überlegungen werden medienpraktische Methoden beschrieben, die dieses Potenzial im schulischen Kontext nutzbar machen sollen.
Nicht zuletzt möchten wir mit diesem Titelthema Akteur*innen in verschiedenen (medienpädagogischen) Handlungsfeldern grundlegende Informationen und Reflexionsimpulse zu aktuellen Entwicklungen im Streamingbereich geben, damit diese für sich selbst oder im medienpädagogischen Kontext nutzbar gemacht werden können. Denn das eigene Medienhandeln bewusst(er) erleben, beschreiben, reflektieren und problematisieren zu können und andere hierbei zu unterstützen, kann zu Gelingensbedingungen kompetenter Streamingnutzung beizutragen und eine Auseinandersetzung anregen, wie autonome, selbstbestimmte Rezeption unter den Voraussetzungen aktueller Angebotsstrukturen gelingen kann.
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Karin Knop: Nur noch eine Episode … Binge-Watching zwischen vertieftem Sehvergnügen und reuevollem Exzess
Binge-Watching, die exzessive Nutzung mehrerer aufeinander folgender Episoden von Serien, wird auf Basis des internationalen Forschungsstandes beleuchtet. Nach Definition des Phänomens werden die Motive und Wirkungen dieser Nutzungsweise von Streamingangeboten vorgestellt. Die Befunde zu dem Spektrum zwischen erhöhtem Rezeptionsgenuss und unkontrollierter Sucht werden in Implikationen für die medienpädagogische Praxis überführt.
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