Hans Nieswandt
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Hans Nieswandt: plus minus acht. DJ Tage DJ Nächte
Man nannte ihn Medizinmann und Schamane, Priester, Kapitän oder Therapeut. Er allein kannte die Zutaten, war Meister der Ekstase und schickte sie nachtlang auf Reisen. Selbst blieb er im Hintergrund, war aber doch allgegenwärtig und knetete ihre Seelen. So nur einige der Klischees und Metaphern, die für ein paar Jahre alle denselben meinten. Vom DJ ist die Rede, schillernder Kulturheld der elektronischen 90er, der mit zwei Plattenspielern, Minimischpult, Plattenkiste und viel handwerklichem Geschick („skills“) Welten ganz neuer Tanz- und Körperlust erschloss und zugleich Diskurse im Gefolge modischer Philosophen wie Gilles Deleuze und Felix Guattari auslöste und das Feuilleton elektrisierte.Hans Nieswandt ist DJ und war schon damals dabei. Keiner der großen Technostars wie Marusha („Somewhere Over The Rainbow“) oder - bis heute - Sven Väth und Westbam, sondern im weniger spektakulären, dafür aber wohl nachhaltigeren Elektrofach House. Discosound der 70er unter Bedingungen der neuen DJ Culture, weniger geschwindigkeitsfixiert als der Bruder mit Love Parade und ravolutionistischem Verschwörungsraunen, in den Clubs dafür aber bis heute eine stabile Szene. Nieswandt ist dort eine reputierte Größe. 1996 landeten er, Justus Köhncke und Eric D. Clark mit ihrem Projekt „Whirlpool Productions“ und dem humorig pumpenden „From: Disco To: disco - by a click of a mouse“ sogar in den Charts einen Hit.„Unsere Erkennungsmelodie“ und zugleich Platte der Rubrik „Mist, das habe ich zu Hause vergessen“, wenn er heute loszieht und mal wieder damit rechnen muss, von ‚Hörerwünschen‘ belästigt zu werden. Darüber und weitere persönliche wie verallgemeinerbare „Ereignisse zwischen 33 und 45“ schreibt Nieswandt jetzt in „plus minus acht“.
Der Titel steht für die Pitchcontrol an Plattenspielern zur Regelung der Laufgeschwindigkeit. Ein DJ gleicht damit blitzschnell zwei ineinander zu mixende Platten an. Ähnlich arbeitet Nieswandt, einst Redakteur bei der poplinken Musikzeitschrift „Spex“, auch wenn er schreibt. Gewandt, materialsicher, am Funkensprung orientiert – der ihm gelingt und den Unterschied zu vielem macht, was seit Geburt des DJs in der Historie darüber veröffentlicht wurde.Ein Unterschied, den das gerade neu aufgelegte Heft 3 der intellektuellen Musikzeitschrift „testcard – beiträge zur popgeschichte“ (Ventil-Verlag) 1996 so erklärte: „Es gibt DJs und es gibt Plattenaufleger. Der DJ zeichnet sich dadurch aus, dass er die Kunst des Mischens beherrscht. Indem er die Stücke ineinander fließen lässt, ohne dabei den Beat fallen zu lassen, versetzt er sein Publikum in einen permanenten Tanzrausch.Der Plattenaufleger beherrscht das nicht.“ Die erste ’89er Love Parade mit 150 „Friede, Freude, Eierkuchen“-Tänzern hinter einem VW-Bus in Berlin war da bereits Legende und das „Beats per minute“- Lebensgefühl ein Volksfest mit Dosenbier in Aldi-Tüten. 1997 umdrängten eine Million Raver die DJ-Trucks und schwemmten neben 150 Millionen Mark auch geschätzte 750.000 Liter Urin in die Stadt. Der Aufbruch im Schallschatten der DJ-Magier vermatschte zur längsten Pissrinne der Welt. Vom Zauber der Elektroklänge infizierte DJs wie Nieswandt nehmen das wohl wahr, sind davon aber nur wenig irritiert. Sie lassen den Beat weiter nicht fallen, obwohl Trittbrettfahrer (Alleinunterhalter mit Keyboard, CD-Wechsler und schlüpfrigen Sprüchen nennen sich heute ebenfalls DJ, wenn sie auf Opas Fünfundsiebszigstem zu Polonaise und Klammerblues aufspielen) und Erfolg mittlerweile für manche Nivellierung sorgten. Markt hat längst auch die DJ-Szenerie erfasst, wo zuerst nur Lust an der ‚Abfahrt‘ und gleichgesinnter Spaß an Musik, Körperekstase und Dauertanz die magische Formel war. Aber schließlich gab es an den Plattentellern seit Mitte der 90er viel Geld zu verdienen, weil das neue Entertainmenthandwerk zur Trendmaschine geworden war. Konzerne und große Marken sponserten zuvor illegal in Abbruchzonen veranstaltete Partys, die man nun flächendeckend als Event bezeichnete.
DJs jetteten um die Welt, saßen kurz auf Bioleks Boulevard und versorgten Goethe-Institute (Techno gilt bis heute als genuin deutsch) oder Seminare von Weltkonzernen mit Flair der neuen Zeit.„Corporate Clubbing“, wie Hans Nieswandt das nennt und miterlebte. So erzählt er etwa von einem Engagement auf Sardinien, wo ein Fahrzeugkonzern Händlern die neue Limousine präsentierte und Nieswandt neben andern fürs stimmungsvoll gedachte Abendprogramm buchte. Der Job brachte gute Gage und einen Quasiurlaub, aber auch manche Einsicht zum Stand der Zunft. Ein kiffender Althippie, zugleich Chef der zuständigen Kreativagentur aus London, drückte es ihm gegenüber so aus: „Sie brauchen die Freaks. Ohne uns wären ihre Produkte nur blöde Blechkisten.“ Der DJ also bloß eine weitere Facette im neuerungssüchtigen Zeitgeistdesign? Jüngste Subkulturtype, die sich der Markt einverleibte? Ein gesellschaftsstabilisierender Aspekt, der bedingt sicher auch auf die nächtliche Triebabfuhr in den Clubs übertragbar ist.Nieswandt hat das alles mit wachem Auge und manchem Magendrücken miterlebt – und reflektiert. Bedauern oder Nostalgie sucht man in dem so storysatten wie nachdenklichen Bericht aber dennoch vergeblich. Staunendes „Je ne regrette“ überwiegt, trotz berufsbedingtem Ohrenpfeifen, Ausverkauf und manch nächtlicher Odyssee zu obskuren Partystätten oder aufdringlichem Gast, der das DJ-Pult belagerte.Im angenehmen Nebenher erklärt „plus minus acht“ auch, wie es rein technisch funktioniert, vor allem aber, wie und warum einer wie Nieswandt an den Tellern erhebende, teils nachtlange Momente gelungener Beatkommunion von DJ und den Clubbern auf der Tanzfläche erleben kann.
Zugleich erzählt er von verstörenden Erlebnissen seiner DJ-Karriere wie reizvollen Goethe-Institut-Reisen nach Brasilien, Mexiko und Süd-Afrika, wo der Abkömmling einer ausgelassenen, aber eben europäisch satten und sicheren Clubkultur nicht nur auf Gleichgesinnte („ganz im Sinne solcher Goethe-Projekte: das gezielte Aufeinandertreffen von Phänomenen, das bewusste Herstellen von Wahlverwandtschaften“), sondern auch auf sozial ungleich härtere und teils höchst gewalttätige Alltage traf.Irritationen, die er in anderer Gestalt auch bei Gigs im (deutschen) „Northern Osten“ erlebte, in der zeigefingerfernen Haltung eines DJs aus Überzeugung aber stets in jene Euphorie überführen konnte, die für sein DJing wie sein Selbstverständnis wichtig ist: „Eine Basis der Branche ist dieses eigentümliche Urvertrauen in das, was ich schlafwandlerisches Gleiten nenne.“ An einem vierstündigen Auftritt mit „Whirlpool Productions“ in Bilbao beschreibt er es so: „Ich mochte immer die Idee, unsere House Music live so intuitiv und traumwandlerisch mäandernd wie Grateful Dead aufzuführen. In dieser Nacht kamen wir dieser Idee so nahe wie selten.“ Ein Schauder, den er und viele Kollegen bis heute in den Clubs miterlebbar machen. „plus minus acht“ gibt dazu einen prägnanten Vor- wie Nachgeschmack.