Manfred Mai
Beiträge in merz
Manfred Mai: Traditionelle Prämissen und neue Medienwelt
Die deutsche Mediengesetzgebung beruht auf den Konsequenzen, die die damaligen Besatzungsmächte für eine Neuordnung des Rundfunks ziehen wollten. Als Strukturprinzipien wurden Föderalismus, Staatsferne und Binnenpluralismus festgeschrieben. In dem Beitrag sollen traditionelle Prämissen des deutschen Rundfunksystems vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Struktur des Mediensystems reflektiert werden. Droht überhaupt noch die Gefahr eines Missbrauchs durch eine Partei, wenn es Hunderte von Kanälen im WWW gibt und sich die Produktions- sowie Rezeptionsgewohnheiten radikal geändert haben?
The Media Law in Germany is a consequence of the lessons learnt in order to rebuild a new broadcasting system after World War II. Pluralism, federalism and the distance to the state were the leading principles, which will be reflected in this article: Are they still relevant in the digital world with thousands of channels, networks, and active users, which no longer were only victims of manipulation? Is there still a danger of manipulation by a single actor or a single party?
Literatur
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Manfred Mai: Die Gesellschaft im Film
Filme als Kunstwerke
Es gibt bisher keine befriedigende Antwort auf die Frage, wie das Gesellschaftliche in den Film gelangt. Als Kunstwerke sind Filme nicht einfach ein Abbild der Realität, die sich gleichwohl verfremdet in ihnen findet. 1 Ihre Dechiffrierung ist immer eine Rekonstruktion und niemals eindeutig. Kunstwerke und damit auch Filme haben ihre eigene Realität, die sich von der gesellschaftlichen unterscheidet. An der Schnittstelle von Gesellschaft und Kunstwerk stehen die Künstler und Filmemacher. Durch ihre Vermittlung gelangen die gesellschaftlichen Krisen, Widersprüche und Stimmungen in den Film.
Die materialistische Ästhetik, die in jedem Ornament die Widerspiegelung der historisch-konkreten Realität zu erkennen glaubt (Balet/Gerhard 1973), scheint in einigen Filmtheorien modifiziert fortzuleben, wobei heute die Globalisierung, die Vereinzelung des Menschen oder der Geschlechterkampf die Rolle der Klassenkämpfe in den marxistischen Kunsttheorien eingenommen haben. Die materielle ‚Basis’ ist zwar in den gegenwärtigen Filmtheorien (Albersmeier 2001) eine andere, aber die Sublimierung der gesellschaftlichen Strukturen wird im ‚Überbau’ des Films durchaus ähnlich konstruiert. So gelten Filme irgendwie als Belege für eine Gesellschaft, die es aber außerhalb filmtheoretischer Diskurse nicht gibt.
Die „Kritische Theorie“ (Herbert Marcuse 19772 und Theodor Adorno 1974) hat im Unterschied zur materialistischen Widerspiegelungsthese aber auch in Abgrenzung von ‚bürgerlichen’ Theorien die Kunst wesentlich an ihrer Form festgemacht. Erst durch die Form sei das Kunstwerk revolutionär und nicht durch seinen manifesten Inhalt. 3 Die Fragen des Verhältnisses von Form und Inhalt sowie von filmischer und gesellschaftlicher Realität werden von den modernen Filmtheorien kaum beantwortet. ‚Irgendwie’ wird dennoch ein enges Verhältnis unterstellt etwa wenn bestimmte US-Filmproduktionen ein Spiegelbild der McCarthy-Ära seien (wie die Filme der Schwarzen Serie) oder (etwa Starwars) für die Reagen-Administration.
Die in vielen Filmtheorien enthaltenen Aussagen über die gesellschaftliche Wirkung von Filmen, die teilweise bis in die individuelle und kollektive Psyche der Zuschauer und Zuschauerinnen verlängert wird (Blothner 1999), sind ebenso spekulativ wie die Wirkung filmtheoretischer Diskurse auf die reale Politik. So haben etwa die Diskurse über die ‚politische’ Relevanz der Formsprache der Nouvelle Vague mit Politik im eigentlichen Sinn – der Wettbewerb um Macht und Ämter, die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen – nichts zu tun.4 In den Film- und Kulturwissenschaften wird zudem fast nie die Frage nach der Legitimität von Macht gestellt oder die Frage, ob jegliche gesellschaftliche Ordnung repressiv ist. Selbst in den elaboriertesten Filmtheorien findet sich ein Verständnis von Staat, Herrschaft und Macht, an dem die Diskurse der politischen Philosophie seit Hobbes, Locke, Tocqueville unter anderem spurlos vorbei gegangen sind oder nur durch die Brille französischer Philosophen (Althusser, Lacan, Foucault) gesehen wird, bei denen sich Macht auf Unterdrückung und Herrschaft auf Repression reimt – als gebe es keinen Unterschied zwischen Warlords und jederzeit wieder abwählbaren Regierungen.
Filme können politische Wirkungen haben und eine bestimmte Filmpolitik kann Einfluss auf die Qualität von Filmen haben. Wegen des fehlenden Kausalzusammenhangs zwischen Film und Politik kann keine Theorie erklären, warum die erwartete Wirkung ausbleibt: Selten haben ‚revolutionäre’ Filme Einfluss auf die politischen Strukturen und eine noch so gut gemeinte Filmpolitik schafft nicht die Filme, die sie schaffen wollte. Das ‚Revolutionäre’ von Filmen ist weitgehend auf die Bild- und Formensprache beschränkt, deren Decodierung nur Experten möglich ist. Das beweist unter anderem, dass der „produktive Zuschauer“ und daher seine unerwarteten Reaktionen die Regel sind (Winter 1995; Thompson 2001, S. 425).
Wie alle Kunstwerke sind Filme ein Zugang zur Erkenntnis über die Gesellschaft, die niemals Objektivität beanspruchen, aber zum Beispiel sozialwissenschaftlichen Methoden an Anschauung überlegen sein können. Filme können nur subjektiv sein. Auch andere Kunstwerke wägen nicht zwischen mehreren Positionen ab. Gerade dadurch können sie zur Erkenntnis und Reflexion über die Gesellschaft beitragen. Der Film City of God sagt beispielsweise mehr über das Thema Jugendkriminalität, Armut und Gewalt als jede objektive Statistik. Weder Widerspiegelungstheorien noch Theorien, die das Kunstwerk als einmaligen und nicht reduzierbaren Schöpfungsakt eines Einzelnen sehen, können die Frage der Vermittlung zwischen filmischer und gesellschaftlicher Realität klären. Hilfreich erscheint dagegen der Blick auf den Entstehungskontext von Filmen. Filme entstehen weder im Auftrag anonymer Mächte noch aus reinem künstlerischem Antrieb eines Einzelnen. Wenn sich in manchen (europäischen) Filmen etwas spiegelt, dann sind das die finanziellen Möglichkeiten ihrer Produzenten oder die Maßstäbe der Gremien, die über ihre Förderung entscheiden.
Zwischen den Strukturen des Films und denen der Gesellschaft gibt es keine bloße Analogie, was viele Filmtheoretiker nicht daran hindert, solche zu unterstellen. In Wirklichkeit sind es spekulative Projektionen auf der Basis ausgesuchter Filme, die sich scheinbar besonders dafür eignen, jeweils den Charakterzug der Gesellschaft zu belegen, den man beweisen will – sei es die Repression, die Individualisierung oder die strukturelle Gewalt. Ungeklärt bleibt bei dieser Methode unter anderem, warum sich in jeder Epoche immer auch andere Filme finden, die das genaue Gegenteil beweisen, da mehrere Stile, Genres und Stoffe gleichzeitig nebeneinander existieren und damit die Frage, was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt typisch war, in der Moderne nicht mehr zu beantworten ist. Im gegenwärtigen Filmangebot spiegelt sich allenfalls die Vielfalt der Zielgruppen und Sichtweisen pluralistischer und multikultureller Gesellschaften.
Filme als Kulturkitt des gesellschaftlichen Zusammenhalts
Filme als Kulturkitt des gesellschaftlichen Zusammenhalts
Mit der Einführung des privaten Fernsehens 1984 entstand ein Bedarf an Filmen und anderen Formaten, der der Filmwirtschaft zu einer neuen Blüte verholfen hat (Seufert 1999). Die Produktion von Spielfilmen der zusammenwachsenden Film- und Fernsehwirtschaft wurde durch die in den 1990er Jahren gegründeten regionalen Filmförderungsinstitutionen der Länder zunehmend gefördert. Mit dem Aufbau der regionalen Filmstiftungen verlor die Förderung des Bundes für die Filmwirtschaft an Bedeutung. In den Filmstiftungen der Länder sind neben den jeweiligen Landesregierungen auch private und öffentlich-rechtliche TV-Anstalten Gesellschafter. Weil die Produzenten mit einer mehrstufigen Verwertungskette kalkulieren, gibt es immer weniger echte Spielfilme. Im Vordergrund stehen die Bedürfnisse des Fernsehens an bestimmten Stoffen. Mit dem Internet und der DVD sind weitere Kanäle für die Verbreitung von Filmen entstanden. Ähnlich wie die Musikindustrie beklagt auch die Filmbranche durch Raubkopien Verluste. Dennoch ist die Integration der Filmproduktion in multimediale Verwertungsketten für die Filmwirtschaft eher ein Erfolg. Ohne die ständige Zulieferung mit Inhalten wie Musik oder Filme macht die Infrastruktur von Kabelnetzen, Satelliten und Spielkonsolen wenig Sinn. Unterhaltung ist in einer Freizeitgesellschaft die killer application für informationstechnische Innovationen.
Allein deshalb, weil weltweit die gleichen Blockbuster in die Kinos kommen, sind sie gesellschaftlich relevant. In fast allen Ländern sind die Stars und Storys dieser Blockbuster von James Bond bis Harry Potter bekannt und bieten einen Themenvorrat für Alltagsgespräche. Dadurch festigen Filme den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Gerade wegen ihrer kommerziellen Orientierung streben die Produzenten der Blockbuster ein möglichst breites Publikum an und berücksichtigen bereits bei der Produktion kulturelle Besonderheiten potenzieller Zuschauer. „Immer deutlicher wird erkannt, dass die Beachtung ‚interkultureller Fairness’, das Respektieren der Lebenswelt und die Schaffung von Räumen für positive Freiheiten unterschiedlicher Anspruchsgruppen nicht nur ethisch geboten, sondern auch unternehmensstrategisch von Relevanz ist.“ (Neuner/Sandhu 2005, S. 209) Fast alle dieser Blockbuster vermitteln auch Werthaltungen und bilden somit einen Maßstab für die Menschen anderer Kulturkreise. Viele Kulturen, in denen dieser Lebensstil verpönt ist, sehen im Konsum dieser Filme die Gefahr der Entfremdung von den eigenen Wurzeln.
Früher waren die jeweilige Nationalgeschichte, ihre Mythen und Symbole wichtige Quellen für die kulturelle Identität, die in den Schulen sowie durch die Praxis der Traditionspflege vermittelt wurde. Kollektive Identität war immer auch Abgrenzung der eigenen gegenüber anderen Kulturen. Heute orientieren sich vor allem Jugendliche in allen Ländern dagegen eher an der internationalen Popkultur, die damit die eigentliche „Leitkultur“ in der modernen Gesellschaft ist. Sie ist es auch, die weite Teile einer Generation über alle Grenzen hinweg zusammenführt (Neumann-Braun/Schmidt/Mai 2003). Über Popsongs und Filme kann man mit Jugendlichen in der ganzen Welt reden. Dennoch gibt es in jedem Land einen Fundus an Filmen, der für seine Geschichte eine besondere Rolle spielt. Was früher die Nationalepen waren, sind heute teilweise Filme. Sie haben im kollektiven Gedächtnis die historischen Gedenktage größtenteils verdrängt (Reinhardt/Jäckel 2005). Filme als Teil der unterschiedlichen Kulturen in Europa zu bewahren, ist eines der Ziele der europäischen Filmpolitik. Filme wie Rosen für den Staatsanwalt, Die Ehe der Maria Braun, Good Bye, Lenin und andere sind im kollektiven Gedächtnis der Deutschen mehr verankert als nationale Gedenktage oder literarische Klassiker, weil sie im Unterschied zu inszenierten Erinnerungen an Gedenktage das Lebensgefühl einer Generation treffen und ihm Ausdruck verleihen können. Sie haben darüber hinaus Diskurse über typisch deutsche Probleme – Wiederaufstieg der Nazis im Nachkriegsdeutschland, Heimkehrer, Wiedervereinigung – angeregt und sind damit auch politische Filme.
Die gesellschaftliche Funktion des Films ist schon früh von der Soziologie erkannt worden (Prokop 1982; Winter 1992). Die in der Tradition der „Frankfurter Schule“ stehende Kulturkritik (Horkheimer/Adorno 1979) sieht in den Medien nur die Bewusstseinsindustrie, die den Menschen falsche Bedürfnisse suggeriert. Auch ohne Bezug auf diese Theorietradition wird in den Filmtheorien aus dem Umkreis der cultural studies ein ähnlicher Zusammenhang unterstellt. Mehr noch als bei der „Frankfurter Schule“, die immerhin noch Ross und Reiter – den Kapitalismus und seine Sachwalter im politischen System – nannte, bleiben in den cultural studies die Akteure weitgehend abstrakte Mächte: Wer hinter der dominanten Lesart welcher ‚Texte’ mit welchen ‚Codierungen’ mit welchen Absichten steckt, bleibt offen und ob die aktiven Rezipienten eher emanzipatorische Lesarten entwickeln oder eher rechtspopulistische muss angesichts des Erstarkens rechter Bewegungen fraglich bleiben.5 Die Autoren im Umkreis zum Beispiel von Stuart Hall aber auch von Michel Foucault und Antonio Gramsci wähnen im Film und im Fernsehen eine „dominant-hegemoniale Macht“ (Nestler 2006, S. 303) im Spiel, die es durch „widerständige Diskurse“ zu dekonstruieren gelte. Vieles wird eher angedeutet als belegt. Wie abwegig die Vorstellung ist, dass kritische Diskurse einen Wechsel der bestehenden Macht- und damit auch Sinnstrukturen bewirken, zeigt ein Blick in die Geschichte: Revolutionäre Umwälzungen waren in der Regel die Folge von Kriegen oder innenpolitischer Kämpfe konkurrierender Gruppen um die Macht (Tilly 1999). Von der Politik tolerierte kritische Diskurse können aber auch die Liberalität des bekämpften Systems belegen und – Herbert Marcuse (1973) prägte dafür den Begriff „repressive Toleranz“ – eben dadurch stützen.6 Der Hinweis darauf, dass beispielsweise die europäische Filmproduktion größtenteils in der Hand öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten, pluralistisch kontrollierter Filmfördereinrichtungen auf allen politischen Ebenen von der EU bis zum kommunalen Kino liegt, dürfte die Anhänger von Verschwörungstheorien nicht überzeugen.7
Künstlerische Autonomie und Filmpolitik
Die Gründe, warum die Filmpolitik (Saul 1984; Mai 2001) und die Filmwirtschaft häufig ihre Ziele verfehlen, liegen in der Unkalkulierbarkeit der Publikumsgunst und im künstlerischen Kern jeder Filmproduktion, die trotz aller Industrialisierung und Technisierung von den kreativen Potenzialen seiner Akteure lebt.8 Der kreative Umgang mit Stoffen, Erzählstrukturen, Traditionen und Fantasien macht Filme zu einem sperrigen Objekt für andere Ziele. Nicht nur Produzenten und Studios steht dieser Eigensinn des Filmschaffens oft entgegen, sondern auch der Politik. In demokratischen Systemen können sich die Autonomie der Kunst und der Medien auf die Verfassung berufen. In totalitären Systemen sind die Kunst und die Filmpolitik in den Dienst der Propaganda gestellt. Aber es gibt auch in solchen Regimen nicht selten eine Subkultur, die sich der totalen Kontrolle entziehen kann (Barabanow 1996).
Der Film braucht Freiräume, um sich zu entfalten. Die Konzeption einer eigenständigen Sphäre des „interesselosen Wohlgefallens“ (Kant) führte im 19. Jahrhundert zu einer „Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Kultur. (...) Der einzige Beitrag des Staates zur Kultur lag dann in der Abstinenz von jeder kulturellen Be-tätigung.“ (Grimm 1987, S. 110) Eine der wichtigsten Interessen der Kunst ist die Wahrung ihrer Autonomie (von Beyme 2002). In demokratisch verfassten Staaten wird die Autonomie von Kunst und Kultur von der Verfassung garantiert. „Die Grundrechte erkennen damit eine dem jeweiligen Kulturbereich innewohnende Eigengesetzlichkeit an, die sich nur unter Autonomiebedingungen entfalten kann.“ (Grimm 1987, S. 130) Filmkultur braucht nichts notwendiger als diese politisch-rechtliche Garantie. Darüber zu reflektieren ist nicht unbedingt die Aufgabe von Filmemachern, wohl aber die von Theorien über den Film, wenn sie beanspruchen, Gesellschaft und Film irgendwie zusammenzudenken.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass es zwischen Filmen und Gesellschaft mehrere Ebenen und Wechselbeziehungen gibt, die sich nicht auf einen einheitlichen theoretischen Nenner bringen lassen. Auch die Filmsoziologie, die Rezeptionsforschung und nicht zuletzt auch einzelne Beiträge der cultural studies können dazu konstruktive Beiträge liefern. Die in der Filmwissenschaft verbreiteten kulturwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Ansätze greifen dagegen vielfach zu kurz, da sie im Grunde kein differenziertes Verständnis für das Gesellschaftliche und das Politische haben.
Anmerkungen
1 Nichts zeigt dieses Missverständnis mehr als die bei Filmen mit zeitgeschichtlichen Themen geführten Debatten darüber, „ob sich die Macher auch in allem an die Fakten gehalten haben. (...) Die einst als ganz selbstverständlich akzeptierte Tatsache, dass Filme schon ihrer Natur nach subjektiv und interpretierend umgehen, tritt in dieser Debatte ganz in den Hintergrund.“ (Everschor 2002, S. 27 f)
2 „Als autonomes Werk, und nur als solches, erhält das Werk politische Relevanz. Seine Wahrheit, Stimmigkeit, Schönheit sind ihm immanente Qualitäten der ästhetischen Form. Als immanente negieren sie die Qualitäten der repressiven Gesellschaft: deren Qualität des Lebens, der Arbeit, der Liebe.“ (Marcuse 1977, S. 58) „Erst durch die Form werden Werke zu einem Für-sich-Seienden mit eigener Rationalität.“ (Paetzold 1974, S. 42)
3 Zur Kontroverse über den Charakter der Kunst als Widerspiegelung sozialer Verhältnisse und insbesondere den Streit zwischen Theodor Adorno und George Lukács vgl. Bürger 1974, S. 117.
4 Fast scheint es, als habe gerade die Abwesenheit von Godard eine bemerkenswerte politische Wirkung gezeitigt: „Kein Film von ihm kam ins Kino (der DDR – M. M.). Ist es ein Wunder, dass dieser Staat DDR später so sang- und klanglos zusammenbrach?“ (Hanisch 2002, S. N3)
5 Die Autoren der cultural studies sind keineswegs eine homogene Gruppe und sie können deshalb nicht über einen Kamm geschert werden. Sie haben mit ihrer Orientierung an ethnografischen Methoden vor allem das traditionelle Paradigma der Medienrezeptionsforschung herausgefordert und erweitert (Jäckel/Peter 1997). Hier soll nur der Aspekt ihrer Konstruktion des Politischen und Gesellschaftlichen betrachtet werden.
6 Linke Autoren wie Todd Gitlin werfen den cultural studies vor, das Geschäft ihrer Gegner zu betreiben: "Man beansprucht, hundertprozentig für die Menschen gegen den Kapitalismus einzutreten, und endet als Echo der Kapitallogik. (…) Gönnerhaft von ‚Widerstand’ zu reden, gestattet eine gewisse Schludrigkeit des Denkens.
Man bleibt ‚links’, ohne sich den äußerst schwierigen Fragen der politischen Selbstdefinition stellen zu müssen". (Gitlin 1999, S. 351)
7 Die Entscheidungen über die Förderung von Filmprojekten liegen etwa in den Filmförderungsinstitutionen der Länder bei Förderausschüssen, die sich aus Vertretern der Zivilgesellschaft, der Kultur und der Gesellschafter zusammensetzen. Dies zeigt, dass die Kritik an "dominanten Lesarten" einer hegemonialen Kultur, die sich in den Filmen zeige, zu pauschal ist. Es wäre absurd, den Mitgliedern der Filmförderungsgremien andere Absichten zu unterstellen, als gute Filme der heimischen Filmwirtschaft zu fördern, die eine Chance auf ein großes Publikum haben.
8 Bei der Herstellung etwa eines Autos oder beim Bau einer Brücke wäre es unvorstellbar, dass die beteiligten Techniker oder Facharbeiter ihre jeweilige Rolle ‚interpretieren’. Anders beim Film: Fast jeder der am Herstellungsprozess beteiligten Schauspieler und Schauspielerinnen, Kameraleute oder Cutter versteht sich und seine Arbeit als kreativ. Schon der Austausch einer einzigen Schauspielerin oder eines Drehbuchassistenten macht das Ergebnis kontingent.
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