Prof. Dr. Niklas Luhmann
Beiträge in merz
Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft
Dank TIMSS und PISA ist Bildungspolitik wieder in. Über Nacht sind Bildung und Erziehung zum Megathema aufgestiegen. Das vernichtende Urteil, das die beiden Studien über die Leistungen deutscher Schüler im globalen Vergleich gefällt haben, aber auch der Amoklauf von Erfurt und die ständigen Klagen der Wirtschaft und der Universitäten über Fachkräftemangel oder studierunfähige Studenten haben die Politiker aller Fraktionen aufgeschreckt. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gab ein Regierungschef dazu im Bundestag eine Regierungserklärung ab. Bundeskanzler Schröder räumte dort dem Thema „Bildung“ die höchste Priorität ein und bezeichnete sie als die „soziale Frage des 21. Jahrhunderts“. Vermutlich in Anspielung auf den so genannten „Sputnik-Schock“ vor ca. fünfzig Jahren sagte Schröder: „Wir können es uns nicht leisten, auch nur eine einzige Begabung ungenutzt zu lassen“. Und fast schon im Ton einer Großen Koalition rief der Kanzler die versammelten Volksvertreter zu „einer gemeinsamen Kraftanstrengung“ auf. Vier Milliarden Euro will der Regierungschef in den nächsten vier Jahren aus dem Bundeshaushalt für mehr Kinderbetreuung und Ganztagsschulen locker machen.
Und die Kultusministerkonferenz (KMK) erwägt neben der Einführung national verbindlicher Bildungsstandards und der jährlichen Durchführung zentraler Leistungstests in jeder Jahrgangsstufe auch die Vorverlegung von Bildung und Unterricht in den Kindergarten. Bild 1 alternative Bildunterschrift Bild 2 alternative Bildunterschrift 2 Bild 3 alternative Bildunterschrift 3 Bild 4 alternative Bildunterschrift 4 Bild 5 alternative Bildunterschrift 5 Link 1 Link 2 Link 3 Verweis auf anderen Artikel Verweis auf anderen Artikel 2 Dokument 1 Dokument 2 zugeordnete Adresse Adressenbezeichnung Kommentar Merz Hefte Keine Auswahl2002/04 Titelthema: Medienpädagogik heute - Eine Diskussionsrunde2002/05 Titelthema: Migration und Medien2002/06 Titelthema: Patriotismus2003/01 Titelthema: Actionwelten2003/02 Titelthema: On/Off - Raus aus dem Netz2003/03 Titelthema: Behinderte Menschen und Medien2003/04 Titelthema: Medienpraxis - Konzepte und Perspektiven merz: Thema Keine AuswahlAcDass das mit der Modernisierung des Erziehungs- und Bildungssystems von heute auf morgen alles andere als einfach ist, kann der Leser dem neuen Buch des Soziologen Niklas Luhmann entnehmen, das der Suhrkamp Verlag aus dessen Nachlass veröffentlicht hat. Von der Terminologiemaschinerie, die der Soziologe entfaltet, sollte sich der Leser aber keinesfalls abschrecken lassen. Der Gewinn, den er hat, ist auf alle Fälle größer als die Mühe, die das Lesen macht. Selbstverständlich ist für Luhmann auch das Erziehungssystem Zelle und Teil der modernen, in Funktionen differenzierten Gesellschaft. Für diese hat es bestimmte Aufgaben zu erfüllen, nämlich Begabungen, Talente und Kompetenzen zu entwickeln, auf die andere Systeme später zugreifen können. Wie alle anderen sozialen Systeme (Politik, Wirtschaft, Recht ...) führt auch das Bildungssystem ein „eigenständiges Dasein“.
Es erzeugt, behandelt und löst seine Probleme kommunikativ nach eigenen Regeln, hier nach dem Code: vermittelbar/unvermittelbar. Zwar lässt es sich durch „fachfremde“ Eingriffe von außen, etwa durch die Rechtssprechung von Gerichten, durch gesetzliche Regelungen oder Forderungen der Wirtschaft nach besser ausgebildetem Personal irritieren. Doch verarbeitet und beantwortet es alle diese Forderungen, Absichten und Ziele, die ihm von der Politik, der Wirtschaft, dem Recht oder der Wissenschaft angetragen werden, autonom und in Eigenregie. Da im Inneren jedes sozialen Systems unterschiedliche Traditionen, Gedächtnisse, Rollen, Interessen, Ziele, Zuweisungen, Handlungsabsichten, Motivationen usw. aufeinanderprallen, die gemeinsame Vereinbarungen, Entscheidungen und Regelungen erschweren, funktionieren Kausal?attribuierungen (Schuldzuweisungen) und Lösungsansätze, die an einzelnen Symptomen herumdoktern, in aller Regel nicht. Wegen dieser Kontingenz und Intransparenz, die in jedem sozialen System herrschen, kann eine Maßnahme weitere Maßnahmen mit unerwünschten Nebenfolgen auslösen, die sich dann vielleicht blockieren oder sogar gegenseitig neutralisieren. Erziehungswissenschaftler haben dann oft den Eindruck, dass sich im System nichts bewegt und der Tanker „Bildung und Schule“ sich nur schwer steuern oder lenken lässt. Sie sprechen dann meist von Reformstau oder gar von Reformresistenz, wenn pädagogische Ziele an der „Erziehungswirklichkeit“ scheitern oder eine Entwicklung nehmen, die so nicht beabsichtigt war oder ist. Angehende Lehrer machen diese Erfahrung genauso wie ältere Erzieher.
Bei Berufseinsteigern spricht die Wissenschaft vom so genannten „Praxis-Schock“, bei erfahrenen Lehrkräften hingegen vom „Burn-Out-Syndrom“. Bereits Ende der Siebziger Jahre hatte der Soziologe erziehungsbewegte Pädagogen meist erfolglos auf die Diskrepanzen zwischen ihren proklamierten humanistischen Idealen der Erzieher und den realen Leistungen des Schulsystems (Selektion und Zuteilung) aufmerksam gemacht und dies als „Technologiedefizit der Pädagogik“ bezeichnet. In den gemeinsam mit dem verstorbenen Hamburger Pädagogen Karl-Eberhard Schorr herausgegebenen "Reflexionsproblemen im Erziehungssystem" stellte er bereits der Erziehungswissenschaft eine Soziologie des Lehrplans, der Didaktik und ihrer humanistischen Ziele zur Verfügung, worauf das Fach „defensiv“, wie Luhmann in seiner Einleitung sagt, reagierte. All das kommt im Nachlassband auch vor, sie werden auf den Stand von vor etwa zehn Jahren gebracht und der eigenen „konstruktivistischen Entwicklung“ angepasst. Allerdings werden die Gewichte verschoben und die Blickrichtung neu justiert. Im Zentrum steht nun die Unterrichtssituation. Dort, in der „Interaktion unter Anwesenden“, gerinnen pädagogische Ideale zu gut gemeinten Absichten, zwischen Zweierbänken, Gruppentischen oder Hufeisenform wird getestet, was an der Erziehung bloß „Wille und Vorstellung“ ist und was vom Lehrplan und seiner Didaktik, die Erziehungswissenschaftler im Auftrag des Staates ersinnen, für den Papierkorb produziert worden ist. Hier, im face-to-face von Lehrer und Schüler, trifft der „pädagogische Bezug“ auf den Benotungszwang. Und hier, im Klassenzimmer, werden all jene „Tugenden“ erworben und angewendet, die den Erzieher zur Weißglut treiben und den Bildungszielen der Gutmeinenden diametral zuwiderlaufen: Biopolitik, Disziplinierungen und Schulverweise einerseits, Provokationen, Störaktionen und Unfug treibende Schüler, die das alles genießen, andererseits. „Mit der Ausrichtung von Schulklassen als Systemen der Interaktion unter Anwesenden sind“, so Luhmann, „weittragende Konsequenzen verbunden, die sich aus den Formen des Systembaus der Interaktion ergeben.“
Daran ändern auch „kumpelhafte“ Lehrertypen, ein lockerer Führungsstil oder ein wie auch immer organisierter „partizipativer Unterricht“ nichts. Was Bildungsplaner, Ministerialbeamte und Erzieher für wichtig und unerlässlich halten, müssen Schüler noch lange nicht für wichtig halten. Auch das ständige Hinterherhasten nach zeitgeistigeren Themen und Inhalten, um Schüler dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden, stößt bei Schülern nach kurzer Zeit auf Widerwillen und wird von ihnen meist als gestohlene Lebenszeit oder erpresste Langeweile empfunden. Den Ärger der Schüler darüber muss der Lehrer dann ausbaden, weil er ihnen im Klassenzimmer unmittelbar gegenübersteht. Je nachdem, wie der Lehrer darauf reagiert, ob mit Nachsicht, Milde oder Strenge, wird ihm das von den Schülern als Schwäche oder Stärke ausgelegt. Nur wer sich mit diesen „Wirklichkeiten“, die jeder Unterricht schafft, am besten arrangiert, kann, und davon ist Luhmann überzeugt, in der Schule „überleben“. Das gilt für Lehrer wie für Schüler. Nach Luhmann ist der Unterricht „ein opportunistischer Prozess“. Je mehr er sich danach richtet und Programmen, Didaktiken und Methoden misstraut, „desto besser ist er“. Der Tod Luhmanns hat nun leider dazu geführt, dass ausgerechnet dieses zentrale Moment des Erziehungssystems, das „Interaktionssystem Unterricht“, Fragment geblieben ist. Die Frage: „Welche Schule haben wir?“ müssen darum andere Beobachter beantworten. Doch für bildungssoziologischen Klartext scheint derzeit kein Bedarf zu bestehen. Statt sich um eine nüchterne Analyse zu bemühen und bildungspolitische Schlüsse aus dem Ist-Zustand zu ziehen, widmet man sich in Feuilletons und TV-Talkshows allein der modischen Frage: „Welche Schule wollen wir?“ Und noch etwas ist für den Soziologen verantwortlich, dass gut gemeinte Absichten, Ziele und Pläne im Unterricht wirkungslos verpuffen: die Person des Schülers. Die kybernetische Unterrichtswissenschaft hat ihn darum einst als „Störgröße“ bezeichnet. Er, um seinetwillen Lernfabriken gebaut und Computer angeschafft werden, Unterricht organisiert wird und Lehrer ein Hochschulstudium absolvieren, ist die große Unbekannte des Erziehungssystems. Den Schüler kann man höchstens irritieren oder bestenfalls anleiten, dass er gefährliche Dinge unterlässt. Steuern und fernlenken kann man ihn aber nicht. Er bleibt letztlich eine eigensinnige, nicht-triviale Maschine, dessen Verhalten und Handeln sich weder eindeutig voraussagen noch determinieren lässt. Und doch behandeln ihn Erziehungswissenschaftler und Pädagogen als ob er das wäre, eine triviale Maschine, die richtige Antworten ausspuckt, wenn man sie mit entsprechenden Fragen füttert. Sie behaupten über Bildungsstandards, Leistungsniveaus und Maßstäbe richtigen Wissens und Verhaltens zu verfügen, die der Adressat des Bildungsprozesses zu erwerben hat. Sagt der Schüler dann aber Unsinniges und Falsches oder zeigt er sich als unbelehrbar und renitent, muss er entweder gefördert oder therapiert und, im schlimmsten Fall, repariert werden.
Weil das so ist und Erzieher darum wissen, laufen sie meist mit schlechtem Gewissen herum. Sie geben sich häufig die Schuld am Versagen ihrer Zöglinge und erfinden deshalb ständig neue Programme, Techniken und Methoden: Freiarbeit, fächerübergreifenden Unterricht, schülerorientiertes Lernen usw., um dann, wenn es um Abgleichung der Leistungen mit den aufgestellten Bildungszielen geht, erneut auf ebendiese Form der Trivialisierung zu verfallen. Schließlich sollen am Ende, nachdem Grundwerte und Gedichte, Rechtschreibregeln oder physikalische Formeln gepaukt und eingeübt worden sind, wohlgeformte, vielseitig einsetzbare und friedliche Jungerwachsene die Schule verlassen.Vom Unterricht geplagte und durch Bildungspläne verunsicherte Erzieher und Lehrer werden bei Niklas Luhmann Trost finden. Sein kühler und distanzierter Blick ermöglicht allen, die über manchem, das in der Schule vorkommt, in Depression verfallen, Abstand zu gewinnen und scheinbar Undurchschaubares, Widerständiges und Paradoxales, das sie ansonsten geneigt sind, unbekannten oder höheren Mächten zuzuweisen, überhaupt erst einmal zu durchschauen. Andererseits werden Beobachter wie Betroffene viel gelassener auf all jene Reformvorschläge reagieren, die gerade jetzt wieder die Runde machen. Auch nach dem Sputnik-Schock berief man eine Bildungskommission ein, den „Deutschen Bildungsrat“, der eine neue Lehr- und Forschungspraxis und Unterrichtskultur angeleiert hat. Die bildungs- und schulsoziologischen Ruinen, die jener bildungspolitische Aufbruch damals und die Bildungsreformen der 68er Generation hinterlassen haben, reflektiert das Buch. Freundlich fällt der Befund für die Bildungsreformer und -planer nicht gerade aus. Zu vermuten, dass nach PISA alles viel anders und besser würde, ist darum höchst vermessen. Denn statt Schule und Unterricht auf sein Kerngeschäft zurückzufahren, nämlich die Entwicklung des Denkens, Bewertens und Urteilens sowie die Entdeckung und Förderung von Talenten, Begabungen und Fertigkeiten, werden den Bildungseinrichtungen immer neue und zusätzliche Aufgaben und Funktionen aufgebürdet und zugemutet. Forderungen wie sie die bayerische Kultusministerin Monika Hohlmeier beispielsweise unmittelbar nach Erfurt und PISA erhoben hat, nämlich einen Erziehungspakt zwischen Lehrern, Psychologen und Eltern zu schließen, erweisen sich in der Praxis als wenig hilfreich.
Die Gemeinsamkeiten sind meist erschöpft, wenn der Sprössling den höheren Bildungsweg einschlagen soll. Lehrer, die dann Engagement zeigen und einen für das Kind „anspruchsloseren Lernweg“ empfehlen, werden dann, wenn diese davon abraten oder mit ihrer Notengebung dem Streben der Eltern nach „Höherem“ buchstäblich im Wege stehen, gern zum Gegner oder Feind. Ein Großteil des jetzigen bildungspolitischen Dilemmas besteht ja darin, dass über ein Drittel der Schülerschaft im falschen Bildungszweig „sitzt“ und mit den dortigen Anforderungen schlichtweg überfordert ist. Den Mut, dies laut auszusprechen, hat aber niemand. Begabungen sind eben höchst unterschiedlich verteilt, aus einem Trabi will, so sehr man ihn auch frisiert und tunt, partout kein Porsche werden. Und aus einem x-beliebigen Autofahrer, wie sehr man ihn auch fördert und trainiert, wird auch kein Michael Schuhmacher. Schlimmer noch: In der globalen Mediengesellschaft wächst der Anteil förderungsresistenter Schüler (Analpabetentum) von Jahr zu Jahr. Bei ihnen wird der Code des Erziehungssystems: vermittelbar/unvermittelbar unmittelbar konkret und praktisch. Da kann der Staat noch so viel Geld und Fördermittel in Förderunterricht und zusätzliche Lehrstunden pumpen. Und weil diese Bildungswüste wächst, der Wunsch nach superschlauen Kids extrem der Schulrealität und Erziehungspraxis hinterherhinkt, gehört nicht viel Fantasie dazu, das Scheitern der angekündigten Bildungsanstrengungen zu prognostizieren.
Auch die geplante Einführung zentraler Leistungs- und Bildungstests wird keinem Schüler mehr Bildung und Erziehung bringen. Sie wird höchstens dazu führen, dass die Schulakte jedes einzelnen Schülers um einiges dicker wird und Unlust und Frustrationen unter Lehrern, Schülern und Eltern weiter ansteigen werden.Gleichwohl muss man feststellen, dass Luhmanns Werk auf dem wissenstheoretischen Stand Anfang der Neunzigerjahre verbleibt. Sein Tod hat eine weitere Ausarbeitung und Updatung des Buches auf den neuesten Stand der Forschung verunmöglicht. Daraus den Schluss zu ziehen, dass es zu den aktuellen Verhältnissen und Problemen nicht mehr viel beitragen könnte, wäre aber verkehrt. Im Gegenteil: Schon allein aufgrund seiner abgeklärten Betrachtungsweise ist das Buch in der Lage, das vertraute Weltwissen von Lehrern, Reformern und Erziehungswissenschaftlern nachhaltig zu stören. Auch nach dieser Lektüre betrachtet der Beobachter die Welt, diesmal das Bildungssystem, mit einem anderen Blick. Was kann man von einem Buch mehr erwarten.