Christine Lohmeier
Beiträge in merz
Christine Lohmeier/Christian Pentzold: Editorial: Erinnern in und mit digitalen Medien
Ohne Erinnern keine Gesellschaft. Vergangenes zu vergegenwärtigen ist eine wesentliche Leistung und Bedingung von Gesellschaft und von zentraler Bedeutung für die Identitätsentwicklung und die soziale Einbettung von Individuen. Vergangenheit wird in Medienkommunikation nicht einfach bewahrt oder konserviert, sondern sie wird in kontingenten gegenwärtigen Bezügen aufgearbeitet und gemäß aktueller Relevanzsetzungen rekonstruiert (Halbwachs 1991/1950). Diese notwendigerweise perspektivischen Repräsentationen von Vergangenheit in medialen Darstellungen spiegeln einerseits zeitgeschichtliche persönliche und gesellschaftliche Sinnbedürfnisse und die Rückbezüge werden andererseits zur individuellen wie zur gemeinschaftlichen Orientierung genutzt. Gerade diese Verknüpfung von Projektion und Retrospektion, also von ‚vergangener Zukunft‘ (Koselleck 1979), macht deutlich, wie Erinnerungsprozesse zeitübergreifend Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander in Beziehung setzen (Pentzold et al. 2016). Ebenso unterstreicht diese diachrone Relation, dass Erinnern kein rückwärtsgewandtes Unterfangen ist, sondern dass der Rückgriff auf Vergangenheit auch die Gestaltung und Imagination kommender Verhältnisse impliziert. Mit einem Begriff von Michael Rothberg (2009) kann hier von ‚productive remembering‘ gesprochen werden. Offen bleibt dabei freilich, ob die Mobilisierung des Vergangenen konservativen oder progressiven Vorhaben dient.
In Prozessen des Erinnerns werden bestehende Erfahrungen und Wissen, Deutungs- und Handlungsmuster in aktuellen individuellen, sozialen und kulturellen Bezugsrahmen relevant gemacht und realisiert. Medien sind unmittelbar und auf vielfältige Weise mit der individuellen, kommunikativ erfolgenden Erinnerungsarbeit und dem generationenübergreifenden Tradieren von kulturellem Gedächtnis verbunden (Lohmeier/Pentzold 2014). Medien sind hierbei nicht nur Übermittler, sondern sie prägen in ihrer technologischen Form und ihrer kulturellen Bedeutung aktiv kollektive wie individuelle Erinnerungspraktiken und Erinnerungsinhalte. Entsprechend ist der Wandel von Medientechnologien und Kommunikationsformen verknüpft mit den sich verändernden Möglichkeiten, Vergangenheitsbezüge erinnernd herzustellen. In den vergangenen Jahren wurde vor dem Hintergrund dieser Bedingungsgeschichte das mnemonische Potenzial einer Vielzahl von Medien untersucht, angefangen bei Keilschrifttafeln bis zur Rolle von Massenmedien wie dem Film, dem Fernsehen oder der Zeitung (Assmann 1992; Erll 2017; Garde-Hansen 2011; Neiger et al. 2011).
In letzter Zeit haben digitale vernetzte Dienste und Anwendungen vermehrt das wissenschaftliche Interesse auf sich gezogen (Ernst 2012; Hoskins 2018; Smit 2018; Van Dijck 2007). Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass auch diese neuen Medientechnologien keine neutralen Vermittlungsleitungen oder Plattformen darstellen. Vielmehr bestimmen ihre je verschiedenen Darstellungs- und Verarbeitungsweisen – die durch Algorithmen und den von ihnen automatisiert gesteuerten Prozessen bedingt sind – die möglichen Formen des Erinnerns. Gemäß der vielfach automatisiert ablaufenden Selektions-, Evaluations- und Kuratierungslogiken werden bestimmte Themen und Positionen favorisiert, während andere unberücksichtigt bleiben. Dies hat auch Auswirkungen auf die Sichtbarkeit und Verfügbarkeit mnemonischer Ressourcen und die Prominenz erinnerungskultureller Protagonist*innen. Das Mitwirken an einem gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs – in seiner gesamten Vielfalt – ist auch in digital vernetzten Medien nicht allen Akteur*innen in gleichem Maße möglich. Ähnlich wie bei anderen Formen der Teilhabe (Zobl et al. 2019) geht es bei der digitalen Konstruktion von Vergangenheit um Fragen der Deutungshoheit und der medial bedingten Chance, Erinnerungen in den öffentlichen Diskurs einzubringen bzw. Vergangenheit auf eine bestimmte Weise zu rahmen (Reading/Notley 2018).
Die Verbindungen zwischen digitalen Medien als mnemonischen Instanzen und der erinnerungskulturellen Stiftung von Identitätsbezügen und Gemeinschaftlichkeit liegen damit einerseits auf der Hand und sind andererseits in ihrer Komplexität bisher nur in Ansätzen detailliert nachvollzogen. Erinnern in und mit digitalen Medien ist gruppenbezogen und gemeinschaftsstiftend. Damit ist es gleichzeitig auch potenziell ausgrenzend und kann mit Blick auf Fragen von erinnerungsbezogenen, nunmehr digital vernetzten Konflikten, der Neugestaltung von Machtverhältnissen und Hegemonien untersucht werden (Pentzold et al. 2017). Diese Prozesse involvieren bestehende staatliche Institutionen, zum Beispiel Museen und Archive, genauso wie zivilgesellschaftliche Gruppierungen und Einzelpersonen, wobei bislang offen bleibt, inwiefern existierende Einflussverhältnisse bestätigt oder umgeworfen werden. Während einige Studien die partizipativen Potenziale digitaler Medien betonen, unterstreichen andere die fortdauernde Rolle etablierter mnemokultureller Institutionen (Birkner/Donk 2020; Cohen et al. 2018; Gehl 2011; Landsberg 2015; Zandberg 2010).
Erinnern setzt Vergessen voraus, denn die Rekonstruktion von Vergangenheit ist stets selektiv. Nicht alles kann erinnert und archiviert werden, auch wenn nie dagewesene Speichermöglichkeiten verfügbar sind. Die Diskussion um das „Recht auf Vergessen“ verweist in diesem Zusammenhang zudem auf die politische und ethische Dimension des veränderten Zugangs zu Datenspuren und die ungelöste Frage, welche Konsequenzen diese für das individuelle Selbstverständnis als auch für die Kontrolle und Überwachung von Bürger*innen, ja selbst für deren Zukunftschancen, haben können (Tirosh 2017).
Vor diesem Hintergrund befasst sich das Themenheft mit der Frage, was Erinnern angesichts einer zunehmend von und mit digitalen Mediendiensten, Plattformen und den damit verbundenen Möglichkeiten durchdrungenen Gesellschaft bedeutet. Wie wird Erinnern heutzutage praktiziert? Welche Akteure sind daran beteiligt? Welche Inhalte und Themen werden aufgegriffen? Welche Medien(-dienste) werden dafür herangezogen? Unter welchen rechtlichen, pädagogischen, kulturellen und technologischen Bedingungen findet dies statt und welche Folgen gehen damit einher?
Angesichts der weitgreifenden Implikationen der genannten Fragen können die Beiträge im vorliegenden Themenheft diese unmöglich abschließend beantworten. Vielmehr kristallisieren sich drei Dimensionen heraus, die über den Rahmen der Beiträge hinausweisen:
- Die zentrale Bedeutung von Bildern und bildbezogenen Praktiken im Erinnern in und mit digitalen Medien.
- Die soziale Vernetzung im Kontext des Umgangs mit Erinnerungen.
- Die vermehrte Erzeugung und rekursive Nutzung digitaler Daten in erinnerungskultureller Kommunikation.
Zu (1). Die zunehmende Bedeutung von Bildern und Bildpraktiken kann nicht nur in Verbindung mit Erinnerung attestiert werden: Das Forschungsfeld der Visuellen Kommunikation ist heute aus den entsprechenden nationalen und internationalen Fachgesellschaften nicht mehr wegzudenken. Mit der Entwicklung der digitalen Fotografie und der allgegenwärtigen Verbreitung von Kameras und Smartphones ist das Bild zum Alltagsmedium geworden und wird zum selbstverständlichen Element des Aufzeichnens und Vergegenwärtigens von Vergangenheit (Keightley/Pickering 2014; Schreiber 2020).
In ihrem Beitrag zum Wandel von Erinnerungs- und Biografiepraktiken von Jugendlichen stellt Michaela Kramer das Konzept der visuellen Biografiearbeit vor. Nach der Herleitung des Konzepts mit Hilfe von individualisierungs- und mediatisierungstheoretischen Grundannahmen zeigt sie empirisch fundiert auf, wie sich Erinnerungspraktiken bei Jugendlichen konkret darstellen: Dazu gehört zum Beispiel das Scrollen auf dem Smartphone, interaktive Aushandlungen von Erlebtem auf Social-Media-Plattformen oder die Veröffentlichung von analogen Fotos, die mit dem Smartphone digital abfotografiert wurden.
Auch der Beitrag von Christine Lohmeier, Christian Schwarzenegger und Maria Schreiber greift die Bedeutung von Bildern im Rahmen einer Untersuchung zu mediatisierten Erinnerungen auf Instagram auf. Vor dem Hintergrund einer größeren Bandbreite an erinnerungskulturell sichtbaren Akteur*innen entwickeln sie eine Typologie der Accounts von historischen Persönlichkeiten – Accounts, die nicht von diesen Persönlichkeiten selbst, sondern von andere Nutzenden mit bildhaften Inhalten bespielt werden. Auffällig ist dabei die große Heterogenität und die Kreativität im Umgang mit Geschichte und der in den Inhalten dargestellten historischen Personen einerseits und die Intransparenz der Identität und Motivation der dahinterstehenden Accountbetreibenden andererseits.
Digitale Fotografie und die Plattform Instagram stehen auch im Fokus des Beitrags von Sandra Nuy und Mathias Scheicher. Das Autor*innenteam geht der Frage nach, wie sich Nutzende durch den Account der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau mittels digitaler Medienpraktiken zu einer konnektiven Zeugenschaft vernetzen. Neben den Möglichkeiten der Verbindung zwischen Besuchenden der Gedenkstätte wird hier ein Archiv an nutzergenerierten Inhalten geschaffen, dessen Darstellungen von Besuchen vor Ort durch die ästhetischen Konventionen des Genres der Reisefotografie gekennzeichnet sind.
Einem anderen Genre, dem der Zeitzeugenvideos, widmen sich Anja Peltzer und Vivien Sommer. Sie kommen bei ihrer Analyse zu dem Ergebnis, dass Zeitzeugenvideos über den Holocaust im Kontext von sozialen Medien, insbesondere YouTube, metaphorisch als digitale Stolpersteine gesehen werden können und damit in Verbindung zu den seit 1992 durch den Künstler Gunter Demnig auf Fußwegen verlegten kleinen Gedenktafeln stehen. Die Zeitzeugenvideos charakterisieren die Autorinnen anhand von drei kategorialen Stilmerkmalen: klassische Formate, affektive Formate und appellierende Formate. Diese sorgen für eine Kontinuität von etablierten Erinnerungsformen an den Holocaust, etwa das gefilmte Zeitzeugeninterview. Gleichzeitig laden sie zur Reflexion der gängigen Repräsentation des visuellen Holocaustgedenkens ein.
Zu (2). Erinnerung und eine geteilte Erinnerungspraxis ist konstituierend und identitätsstiftend für Gemeinschaften (Lohmeier/Böhling 2017; Lohmeier 2014). So ist auch die zweite Dimension – die Vernetzung und Vergemeinschaftung von und im Umgang mit mediatisierten Erinnerungen – keine neuartige, erst durch digitale Medien initialisierte Form des sozialen Umgangs mit Vergangenheit (Connerton 1989; Olick/Robbins 1998). Allerdings zeigt sich gerade auf Plattformen, wie mnemonische Aktivitäten mit der Rekonfiguration von Beziehungsgefügen unter den Bedingungen des ‚vernetzten Individualismus‘ einhergehen (Horsti 2017; Marselis 2017; Menke 2019).
So zeigt Jeannine Teichert in ihrem Beitrag zu Erinnerungspraktiken auf Facebook, wie (vergangene) Freundschaften gesammelt, verwaltet und möglicherweise auch reaktiviert werden. Facebook dient damit nicht nur als Netzwerk für enge Freundschaften und lose Bekanntschaften. Vielmehr wird die Plattform auch als Archiv für vergangene soziale Beziehungen genutzt. Gleichzeitig haben diese digitalisierten Erinnerungen durchaus eine Relevanz für die eigene Erinnerungsarbeit – unabhängig davon, ob sie aktuell als aktive Freundschaften gelebt werden.
Um Vernetzung und Vergemeinschaftung geht es Lucia Santa Cruz bei ihrer Analyse der Facebook-Community Alvorada do Iguaçu – City submerged by Itaipu. Mit einer digitalen Ethnographie arbeitet sie heraus, wie aktiv Erinnerungen in der Gruppe geteilt werden. Mit diesen rückbezüglichen Inhalten dokumentieren die Teilnehmenden zwar keine genuin neuen Erfahrungen, sondern die digitalen Replikate existierender Fotografien, und dennoch werden diese von Facebook als neue Uploads und kommunikative Aktionen registriert und als Status-Updates im Netzwerk vermerkt.
Martin Rehm, Stefania Manca und Susanne Haake fokussieren in ihrem Beitrag auf die Twitter-Nutzung von Holocaust-Museen und Gedenkstätten. Entgegen der potenziell globalen Möglichkeiten von Twitter zeigen sich bei der Analyse ausgewählter Profile von Institutionen in Deutschland und Italien starke länderspezifische Strukturen. Follower*innen kommen meist aus den Ländern, in denen die Gedenkstätte zu verorten ist, während die Möglichkeiten des länderübergreifenden Austausches noch nicht im vollen Umfang genutzt werden.
Zu (3). Die dritte Dimension schließlich – vermehrte Erzeugung und rekursive Nutzung digitaler Daten – ist nicht nur im Kontext kommunikationswissenschaftlicher Erinnerungsforschung beobachtbar (Mau 2017). Es erstaunt daher nicht, dass solche Daten ebenfalls auf unterschiedlichste Weisen für Erinnerungspraktiken herangezogen werden.
Lukas Dehmel und Bianca Burgfeld-Meise zeigen in ihrem Beitrag, welche Rolle Selftracking-Apps bei der individuellen Erinnerungsarbeit spielen. Erinnerungsarbeit wird dabei als prozessuale Verwicklung von Menschen und medial-materiellen Artefakten verstanden. Die Autor*innen konzeptualisieren diese Erinnerungsarbeit vor dem Hintergrund zahlreicher Herausforderungen an das Individuum als eine Form der Bildungsarbeit. In der Fallstudie von Dehmel und Burgfeld-Meise kommt die Ambivalenz von Selftracking-Apps zum Ausdruck: Sie schaffen die Option, datenbasiert das eigene Tun nachträglich zu beobachten und daraus Schlüsse für zukünftiges Handeln zu ziehen. Zugleich dienen sie dazu, die eigene Performanz quantifiziert vergleich- und bewertbar zu machen.
Diesen Umstand greift auch Stefan Selke in seinem als ‚postdisziplinär‘ deklarierten Essay auf. Ausgangpunkt seiner Überlegungen ist die zunehmende Bedeutung von künstlicher Intelligenz, Algorithmen und Plattformen mit Blick auf das Selektieren, Bewerten und Kuratieren von menschlicher Erinnerung. Selke fordert in diesem Zusammenhang eine genauere Betrachtung der Logiken und Werte, die diesen Vorgängen zugrunde liegen. Auch hinterfragt er, ob Effizienz in diesem Zusammenhang die höchste Maxime sein sollte.
Ohne Zweifel werden die Forschung und die Diskussionen um Erinnerung von und mit digitalen Medien uns noch weit über dieses Themenheft begleiten. Wir danken allen Autor*innen für ihre Beträge, den Gutachter*innen für ihre Zeit und das konstruktive Feedback sowie der merzWissenschafts-Redaktion für die professionelle und produktive Zusammenarbeit.
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Christine Lohmeier/Christian Schwarzenegger/Maria Schreiber: Instamemories. Geschichte in digitalen Medien als lebendige Erinnerungskultur jenseits formaler Bildungskontexte
Die Nutzung Sozialer Medien hat die Möglichkeiten der Erinnerung und der Erinnerungskultur verändert. Während es früher vor allem sogenannten ‚memory agents‘ wie Journalist*innen, Autor*innen und Museen möglich war, Erinnerungen an historische Figuren zu verbreiten, zeigt sich nun ein viel breiteres Feld an Akteur*innen. So finden sich auf Facebook, Twitter und Instagram Accounts von historischen Persönlichkeiten, mit diversen Zielen und sehr unterschiedlichen Herangehensweisen und zum Teil unbekannten Initiator*innen. Für den vorliegenden Text werden Accounts historischer Figuren auf Instagram analysiert und typologisiert. Konzeptuell werden die Accounts als Beiträge einer Polyphonie der Erinnerungen eingeordnet. Durch diese Variation mediatisierter Erinnerungen ergeben sich Fragen der Wissensvermittlung in informellen Bildungskontexten und ebenso in Bezug auf ihr Potenzial, das Interesse für Geschichte und Erinnerungsarbeit zu wecken und zu erhalten.
Social media have changed the ways in which we engage with history and memory. While it used to be journalists, authors and museums – the socalled memory agents – who had an impact on what and how people remember individually and collectively, different groups of people can now contribute to mediatized remembering. Some have created accounts of historical figures on Twitter, Facebook and Instagram. These accounts pursue different aims and take a variety of different approaches. We present a typology of historic accounts on Instagram. On a conceptual level, we see these accounts as contributions to a polyphony of memory. While there is great potential in broadening the scope of mediatized remembering, the presented findings also raise questions about conveying history beyond formal education.
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