Dr. Georg Materna
- Wissenschaftlicher Mitarbeiter am JFF - Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis
Beiträge in merz
Georg Materna: Radikalisierung im Netz?
Extremismus und Radikalisierung sind alte Phänomene, jedoch stellen sie die Medienpädagogik gegenwärtig vor neue Herausforderungen. Besonders offensichtlich wird dies in Bezug auf das Internet, wo extremistische Gruppen ihre Propaganda unzensiert publik machen können. Forschung zu dieser Entwicklung gibt es jedoch erst seit wenigen Jahren. Zu den Pionieren in diesem Kontext gehören die Professoren Diana Rieger (Mannheim), Gary Bente und Hans-Joachim Roth (Köln), die im Februar zur Konferenz Multidisciplinary Perspectives on Radicalisation, New Media and Education nach Köln einluden. Ihrer Einladung folgten Praktikerinnen und Praktiker der Radikalisierungsprävention sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen.
Drei Schwerpunkte der Konferenz lassen sich festhalten:
(1) Es entstehen gegenwärtig eine Reihe von Konzepten zur Extremismusprävention: Bei jugendschutz.net, dem Deutsches Jugendinstitut (Hohnstein/ Herding), in der Würzburger Schulpädagogik (Grafe/Seyferth- Zapf), bei meettolerance.eu oder im CONTRA-Projekt von Rieger et al.
(2) Mehrere Projekte versuchen, den Absichten, der Ästhetik und Argumentationslogik extremistischer Propaganda nahezukommen: „Dschihadismus im Internet“ (Mainz) und „Radikalisierung im digitalen Zeitalter“ (KFN, Hannover).
(3) Repräsentative Ergebnisse darüber, wo Jugendliche medial mit Extremismus in Kontakt kommen und wie sie damit umgehen. Hierzu werden zwei Projekte zeitnah publizieren: Extremismus in sozialen Medien (München) und X-Sonar: Extremistische Bestrebungen in Social Media Netzwerken (Münster u. a.).
Die Konferenz verdeutlichte, dass dem Internet ein wichtiger Stellenwert in Radikalisierungsprozessen zukommt. Erfolgreiche Präventionsarbeit braucht, wie es Uwe Kemmesies (BKA) ausdrückte, eine „Onff- Line-Strategie“. Denn Radikalisierung erfolgt nicht on- oder offline, sondern im Zusammenspiel beider „Lebenswelten“ – und damit in einem Feld, auf das sich die Medienpädagogik seit Jahrzehnten konzentriert.
Georg Materna: "Lasset uns in sha'a Allah ein Plan machen"
Kiefer, Michael/Hüttermann, Jörg/Dziri, Bacem/Ceylan, Rauf/Roth, Viktoria/Srowig, Fabian/Zick, Andreas (2018). „Lasset uns in sha'a Allah ein Plan machen“. Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer WhatsApp- Gruppe. Wiesbaden: Springer VS., 152 S., 26,99 €.
In pluralen Gesellschaften bilden sich regelmäßig radikale Gruppen, die die bestehende Ordnung mit Gewalt in Frage stellen wollen. Die internen Diskurse dieser Gruppen sowie ihre Radikalisierung nachzuvollziehen, ist für die Wissenschaft aufgrund fehlender empirischer Daten zumeist eine schwere Aufgabe. Das Buch von Kiefer et al. gehört in diesem Kontext zu einer begrüßenswerten Ausnahme. Kiefer et al. lag das Chat-Protokoll (5.757 Postings) der neo-salafistischen WhatsApp-Gruppe „Ansaar Al Khilifat Al Islamiyya“ (Helfer des islamischen Kalifats) vor, die zur Vorbereitung eines Anschlags gegründet wurde, der 2016 drei Menschen zum Teil schwer verletzte. Die Analyse von Kiefer et al. ist auf die Online-Kommunikation der Jugendlichen beschränkt, bietet aber aus medienpädagogischer Sicht einen spannenden Einblick in die Radikalisierungsdynamiken eines medialen Sozialraumes.
Kapitel 1 ist eine religionssoziologische Hinführung von Rauf Ceylan. Ceylan stellt die „Helfer des islamische Staates“ in den historischen Kontext und führt Konzepte wie takfīr ein, mit dem frühislamische Splittergruppen ihre Glaubensbrüder und -schwester zu tötungswürdigen Ungläubigen (kuffār) erklärten. Als zeitnahe Vorgänger der Neo-Salafisten nennt Ceylan muslimische Gelehrte, die am Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Kolonialisierung muslimischer Länder durch christliche Besatzer konfrontiert waren. Erneuerung erhofften sich diese Gelehrten in einer Rückbesinnung auf die frommen Altvorderen (as-salaf aṣ-ṣāliḥ).
Ceylan betont jedoch, dass neo-salafistische Gruppen nur durch gebrochene Traditionslinien mit salafistischen Gelehrten in Verbindung gebracht werden können. Vielmehr als islamischen Vorgängern seien neo-salafistische Gruppen modernen Jugendbewegungen ähnlich. Obwohl sie einen islamischen Anspruch proklamieren, basieren neo-salafistische Gruppen nicht auf theologischer Gelehrsamkeit. Vielmehr geht es ihnen um individuelle Emanzipation, die mit religiöser und kultureller Freisetzung parallel verläuft und im Resultat auf Selbsterhöhung abzielt.
Bacem Dziri und Michael Kiefer elaborieren diesen Befund im 2. Kapitel, indem sie die theologischen Diskussionen der Jugendlichen vor einen islamwissenschaftlichen Hintergrund stellen. Dziri/Kiefer behandeln zum Beispiel Fragstellungen nach Arabisch- und Korankenntnissen oder der Meinungsbildung bei rechtlichen Fragen. Je weiter ihre Analyse voranschreitet, desto weniger überrascht die Schlussfolgerung, dass sich die neo-salafistischen Jugendlichen einen „Gruppenkult“ konstruieren, der nach dem „Lego-Baustein-Prinzip“ funktioniert (S. 57). Sie basteln „ihren Islam“ zusammen, wie er ihnen gefällt.
In Kapitel 3 vertiefen Andreas Zick, Viktoria Roth und Fabian Srowig diese Analyse, indem sie herausarbeiten, welche jugendspezifischen Elemente sich in der Online-Radikalisierung zeigen. Sie betrachten die „Helfer des islamischen Staates“ als männerbündische Gleichaltrigengruppe, die ihre jugendliche Sinn- und Identitätssuche mit einer Gemeinschaft und Selbstbewusstsein versprechenden radikalen Ideologie verbindet (S. 63 ff.). Ausgehend von dieser Beschreibung stellen sie heraus, wie sich die Gruppe nach außen abgrenzt oder welche populärkulturellen Jugendelemente in der Kommunikation enthalten sind. Die in diesem Kapitel zitierten Chat-Beiträge nähern sich am eindrücklichsten der Lebenswelt der jungen Neo-Salafisten, zum Beispiel wenn sie über Video-Spiele, Gangsta-Rap oder die Sehnsucht nach Beziehungen zum anderen Geschlecht diskutieren und ihre Gespräche nur durch wiederholte, gegenseitige Ermahnungen erneut auf notwendige Anschlagsvorbereitungen fokussieren können.
Auf die Soziologik dieser Radikalisierungsdynamiken geht Jörg Hüttermann in Kapitel 4 ein, das die neo-salafistische Chat-Gruppe mit dem Naqshbandiyya-Orden vergleicht. Hüttermann stellt beide Gruppen in den Kontext einer entzauberten und individualisierten Welt, in der Jugendliche lernen müssen, mit Sinnverlust und Beliebigkeit umzugehen. In diesem Kontext entsteht eine Sehnsucht nach identitätsstiftender Ursprünglichkeit, argumentiert Hüttermann. Die neo-salafistische Lösung des Problems besteht in einer Selbstreinigung, das heißt in der Vernichtung äußerer Einflüsse. Die Abwertung anderer Muslime (takfīr) wird hier zum zentralen Moment der individuellen Reinigung von schädlichen Einflüssen.
Die gereinigte Selbsterhöhung ließ sich im Fall der neo-salafistischen Jugendgruppe jedoch nur im geschlossenen Chatraum aufrechterhalten. Im „Offline-Leben“ wuchs hingegen der Drang zur radikalen, gewaltsamen Tat (132 ff.). Aus medienpädagogischer Sicht ist Hüttermanns Darstellung interessant, weil sie darauf hindeutet, wie die Aneignung medialer Sozialräume für radikale Zwecke funktionalisiert werden kann. Die jungen Neo-Salafisten lebten ihre Gemeinschaft online, konnten diese aber offline niemals auf dieselbe Weise verwirklichen. Nach Hüttermann ergab sich aus dieser Diskrepanz ein Handlungsdruck, der zur Durchführung des Anschlags beitrug.
Im resümierenden Schlusskapitel betonen Kiefer et al., dass sich die neo-salafistische Chat-Gruppe am besten nicht als Muslime, sondern als Kinder der Moderne verstehen lässt. Die Jugendlichen setzen sich mehr mit der pluralen Moderne und ihren Herausforderungen als mit dem Islam auseinander. Dazu gehört, dass sie ihren Lego-Islam größtenteils mit online rezipierten Inhalten basteln. Zum anderen argumentieren Kiefer et al. dafür, stärker Konzepte der tertiären Prävention, das heißt der De-Radikalisierung, zu entwickeln. Die letzte Forderung arbeiten Kiefer et al. jedoch nicht weiter aus, was angesichts der bis dahin profunden Argumentation bedauerlich ist.
Kiefer et al. legen mit ihrem Buch einen wichtigen Beitrag für die Diskussion um Radikalisierung im Internet vor. Die interdisziplinäre Herangehensweise ist überzeugender Art. Medienpädagoginnen und Medienpädagogen werden kommunikations-, medien- und erziehungswissenschaftliche Fragestellungen vermissen. Ihr Fehlen kann jedoch den Autorinnen und Autoren nicht vorgeworfen werden, sondern zeigt eher die Breite nötiger Herangehensweisen und den Bedarf nach mehr Forschung.
Georg Materna, promovierter Ethnologe, Medienpädagoge und wissenschaftlicher Mitarbeiter im JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Er arbeitet über Fremdheitsdiskurse, Dynamiken von Teilhabe und Ausgrenzung sowie politische Bildung von Jugendlichen in sozialen Medien.
Georg Materna: Bundeskoordination Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage (Hrsg.) (2018). Transnationaler Extremismus. Berlin: Aktion Courage e.V. 59 S., kostenfrei zum Download oder 2,95 €.
Rechtsextremismus wird in der deutschen Öffentlichkeit und Wissenschaft oft als national begrenztes Problem verstanden. Die Autorinnen und Autoren des sehr aufschlussreichen Bandes Transnationaler Extremismus zeigen, dass Rechtsextremismus in der Einwanderungsgesellschaft innerhalb nationaler Grenzen nicht verstanden werden kann. Sie beschreiben, inwiefern ähnliche Ideologeme der Ungleichwertigkeit im Islamismus, türkischen Ultranationalismus und „Rechtsextremismus“ unter Russlanddeutschen vorzufinden sind. Darauf aufbauend zeigen sie Schwierigkeiten, diese Bewegungen im pädagogischen Setting und in der medialen Öffentlichkeit zu thematisieren. Der Band hat drei Teile. Einführend geben mit Sanem Kleff und Eberhard Seidel zwei leitende Akteure von Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage Auskunft über die Entwicklung ihres Arbeitsbereiches und den verfolgten pädagogischen Ansatz. Anschließend analysiert Floris Biskamp die ideologischen Grundlagen der oben genannten drei transnationalen Extremismen. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf ein Verständnis von Rassismus als soziales Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheiten in Einwanderungsgesellschaften. Dieses oft von strukturellen Ungleichheiten geprägte Verhältnis ist auch für die mediale Thematisierung extremistischer Tendenzen von Minderheiten relevant. Denn diese bewegt sich in einem doppelten rassistischen Diskurskontext, da die Problematisierung rassistischer Tendenzen in Minderheiten wiederum rassistische Diskurse der Mehrheitsgesellschaft über diese Minderheiten verstärken kann. Im dritten Teil des Bandes schreiben Saba-Nur Cheema und Meron Mendel über Strategien, wie sich der transnationale Extremismus von Minderheiten im pädagogischen Kontext thematisieren lässt. Sie zeigen auf, wie pädagogische Fachkräfte mit extremistischen Äußerungen Jugendlicher umgehen können. Der Band Transnationaler Extremismus stellt in kompakter und gut zugänglicher Form komplexe Zusammenhänge dar, die für die Extremismusprävention und -forschung von Bedeutung sind. Nützlich ist der Band für pädagogische Fachkräfte sowie Akteurinnen und Akteure aus Medien und Wissenschaft. gm
Georg Materna: Desinformation, Schimpf und Schande im globalen Dorf
Pörksen, Bernhard (2018). Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München: Carl Hanser Verlag, 256 S., 22 €.
Zu den heiß diskutierten Entwicklungen der letzten Jahre zählt, welchen Einfluss die verstärkte Nutzung Sozialer Medien durch beinahe alle Bevölkerungsgruppen auf Politik und Gesellschaft hat. Was machen Fake News mit der öffentlichen Meinung? Wie kann der stetigen Verbreitung von Hass und (zum Teil unzensierten) Skandalen in sozialen Medien begegnet werden? Bernhard Pörksen hat sich diesen Fragen in einem geistreichen Essay angenommen. Sein Ausgangspunkt: Unsere von Medien durchdrungene Gesellschaft lebt in einem Zustand ständiger Gereiztheit. Das mediale Nervensystem der globalisierten Welt hat diese nicht zu einem romantischen globalen Dorf werden lassen, sondern zu einem Ort, an dem Desinformation, Schimpf und Schande in die kleinsten Winkel alltäglicher Lebenswelten vorzudringen vermögen. Pörksens Buch führt durch fünf verschiedene Krisen-Kapitel, bevor er es mit einem Utopie-Kapitel ausklingen lässt. Die erste Krise betrifft die alte Frage, wie Menschen die Wahrheit erkennen können. Medienvermittelte Information hat sich hierfür als ein wichtiges Werkzeug erwiesen. Aktuelle Entwicklungen wie Filterblasen und Fake News führen die mediale Wahrheitssuche jedoch in eine Krise. Pörksen gibt hierfür ein Beispiel aus dem amerikanischen Wahlkampf 2016, bei dem die auf Facebook in Bezug auf Shares, Likes und Kommentare 20 erfolgreichsten Falschnachrichten mit den 20 erfolgreichsten Artikeln etablierter Medien verglichen wurden. Falschnachrichten generierten in drei Monaten vor der US-Präsidenten-Wahl 8,7 Millionen Reaktionen, während die nach journalistischen Qualitätsmaßstäben gefertigten „nur“ auf 7,3 Millionen kamen. Falschnachrichten „kombinieren den Wow- Effekt der Überraschung mit dem Sedativum der Bestätigung […]. Was emotionalisiert, so lautet die Grundregel in sozialen Netzwerken, funktioniert“ (S. 34 f.). Pörksen nennt das „Informationswäsche“. Informationen werden aus dem Kontext gerissen, umgedeutet, Quellen gehen im Prozess des Kopierens, Teilens, Verlinkens verloren.
Das führt in eine zweite Krise: die sich verstärkende Schwierigkeit eines politischen, auf rationalen Argumenten basierenden Diskurses. Die Demokratie transformiert sich in eine Empörungsdemokratie. Diese Entwicklung wird von einer sich wandelnden Medienöffentlichkeit unterstützt, in der die Gatekeeper der klassischen Massenmedien an Einfluss verlieren und Online-Medien ihr Versprechen von Partizipation in einer Art einlösen, durch die problematische gesellschaftliche Tendenzen verstärkt werden. Der Einzelne „ist zum Regisseur seiner Welterfahrung geworden, [er] vermag sich aus den unterschiedlichsten Erfahrungen eine private Wirklichkeit zu konstruieren, die ihm plötzlich als allgemeingültige Realität erscheint“ (S. 78). Einher gehen diese privaten Wirklichkeiten oftmals mit pauschalem Systemmisstrauen. Politischen Einfluss gewinnen die Regisseurinnen und Regisseure privater Welterfahrung nicht mehr als Kollektive, sondern als Konnektive, die als themen- und anlassspezifische „Individualmasse“ (S. 89) in Erscheinung treten.
Nach den Ausführungen der ersten beiden Kapitel, in denen der komplexe Stand der Forschung auf bewundernswerte Weise zusammengefasst wird, verliert Pörksens Argumentation im dritten Kapitel kurzzeitig an Fahrt. Die dritte aufgeführte Krise sieht er im Autoritätsverlust von Amtsträgern und Institutionen. Diese durchaus nachvollziehbare Diagnose verbindet er jedoch stark mit Max Webers Vorstellung von Amtscharisma. Charismatikerinnen und Charismatiker leben von der Inszenierung und von symbolischen Gesten; die Skandalisierung privater Fehltritte und Fotos aus ihrem uninszenierten Leben – die „Schmerzen der Sichtbarkeit“ (S. 92) – untergraben jedoch letztendlich ihre Autorität, so Pörksens These. Das ist einerseits richtig, anderseits wäre es ebenso spannend gewesen zu fragen, ob der Verlust von Charisma als Autoritätslegitimation nicht als Zeichen gesellschaftlichen Wandels zu mehr Augenhöhe gelesen werden und wie mithilfe medialer Öffentlichkeit zukünftig Autorität legimitiert werden könnte.
Im nächsten Kapitel geht Pörksen auf die Behaglichkeitskrise ein und nimmt wieder die gewohnte Flughöhe auf. So beschreibt er eine junge Herausforderung journalistischen Arbeitens, die er als „digitalen Schmetterlingseffekt“ (S. 128) bezeichnet. Pörksen gibt das Beispiel eines amerikanischen Pastors aus Florida mit kleiner Gemeinde und wenigen Followern in sozialen Medien, welcher 2010 zum Jahrestag der Anschläge auf die Twin Towers zur Verbrennung des Korans aufrief. Sein Ansinnen stieß auf wenig Resonanz, bis ihn CNN zum Thema befragte. Danach gibt der Pastor 150 weitere Interviews, in Jakarta und Kabul kommt es zu Protesten gegen ihn. Je näher der Jahrestag rückt, desto besorgter werden Politikerinnen und Politiker weltweit. Der US-Oberbefehlshaber, Angela Merkel, Hillary Clinton, der Vatikan und andere kritisieren ihn. Als der Pastor seinen Aufruf zurücknimmt, erklärt eine andere Gruppe, die Koranverbrennungen durchzuführen, was wenige Tage später zu Protesten in Indien führt, bei denen 16 Menschen zu Tode kommen. Minimaler Anstoß, maximaler Effekt.
Im vorletzten Kapitel zur Reputationskrise führt Pörksen aus, wie die beschriebenen Veränderungen auf der Subjektebene zu verheerenden Konsequenzen führen können. Denn in sozialen Medien werden nicht nur Politiker und Prominente Opfer von Skandalen, sondern auch der gemeine Bürger wird an den digitalen Pranger gestellt. Das führt zu neuen Herausforderungen, denn während einige der Skandale durchaus wichtige Reinigungsfunktionen für das soziale Zusammenleben besitzen, vernichten andere das soziale Leben von Betroffenen aufgrund kleinster Verfehlungen. Hierauf zu reagieren ist für die Betroffenen nicht einfach. Kontrollversuch und Kontrollverlust liegen nah beieinander, wenn ersterer in Form von medialen Gegendarstellungen erneute Aufmerksamkeit erregt und direkt in letzterem mündet.
Neue, bessere Umgangsformen mit und in den sich wandelnden Öffentlichkeiten zu vermitteln, ist daher Pörksens Utopie. Im letzten Kapitel formuliert er die Idee einer redaktionellen Gesellschaft, in der die „Prinzipien eines ideal gedachten Journalismus zum Bestandteil der Allgemeinbildung und zum selbstverständlichen Ethos“ werden (S. 189). Pörksen argumentiert für eine durch Diskursorientierung, ethisch-moralische Abwägung und Kritik geprägte Medienbildung, die als eigenes Schulfach eingeführt werden sollte. Er tritt ein für dialogischen Journalismus und Transparenzpflichten von Plattform-Monopolisten. Leider bezieht er hierbei medienpädagogische Erkenntnisse und Initiativen nicht mit ein. Das wird viele medienpädagogische Fachkräfte fragend zurück lassen. Dennoch sei ihnen Pörksens Buch als Lesespaß und kompakte Zeitdiagnose wärmstens empfohlen. Es bietet spannende Einblicke, treffende Formulierungen und ist so ausgiebig mit Quellen versehen, dass es als Fundgrube zur Recherche dienen kann.
Georg Materna: Ist das noch kritisch oder schon extrem? Meinungsbildung Jugendlicher in Sozialen Medien im Kontext von islamistischen Ansprachen und Islamfeindlichkeit
Soziale Medien sind semiprivate und semiöffentliche Räume, in denen Jugendliche mit islamistischen und islamfeindlichen Inhalten in Kontakt kommen und am politischen Diskurs partizipieren können. Sie reagieren teilweise kritisch auf problematische Inhalte, äußern aber auch Standpunkte, die kritisch zu hinterfragen sind. Sie lehnen jedoch Polarisierung tendenziell ab und partizipieren am politischen Diskurs eher in semiprivaten Räumen.
This article describes social media as semi-private and semi-public spaces and how adolescents use them to participate in political discourse; further it presents insights in how they deal with Islamist and islamophobic content in social media. Adolescents perceive Islamist and islamophobic content critically, yet also take up positions that need to be problematized. In sum, however, they tend to reject extremist polarization and prefer semi-private spaces for political participation.Literatur
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Bruns, Axel (2019). Are Filter Bubbles Real? Cambridge: Polity, 160 S., 12,90 €.
Axel Bruns ist in Fachkreisen international bekannt geworden, als er mit einem 2008 erschienen Buch den Begriff produsage im Fachdiskurs etablierte. Er beschrieb damit, dass in sozialen Medien Produktion und Konsumption zunehmend zusammenfallen. Im Buch 'Are Filter Bubbles Real?' widmet sich Bruns erneut der Diskussion von Begriffen, die seit einigen Jahren eine große Reichweite haben: Filterblase und Echokammer. Er tut dies aber nicht, um sie zu weiter zu etablieren, sondern um sie kritisch zu hinterfragen und bestenfalls sogar abzuschaffen. Für dieses Ziel argumentiert Bruns, soviel sei vorweg genommen, in fünf unterhaltsam zu lesenden Kapiteln sehr überzeugend.
Die Begriffe Filterblase und Echokammer haben beeindruckende Karrieren gemacht. Politiker*innen nutzen sie, um vor gesellschaftlicher Polarisierung zu warnen. Kritiker*innen des digitalen Wandels rechtfertigen mit ihnen, warum sie Soziale Medien und die Digitalisierung als Bedrohung darstellen. Wenn man jedoch, wie Bruns, genau hinschaut, dann finden sich kaum klare Definitionen dessen, was die Begriffe beschreiben sollen. Deswegen etabliert Bruns in Kapitel 2 seine eigenen Definitionen: Eine Echokammer entsteht, wenn sich eine Gruppe von Menschen nur untereinander vernetzt und Verbindungen nach außen kappt, sodass Informationen immer nur einen ausgewählten Kreis an Personen erreichen. Diese Echokammer ist noch keine Filterblase, weil die Gruppenmitglieder mit Menschen außerhalb der Gruppe kommunizieren und in der Gruppe auch externe Beiträge posten können. Eine Filterblase unterscheidet Bruns von der Echokammer, indem er sie nicht über die Vernetzung, sondern über die Kommunikation definiert. Eine Filterblase entsteht, wenn Personen vorwiegend mit ausgewählten Partner*innen sprechen. Je exklusiver diese Kommunikationsbeziehungen werden, desto mehr entwickelt sich eine Filterblase. Hierbei ist es prinzipiell möglich, dass die Personen der Filterblase anderen Netzwerken angehören. Innerhalb der Filterblase spielen Informationen von außerhalb jedoch keine Rolle, geteilt wird nur, was von Personen kommt, die der Blase angehören.
Dieser Beschreibung folgend stellt Bruns fest, dass es durchaus möglich ist, dass Echokammern und Filterblasen existieren und sich eventuell sogar überschneiden. Die Wirklichkeit des Medienhandelns sehe jedoch oftmals anders aus, argumentiert er in Kapitel 3, wo er verschiedene Studien vorstellt, die sich vor allem auf politische Diskurse auf Twitter und Facebook konzentrieren. Zusammengefasst finden sich in den Studien zwar Hinweise auf Blasen und Kammern, diese beziehen sich jedoch zumeist auf einzelne Personen oder Kontexte, wie politische Aktivist*innen oder Beiträge zu spezifischen Hashtags. Für die meisten Nutzer*innen lassen sich weder ausgeprägte Filterblasen und/oder Echokammern nachweisen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass politische Positionen nur für 23 Prozent der Nutzer*innen auf Facebook und 17 Prozent auf Twitter ein Auswahlkriterium sind, um anderen Personen oder Hashtags zu folgen, wie eine Studie zur amerikanischen Präsidentschaftswahl 2016 feststellte. Wesentlich wichtiger sind freundschaftliche, berufliche und verwandtschaftliche Beziehungen, über die man weiterhin mit diversen Informationen in Kontakt kommt. Selbst die politisch aktivsten Personen, gibt Bruns zu bedenken, rezipieren nicht nur die eigenen Positionen, sondern setzen sich gezielt mit Informationen der Gegenseite auseinander, um diesen widersprechen zu können.
Diese Argumentation stützt Bruns in Kapitel 4 mithilfe weiterer Studien. Soziale Medien führen seiner Darstellung nach nicht zu weniger und einseitigerer, sondern zu mehr Information und diverseren Quellen. Als Grund dafür führt er die oftmals kritisch gesehene Dekontextualisierung von Informationen in Sozialen Medien an. Dadurch, dass Beiträge wiederholt geteilt und auf diese Art ihre Quellen weniger nachvollziehbar werden, bekämen sie eine größere Reichweite und würden auch von Personen rezipiert, die sie im Wissen um die Ursprungsquelle abgelehnt hätten. Auch die personalisierte Auswahl von Informationen auf vielen Plattformen führe tendenziell nicht dazu, dass abweichende Informationen generell abgelehnt würden. Vielmehr helfe sie dabei, die Informationsflut zu organisieren und sich auch mit abweichenden Positionen zu beschäftigen. Unterstützend führt Burns eine Studie aus den USA an, die darauf hinweist, dass der Grad der politischen Polarisierung zwischen 1996 und 2016 stärker bei Personen zugenommen hat, die das Internet nicht oder wenig nutzen, als bei Personen, die häufig online sind.
Bruns Kritik an den Begriffen Filterblase und Echokammer läuft darauf hinaus, dass sie einen Technikdeterminismus suggerieren, der sich empirisch nicht nachweisen lasse. Sich auf ihre Erforschung und Eindämmung zu konzentrieren, würde die Idee nur stärker machen, dass digitale Medien der Grund für zunehmende gesellschaftliche Spannungen sind. Der eigentliche Grund gesellschaftlicher Polarisierung sind aber soziale Ungleichheit, der Abbau des Sozialstaates und ein stärker werdender politischer Populismus, argumentiert Bruns. Besonders letzterer wird auch durch digitale Medien befördert, die populistischen und extremistischen Positionen eine nie dagewesene Reichweite verschaffen. Um hierauf zu reagieren brauche es das gesellschaftspolitische Engagement verschiedenster Akteur*innen, eine steigende Medienkompetenz und -kritikfähigkeit in der Bevölkerung sowie ein besseres Verständnis der sich wandelnden Öffentlichkeit.
Bruns Publikation ist ein wichtiger Beitrag für eine differenzierte Auseinandersetzung mit digitalem Wandel und politischer Teilhabe. Es bietet Fachkräften, die die Begriffe Filterblase und Echokammer im beruflichen und privaten Kontext nutzen, überraschende Einsichten und spannende Hintergrundinformationen.
Katja Berg/Georg Materna: Themenzentrierte Medienarbeit mit Memes in der Präventionsarbeit. Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung des Praxisprojekts bildmachen
Das Projekt bildmachen will Jugendliche für die Strategien und Hintergründe religiös-extremistischer Ansprachen in Sozialen Medien sensibilisieren und Möglichkeiten aufzeigen, mit Memes im Online-Diskurs zu partizipieren. Es leistet einen Beitrag zur Primärprävention in der schulischen und außerschulischen Jugendarbeit. Hier werden ausgewählte Ergebnisse der Begleitstudie und der Projektevaluation vorgestellt sowie die Befunde im Kontext der themenzentrierten Medienarbeit reflektiert.
Literatur:
Brüggen, Niels (2018). Medienaneignung und ästhetische Werturteile. Zur Bedeutung des Urteils ‚Gefällt mir!‘ in Theorie, Forschung und Praxis der Medienpädagogik. München: kopaed.
Holzwarth, Peter (2008). Bildpädagogik und Medienkompetenzentwicklung als politische Bildung. In: Jahrbuch Medienpädagogik 7. Medien. Pädagogik. Politik. Wiesbaden: Springer VS, S. 97–116.
Inan, Alev (2017). Jugendliche als Zielgruppe salafistischer Internetaktivitäten. In: Toprak, Ahmet/Weitzel, Gerrit (Hrsg.), Salafismus in Deutschland. Jugendkulturelle As-pekte, pädagogische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS, S. 103–117.
Johann, Michael/Bülow, Lars (2019). Politische Internet-Memes: Erschließung eines interdisziplinären Forschungsfeldes. In: Bülow, Lars/Johann, Michael (Hrsg.), Politische Internet-Memes – Theoretische Herausforderungen und empirische Befunde. Berlin: Frank & Timme, S. 13–40.
Keilhauer, Jan (2010). Methodische Hinweise zur Bearbeitung gesellschaftlicher Themen mit Medien – Eigene Positionen entwickeln und mitmischen. In: Keilhauer, Jan/Schorb, Bernd (Hrsg.), Themenzentrierte Medienarbeit mit Jugendlichen. Ein Modellprojekt mit deutschen und tschechischen Jugendlichen zum Thema Präimplantationsdiagnostik. München: kopaed, S. 38–75.
Keilhauer, Jan/Schorb, Bernd (2010). Themenzentrierte Medienarbeit. In: Schorb, Bernd/Keilhauer, Jan (Hrsg.), Themenzentrierte Medienarbeit mit Jugendlichen. Ein Modellprojekt mit deutschen und tschechischen Jugendlichen zum Thema Präimplantationsdiagnostik. München: kopaed, S. 13–22.
Lobinger, Katharina (2015). Praktiken des Bildhandelns in mediatisierten Gesellschaften – eine Systematisierung. In: Lobinger, Katharina/Geise, Stephanie (Hrsg.), Visualisierung – Mediatisierung. Bildliche Kommunikation und bildliches Handeln in mediatisierten Gesellschaften. Köln: Herbert von Halem, S. 37–58.
Lobinger, Katharina/Brantner, Cornelia (2015). Q-Sort: qualitative-quantitative Analysen bildlicher Rezeptions- und Aneignungsprozesse. Leistungen und Limitationen für das Feld visueller Kommunikationsforschung. In: Lobinger, Katharina/Geise, Stephanie (Hrsg.), Visualisierung – Mediatisierung. Bildliche Kommunikation und bildliches Handeln in mediatisierten Gesellschaften. Köln: Herbert von Halem, S. 181–206.
Materna, Georg/Lauber, Achim/Brüggen, Niels (i. E.). Politisches Bildhandeln Jugendlicher in sozialen Medien im Kontext politischer Kontroversen und islamistischer Ansprachen. München: kopaed.
Reinemann, Carsten/Nienierza, Angela/Fawzi, Nayla/Riesmeyer, Claudia/Neumann, Katharina (2019). Jugend – Medien – Extremismus. Wo Jugendliche mit Extremismus in Kontakt kommen und wie sie ihn erkennen. Wiesbaden: Springer VS.
Shifman, Limor (2014). Meme. Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter. Berlin: Suhrkamp.
Würfel, Maren/von Holten, Susanne (2008). Themenzentrierte aktive Medienarbeit: Ein Ansatz zur Förderung der politischen Beteiligung Jugendlicher. In: Jahrbuch Medienpädagogik 7. Medien. Pädagogik. Politik. Wiesbaden: Springer VS, S. 187–203.
Nina Kunz/Georg Materna/Raphaela Müller/Charlotte Oberstuke/Fabian Wörz: Bewegtbildformate in der universellen Extremismusprävention. Erfahrungen aus dem Projekt RISE – jugendkulturelle Antworten auf islamistischen Extremismus
Die zunehmende Präsenz von extremistischen Inhalten auf jugendaffinen Plattformen fordert eine adäquate Extremismusprävention. Der Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie Bewegtbildformate eingesetzt werden können, um Jugendliche gegen extremistische Ansprachen zu stärken. Es wird das Projekt RISE vorgestellt, das eine aktive Auseinandersetzung der Jugendlichen mit dem Themenfeld fördert, indem sie zu für sie relevanten Fragestellungen eigene Kurzfilme produzieren, die entsprechend gerahmt als authentische Produktionen in Bildungskontexten eingesetzt werden können.
Literatur:
Baeckmann, Kyra von/Maradin, Miron/Materna, Georg (2020). Die Coronakrise zwischen Glaubensbewährung und ‚Meinungsdiktatur‘. Ein qualitativer Vergleich von Videos zur Coronakrise auf islamistischen und rechtspopulistischen YouTube-Kanälen. Entstanden im Rahmen des Projektes RISE – jugendkulturelle Antworten auf islamistischen Extremismus. https://rise-jugendkultur.de/artikel/die-coronakrise-zwischen-glaubenbewaehrungund-meinungsdiktatur/ [Zugriff: 11.01.2021]
Frankenberger, Patrick/Hofmann, Ingrid/Ipsen, Flemming/Oezmen, Fehime/Zarabian, Nava (2019). Islamismus im Netz. Bericht 2018. www.jugendschutz.net/fileadmin/download/pdf/Bericht_2018_Islamismus_im_Internet.pdf [Zugriff: 21.12.2020]
Frischlich, Lena (2019). Extremistische Propaganda und die Diskussion um ‚Gegenerzählungen‘. www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/293970/extremistische-propaganda-und-die-diskussion-um-gegenerzaehlungen [Zugriff: 21.12.2020]
Frischlich, Lena/Rieger, Diana/Morten, Anna/Bente, Gary (2017). Wirkung. In: Frischlich, Lena/Rieger, Diana/Morten, Anna/Bente, Gary (Hrsg.), Videos gegen Extremismus? Counter-Narrative auf dem Prüfstand. Wiesbaden: Bundeskriminalamt, S. 81–139.
Nordbruch, Götz (2018). Videos und soziale Medien: Prävention im Internet. www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/271421/videos-und-sozialemedien-praevention-im-internet?p=all [Zugriff: 04.06.2019]
Rieger, Diana/Morten, Anna/Frischlich, Lena (2017). Verbreitung und Inszenierung. In: Frischlich, Lena/Rieger, Diana/Morten, Anna/Bente, Gary (Hrsg.), Videos gegen Extremismus? Counter-Narrative auf dem Prüfstand. Wiesbaden: Bundeskriminalamt, S. 47–80.
Schell, Fred (2003). Aktive Medienarbeit mit Jugendlichen. Theorie und Praxis. Reihe Medienpädagogik, Band 5. München: kopaed.
Kathrin Demmler/Dagmar Hoffmann/Georg Materna: Editorial: Medienpädagogik und politische Bildung. Gemeinsam gegen Polarisierung und Desinformation
Handlungsorientierte Medienpädagogik wurde von ihren Vertreter*innen immer auch als Teil politischer Bildungsarbeit verstanden. Ihre Ziele bestehen darin, Kinder und Jugendliche zur kritischen Reflexion medialer Inhalte zu befähigen und ihnen Wege aufzuzeigen, sich mithilfe von Medien selbst in die Gesellschaft einzubringen. Diese Ziele bleiben aktuell. Sie umzusetzen wird aber durch die tiefgreifende Mediatisierung unserer Gesellschaft vor neue Herausforderung gestellt. Dazu gehört auch der pädagogische Umgang mit Sozialen Medien. Dienstleister wie YouTube, Instagram oder Twitter sind in den letzten Jahren zu einem wichtigen Teil politischer Öffentlichkeiten geworden.
Kaum eine Krise wird in ihrer Dynamik nicht mit ihnen verbunden. Es geht um Desinformationskampagnen und Trollfabriken, um Radikalisierungsdynamiken oder extremistische Inhalte. Im Ergebnis richtet sich der Blick zunehmend auf die politischen Ränder. Es fühlt sich so an, als ob die Polarisierung der Gesellschaft immer mehr zunimmt. Dieses Thema wollen wir aufgreifen, denn es lässt sich an ihm zeigen, was politische Bildung und Medienpädagogik voneinander lernen und wie sie in Forschung und Praxis zusammenarbeiten können.
Damit bezieht sich diese Ausgabe auch auf das Positionspapier Politische Medienbildung der Landeszentralen und Bundeszentrale für politische Bildung. Die Fokussierung der politischen Bildung auf die Arbeit mit, über und durch Medien ist nicht neu, bekommt aber durch den Begriff ‚politische Medienbildung‘ eine erweiterte Dimension. Politische Bildung rückt damit eng an die handlungsorientierte Medienpädagogik, sucht möglicherweise den Schulterschluss. Wie die großen gesellschaftlichen Herausforderungen gemeinsam pädagogisch in den Blick genommen werden können, steht im Zentrum dieses Themenschwerpunkts.
Sabine Achour führt aus politikwissenschaftlicher Sicht in das Thema ein. Dafür setzt sie sich kritisch mit der Idee auseinander, dass die Gesellschaft durch Polarisierung in zwei Teile zerfallen könnte. Sie kann anhand von Daten zeigen, dass eine Zweiteilung für Deutschland aktuell nicht zu beobachten ist. Die große Mehrheit der Bevölkerung bekennt sich zur Demokratie. Problematische Einstellungen gibt es vor allem bei Bürger*innen im rechtsextremen Spektrum. Wichtig ist deswegen, politische Bildungsarbeit besonders in Bezug auf Zielgruppen zu stärken, die demokratische Werte verstärkt abzulehnen scheinen. Denn Erhebungen aus dem schulischen Kontext zeigen, dass dadurch demokratische Einstellungen und Teilhabe gefördert werden können.
Dass die politische Medienbildung in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt, das betont Thomas Krüger im Gespräch mit Bernd Schorb. Ausdruck dafür ist das eingangs genannte Positionspapier der Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung. Schorb und Krüger sprechen darüber, was das für die Zusammenarbeit beider Professionen bedeutet und welche außerschulischen Zielgruppen für die politische Medienarbeit zunehmend wichtiger werden.
Über Krisen spricht auch Dagmar Hoffmann mit Klaus Hurrelmann, allerdings mit einem besonderen Blick auf ihre Auswirkungen auf die junge Generation. Die letzten Jahre waren geprägt von sich überlappenden Krisen: Klimakrise, Coronakrise, Krieg in der Ukraine. Hurrelmann zeichnet insgesamt ein mutmachendes Bild der Jugend, differenziert es aber so weit, dass für bestimmte Jugendliche besondere Unterstützungsbedarfe erkennbar sind. Er erläutert, wie Schule und Eltern hierauf reagieren können und welche Rolle medienpädagogische Ansätze dabei spielen. Stichwort medienpädagogische Ansätze: Über das Heft verteilt finden sich Steckbriefe von Praxisprojekten, die im Bereich politischer Medienbildung gegen Polarisierung arbeiten. Die Projekte setzen sich mit Diskriminierung durch Künstliche Intelligenz (KI and ME) oder Cybermobbing auseinander (Abenteuer mit Sam). Vorgestellt wird ein Planspiel, in dem filmische Reflexionen darüber entstehen, wie ‚das‘ politische System unser Zusammenleben prägt (Parlamensch). Auch werden mit Truthellers ... Trust me, if you can?! und Don’t stop motion zwei aktuelle Dieter Baacke-Preisträger-Projekte vorgestellt.
Was politische Bildungsarbeit gegen Polarisierung außerdem im Detail ausmacht, darüber gibt es in dieser Ausgabe zwei Beiträge: Silke Baer stellt fest, dass für die Arbeit zu kontroversen Themen der Zugang über lebensweltnahe Medienbeispiele immer wichtiger wird. Diese dienen zum Beispiel als Gesprächsanlässe für narrative Formate. Außerdem argumentiert Baer dafür, Techniken aus der Mediation für die pädagogische Arbeit zu sehr kontroversen Themen zu entlehnen. Diese können helfen, dass Fachkräfte auch in normativ sehr umkämpften Bereichen mehr Handlungssicherheit gewinnen. In eine ähnliche Richtung, stärker strukturell fokussiert, argumentieren Seyran Bostancı und Özgür Özvatan. Sie gebenEinblicke in die Forschung zu den narrativenStrukturen gesellschaftspolitischer Debatten.Ihr Argument ist, dass postmigrantische Aushandlungsprozesse narrative Strukturen brauchen, die mit der klassischen Heroisierung undRomantisierung politischer Fragestellungenauf nationaler Ebene brechen. Das betrifft sowohl die von Politiker*innen entwickelten Problembeschreibungen als auch die mediale Berichterstattung. Demokratieförderlicher sindstattdessen politische Diskurse, die der Fehlbarkeit und Kontingenz politischer Entscheidungen gerecht werden und damit eher demdynamischen Charakter gegenwärtiger Demokratien entsprechen.
Komplettiert wird die Ausgabe durch zwei medienpädagogische Beiträge: Dagmar Hoffmann widmet sich dem Umgang mit Algorithmen und Big Data. Sie beschreibt, wie der digitale Wandel den Alltag umgestaltet, ohne dass er von den Nutzer*innen selbst als massive Transformation wahrgenommen wird. Hoffmann stellt dar, wie die Konsequenzen und Problematiken des eigenen Medienhandelns vor allem auf der Subjektebene verhandelt und weniger als gesellschaftspolitische Aufgabenstellung verstanden werden. Hier anzusetzen ist eine wichtige Aufgabe politischer Medienbildung.
Georg Materna, dessen Beitrag ergänzend frei zugänglich auf merz-zeitschrift.de erscheint, geht ebenfalls auf alltägliches Medienhandeln ein. Er wirft einen Blick auf das Informationsverhalten Jugendlicher, für das Soziale Medien eine wichtige Rolle spielt. Er argumentiert, dass die medienpädagogischen Herausforderungen in Bezug auf das Informationsverhalten Jugendlicher weniger Filterblasen sind, sondern eher der Umgang mit der Diversität der Kanäle und Inhalte, die junge Menschen nutzen, um sich zu orientieren. Medienpädagogische Arbeit sollte deswegen verstärkt dazu arbeiten, Informationsroutinen und Kriterien zur Bewertung von Information bewusst zu machen und zu verhandeln.
Georg Materna: Warum Jürgen Habermas nicht auf Twitter ist
Habermas, Jürgen (2022). Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Demokratie. Berlin: Suhrkamp. 108 S., 18,00 €.
Sechs Jahrzehnte nach Erscheinen seines erfolgreichsten Buchs veröffentlicht Habermas ein ‚Update‘ , das seine These vom Strukturwandel der Öffentlichkeit mit Blick auf das postdigitale Zeitalter reformuliert. Wie im ‚Alten Strukturwandel‘ argumentiert Habermas auch im ‚Neuen‘ zum einen zeitgeschichtlich. Und zum anderen normativ, wenn er aufzeigt, inwiefern der Medienwandel demokratische Meinungsbildungsprozesse qualitativ beeinflusst. Dazu gehört, dass er ideale politische Aushandlungsprozesse beschreibt, die oftmals als Blaupause für demokratische Öffentlichkeiten herangezogen werden. Beide Argumentationsstränge finden sich auch im aktuellen Buch, wobei der normative Teil etwas überzeugender scheint als die Zeitdiagnose.
Ausgangspunkt der normativen Überlegungen ist, dass der demokratische Staat seine Legitimität daraus ableitet, dass alle Bürger*innen gleichberechtigt an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben können. Habermas beschreibt diese Prozesse als Deliberation. Im Idealzustand besteht Deliberation aus fortdauerndem Dissens, einem wahrhaftigen Austausch von Argumenten und einer daraus folgenden politischen Entscheidung. Sollte sich diese nicht bewähren, kann die Deliberation von neuem beginnen. Realiter sieht es meistens anders aus. Deliberation ist eher ein Spektrum: Es gibt diffuse Themen und Argumentationen in der politischen Öffentlichkeit, aus der Meinungsbekundungen der Zivilgesellschaft entstehen können. Wirkliche Deliberation findet eher in parlamentarischen Ausschüssen statt. Im ‚Neuen Strukturwandel‘ reagiert Habermas auf Kritik, die die normative Idealisierung der Deliberation hinterfragt. Habermas verweist dafür auf die Unterscheidung zwischen Beobachter*innen und Teilnehmer*innen deliberativer Prozesse. Beo bachter*innen werden häufig Abweichungen vom Ideal aufzeigen können. Für die Teilnehmenden ist aber trotzdem wichtig, das Ideal als gemeinsame Orientierung aufrechtzuerhalten. Nur so können sie Kritik am Prozess formulieren und an seiner Realisation arbeiten. Habermas sieht Deliberation auch als ein Modell für die aktuellen Herausforderungen in pluralistischen Gesellschaften, wo es stark um wertebezogene und kulturelle Problemlagen gehe. Die Bereitschaft, sich in diesem Kontext auf deliberative Diskursformen einzulassen, könne helfen, Probleme verhandelbar zu machen.
Zentraler Raum der Deliberation ist die politische Öffentlichkeit. Ein entscheidendes Kriterium für deren demokratische Qualität ist, dass sie ausreichend sensibel gegenüber den Anliegen der Zivilbevölkerung reagiert. Dafür tragen Journalistin*innen, Politiker*innen und andere Expert*innen Verantwortung. Sie produzieren Medienbeiträge, in denen die Bevölkerung ihre Anliegen wiederfindet und mithilfe derer sie sich orientieren kann. Diese wichtige Funktion sieht Habermas in der Krise. Grund dafür sei die mittlerweile große Masse privater medialer Inhalte, die weder qualitativ an journalistische Stücke heranreichen noch gesellschaftspolitische Relevanz besitzen. Digitale Medien machten alle Bürger*innen potenziell zu Autor*innen, die diese neue Rolle aber erst noch erlernen müssten. Das gilt besonders für die Kommunikation auf privatwirtschaftlichen Plattformen. So habe es zwar durchaus einen Reiz, auf Twitter seine politische Botschaft kurzzufassen, dennoch gehe die Kommunikation dort eher in Richtung Narzissmus und Singularisierung. Allgemein sieht Habermas in Sozialen Medien einen „Sog zur selbstbezüglich reziproken Bestätigung von Interpretationen und Stellungnahmen“ (S. 85). Die für Deliberation so wichtige politische Öffentlichkeit zerfällt in seiner Argumentation in viele kleine Kommunikationskreisläufe, die sich gegenseitig weder rezipieren noch anerkennen. Damit biegt er ab in Richtung Echokammer und Filterblase als Kritikpunkte an Sozialen Medien.
Der ‚Neue Strukturwandel‘ hat das Potenzial, Habermas‘ Ideen zur deliberativen Demokratie und zur Relevanz von Öffentlichkeit breiten Fachkreisen (erneut) bekannt zu machen. Kritikwürdig ist die Engführung auf Filterblasen und Echokammern. Diese sind als Medienphänomene wesentlich umstrittene als Habermas erkennen lässt. Statt zunehmend mehr Gleiches zu sehen, bekommen die meisten Nutzer*innen digitaler Medien ein Mehr an Diversität. Das interpretiert Habermas aber in Richtung ‚Blasenbildung‘. Paradoxerweise vernachlässigt er dadurch bestehende Polarisierungstendenzen in der Gesellschaft, die sich online zwar zeigen, dort aber nicht entstanden sein müssen. Hinzu kommt, dass digitaler und gesellschaftlicher Wandel die Machtstrukturen verändern, auf denen die politische Öffentlichkeit lange Zeit fußte. Diese Dynamik wird durch Soziale Medien befördert, ist aber nicht genuin in ihnen angelegt. Etablierte Akteur*innen der politischen Öffentlichkeit erleben diesen Prozess als Krise. Es ist jedoch wichtig, diese Wahrnehmung nicht einfach zu übernehmen, sondern einzuordnen und zu prüfen. Darauf geht Habermas jedoch nicht ein. Trotz dieser Kritik ist das Buch als Einführung und auch als ‚Update‘ spannend zu lesen. Mit dem Ziel, dass es Deliberation und Debatte fördert, lässt sich ihm weite Verbreitung wünschen.
ONLINE EXKLUSIV: Georg Materna: Diversität oder Filterblase?
Mit dem Begriff der Filterblase wird oftmals kritisiert, dass Soziale Medien eine immer größere Rolle für Meinungsbildungsprozesse spielen. Im Artikel werden der Begriff und die mit ihm einhergehenden Gesellschaftsdiagnosen wie Polarisierung und Radikalisierung kritisch hinterfragt. Es wird argumentiert, dass die Herausforderungen für das Informationshandeln in Sozialen Medien weniger in Filterblasen liegen, sondern in den bei Rezipient*innen häufig wenig ausgeprägten Bewertungskriterien für den Umgang mit der Diversität und Fülle an Informationen in Sozialen Medien.
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Creative Commons Lizenzvertrag
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ZitiervorschlagMaterna, Georg (2023). Diversität oder Filterblase? Herausforderungen und Ressourcen für das Informationshandeln junger Menschen in Sozialen Medien. In: merz | medien + erziehung, 67 (1), S. 97–108. www.merz-zeitschrift.de/
fileadmin/user_upload/merz/PDFs/merz_23-1_online_exklusiv_
materna_georg_diversitaet_oder_filterblase.pdfLiteratur
Bogner, Alexander (2021). Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Brüggen, Niels/Dohle, Marco/Kelm, Ole/Müller, Eric (Hrsg.) (2021). Flucht als Krise? Flucht, Migration und Integration in den Medien sowie die themenbezogene Aneignung durch Heranwachsende. München: kopaed.
Brüggen, Niels/Schemmerling, Mareike (2013). Identitätsarbeit und sozialraumbezogenes Medienhandeln im Sozialen Netzwerkdienst facebook. In: Wagner, Ulrike/Brüggen, Niels (Hrsg.), Teilen, vernetzen, liken. Jugend zwischen Eigensinn und Anpassung im Social Web. Baden-Baden: Nomos, S. 141–210.
Bruns, Axel (2019). Are filter bubbles real? Cambridge, UK, Medford, MA: Polity Press.
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Golesorkh, Jawaneh (2019). Bilder des Islams in medialen Lebenswelten. Zwischen antimuslmischem Rassismus und muslimischer Selbstermächtigung. In: merz | medien + erziehung, 63 (3), S. 51–56.
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Schweiger, Wolfgang (2017). Der (des)informierte Bürger im Netz. Wie soziale Medien die Meinungsbildung verändern. Wiesbaden: Springer.
Stark, Birgit/Magin, Melanie/Jürgens, Pascal (2021). Maßlos überschätzt. Ein Überblick über theoretische Annahmen und empirische Befunde zu Filterblasen und Echokammern. In: Eisenegger, Mark/Prinzing, Marlis/Ettinger, Patrik/Blum, Roger (Hrsg.), Digitaler Strukturwandel der Öffentlichkeit. Historische Verortung, Modelle und Konsequenzen. Wiesbaden/Heidelberg: Springer VS, S. 303–323.
Dr. Georg Materna arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am JFF. Seine Schwerpunkte: Meinungsbildung Jugendlicher in sich wandelnden Öffentlichkeiten und universelle Extremismusprävention am Schnittpunkt von Medienpädagogik und politischer Bildung.
- Georg Materna: Mau, Steffen, Lux, Thomas & Westheuser, Linus (2023). Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp, 535 S., 25,00 €. (Verfügbar ab 15.10.2024)
Kathrin Demmler/Selma Maglic/Georg Materna/Ida Pöttinger: Konflikte aushandeln: Eine Herausforderung für die Bildungsarbeit
Die von Bundeskanzler Olaf Scholz in Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine verkündete „Zeitenwende“ bezieht sich vordergründig auf die Ertüchtigung der Bundeswehr. Sie ist jedoch gleichzeitig nur der vorerst letzte Ausdruck der Zunahme von Kriegen, Krisen und Konflikten, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, und die uns zunehmend direkt über digitale Medien erreichen. Videos aus dem Krieg in der Ukraine, vom Überfall der Hamas auf Israel und von der israelischen Operation Eiserne Schwerter verbreiten sich massiv über Plattformen und Netzwerke, die junge Menschen regelmäßig nutzen. Diese Inhalte werden gelikt, kommentiert und geteilt, und erreichen eine große Öffentlichkeit. Damit beeinflussen sie die öffentliche Verhandlung der Geschehnisse oft in einer Weise, die eher Polarisierung fördert als eine kritische Meinungsbildung über Recht und Unrecht. Eine demokratische Auseinandersetzung mit Kriegen, Krisen und Konflikten wird auf diese Weise erschwert. Statt dazu beizutragen, das Gegenüber zu verstehen, Emotionen der Gegenseite anzuerkennen, die eigene Position kritisch zu prüfen und sich für Handlungsoptionen auf Basis eines demokratischen Abwägungsprozess entscheiden zu können, begünstigen viele digitale Inhalte Feindbildkonstruktionen und Schwarz-Weiß-Denken.
Gleichzeitig können sich gerade marginalisierte Gruppen über digitale Medien eine Öffentlichkeit schaffen und damit auf strukturelle Benachteiligungen aufmerksam machen und zu deren Abbau beitragen. Diese Möglichkeit nutzen auch junge Menschen in den Krisen- und Kriegsgebieten, wenn sie ihren Alltag zeigen und damit die menschlichen Auswirkungen militärischer Auseinandersetzungen anschaulich machen. Ein Beispiel dafür ist Valeria Shashenok, die auf ihrem TikTok-Account @valerisssh über ihren Kriegsalltag, ihre Flucht aus der Ukraine und ihr Leben mit dem Krieg postet.
Die Pluralisierung der Möglichkeiten, an Öffentlichkeit teilzunehmen und die eigene Sichtweise in die Diskussion einzubringen, erhöht gleichzeitig auch die Wahrscheinlichkeit, mit den Sichtweisen anderer Menschen konfrontiert zu werden. In den meisten Fällen entsteht daraus jedoch keine harmonische Melodie, sondern widersprüchliche Meinungen stehen einander gegenüber, ohne notwendigerweise in einen auf Verständigung angelegten Austausch zu münden. Mediale und öffentliche Pluralisierung führen tendenziell erstmal zu mehr Konflikten, nicht zu weniger. Dass das für sich genommen keine schlechte Nachricht ist, sondern für mehr gesellschaftliche Partizipation spricht, hat vor ein paar Jahren Aladin El-Mafaalani (2018) überzeugend ausgearbeitet. Das Paradox gesellschaftlicher Integration besteht darin, dass ihre Verwirklichung in einer Zunahme von Konflikten besteht, argumentiert er. Denn wenn mehr Menschen teilnehmen, werden mehr Interessenkonflikte sichtbar. Die Herausforderung der Bildungsarbeit besteht darin, diese Situation anzuerkennen und Wege zu finden, sie positiv mitzugestalten. Wenn jedoch zusätzlich zu dieser Aufgabe noch internationale Konflikte ausbrechen und die aktuelle Weltordnung ins Wanken gerät, können auch bei Fachkräften neue Handlungsunsicherheiten und Verunsicherung entstehen.
Das ist der Punkt, an dem dieses Schwerpunktthema ansetzt. Es vereint Artikel, die sich der Herausforderung aus unterschiedlichen Perspektiven annähern und die als Unterstützungsangebote für das Verstehen der gegenwärtigen Situation und den eigenen Umgang damit veröffentlicht werden.
Den Auftakt machen Uli Jäger und Nicole Rieber mit ihrem Artikel ‚Frieden und Friedenspädagogik: Orientierung für (digitale) Bildungsmaßnahmen in Zeiten von Krieg und Unsicherheit‘. Sie stellen ein Angebot der Servicestelle Friedensbildung Baden-Württemberg vor, in dem es um das Zusammenspiel von Friedensbildung, Medienpädagogik und politischer Bildung geht, und das dem Defizit an Orientierung entgegenwirken soll. Ziel der Autor*innen ist es, ein Curriculum ‚Friedensbildung‘ zu entwickeln, um unter anderem die Ambiguitätstoleranz als Friedensfähigkeit zu fördern.
Sigrun Rottmann, Journalistin und Konfliktberaterin, setzt sich in ihrem Beitrag mit der Frage auseinander, welche Rolle Journalist*innen in einer demokratischen Gesellschaft spielen wollen und sollen. Sie plädiert für konfliktsensitiven Journalismus als wichtiges Qualitätsmerkmal der Berichterstattung über Krieg und Konflikte und zeigt, wie Berichterstattung so gestaltet werden kann, dass verschiedene Perspektiven sichtbar werden, Propaganda hinterfragt wird und Konflikte nicht weiter eskalieren.
Daran schließt das Gespräch mit Thomas Knieper an. Als Professor für digitale und strategische Kommunikation setzt er sich seit langem mit der Ikonografie von Kriegsbildern auseinander. Er spricht über Kontinuitäten und Veränderungen der bildlichen Inszenierung von Krieg und betont, dass Bilder nicht nur bei der Visualisierung von Krieg, sondern auch bei Friedensverhandlungen eine wichtige Rolle spielen können.
Mit den Herausforderungen für Medienwissenschaft und medienpädagogische Praxis im Hinblick auf eine Sensibilisierung für die Macht der Bilder setzen sich die JFF-Kolleg*innen Benedikt Aigner, Linus Einsiedler, Michael Gurt, Selma Maglic und Georg Materna auseinander. Aufbauend auf vielfältigen Erfahrungen in einschlägigen Projekten der politischen Bildung zeigen sie auf, wie mit Menschen mit Kriegs- und Fluchterfahrung zusammengearbeitet wurde, was es dabei zu beachten gilt und wie wichtig es ist, eine postmigrantische Perspektive in der Medienpädagogik einzunehmen. Ausgewählte Artikel sind auch oder nur online zu finden. Eine wichtige Bereicherung des Themas liefert der Beitrag von Ingrid Stapf und Marlis Prinzing ‚Selbstbestimmte Teilhabe und Schutz vor Verstörung. Kindgerechte Plattformregulierung: Multistakeholder*innen-Perspektiven in Zeiten von Krieg und Polykrisen‘. Sie haben Expert*innen befragt und bieten Einblicke in die Verletzlichkeit und die Schutzbedürfnisse von Kindern auf Plattformen wie TikTok. Basis dafür ist ihre These, dass größtmöglicher Schutz angestrebt werden muss, um Kindern Teilhaberechte zu ermöglichen.
An dieser Stelle möchten wir auch auf die Empfehlungen der UNO zu Kinderrechten in digitalen Umgebungen hinweisen, die wir begleitend auf unserer Website zur Verfügung stellen.
Mit ganz konkreten Fragen der Bildungspraxis setzt sich Verena Wilkesmann in ihrem Beitrag auseinander. In der Refugio Kunstwerkstatt finden Kinder und Jugendliche aus Krisen- und Kriegsgebieten einen sicheren Ort. Wilkesmann schildert, welche Faktoren notwendig sind, um Kindern und Jugendlichen Sicherheit zu bieten und ihre Resilienz zu fördern.
Ebenfalls online findet sich ein Gespräch mit einer Gymnasiallehrkraft für Deutsch und Geschichte aus Rheinland-Pfalz. Sie spricht über die Herausforderungen, den Ukraine-Krieg im Unterricht zu behandeln, insbesondere bei Schüler*innen aus russischen Familien. Die Lehrkraft berichtet über die anfängliche Betroffenheit, den Einfluss russischer Medien und ihre persönlichen pädagogischen Ansätze zur Förderung eines friedlichen Klassenklimas. Wie kann Frieden gelingen – und welche Rolle kann Bildungsarbeit dabei spielen? Diesen Fragen widmet sich Melanie Hussak in ihrem Beitrag ‚Dialogorientierung und Machtsensibilität in der Friedenspädagogik. Anregungen für Lernräume im Kontext gesellschaftspolitischer Kontroversen‘. Sie plädiert dafür, friedenspädagogische Lernprozesse zu nutzen, um sich mit der eigenen Involviertheit in Konfliktlagen auseinanderzusetzen und positive Perspektiven zu entwickeln.
Wir hoffen, mit diesen Beiträgen Denkanstöße zu liefern und Impulse für eine strategische Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen in der medienpädagogischen Bildungsarbeit zu liefern. Dazu beitragen sollen auch Informationsboxen mit empfehlenswerten Medienangeboten für Kinder zur Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden, unter anderem der bezaubernde Kinderfilm über Flucht und Freundschaft Slava, der Hund (Spielfilm).
Literatur
El-Mafaalani, A. (2018). Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Kiepenheuer & Witsch.Kathrin Demmler ist Direktorin des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis und gemeinsam mit Prof. Dr. Bernd Schorb Herausgeberin von merz | medien + erziehung. Ihre Schwerpunkte sind Medien in Bezug auf die Förderung eines Wertebewusstseins, verschiedene Bildungsorte, Veranstaltungen und Netzwerke.
Selma Maglic ist medienpädagogische Referentin in der Abteilung Praxis des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Ihre Schwerpunkte sind diskriminierungssensible und rassismuskritische Medienpädagogik.
Dr. Georg Materna arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Forschung des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Seine Schwerpunkte sind die Meinungsbildung junger Menschen in sich wandelnden Öffentlichkeiten und universelle Extremismusprävention im Schnittpunkt von Medienpädagogik und politischer Bildung.
Dr. Ida Pöttinger, Gründungsmitglied von IAME (International Association for Media Education) war Vorstandsvorsitzende der GMK – Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur sowie Referentin am Landesmedienzentrum (LMZ) und an der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK).
Benedikt Aigner/Linus Einsiedler/Michael Gurt/Selma Maglic/Georg Materna: Postmigrantische Medienpädagogik in Zeiten von Krieg und Konflikt
Junge Menschen mit Kriegs- und Fluchterfahrung gehören zunehmend zur Zielgruppe medienpädagogischer Praxis und Forschung. Für eine postmigrantische Medienpädagogik entstehen daraus neue Herausforderungen. Im Text reflektieren die Autor*innen auf Basis ihrer Erfahrungen, welche Konsequenzen für Schutz und Teilhabe diverser Zielgruppen sowie das eigene pädagogische Handeln daraus entstehen.
Literatur
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