Maximilian Niesyt
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Maximilian Niesyt: Eine Reise in den Verstand
Übersprudelnde Innovationsfreude war in den letzten Jahren nicht gerade ein Attribut, dass sich die großen Hollywood-Animationsstudios bei der Produktion von Zeichentrickfilmen auf die Fahne schreiben konnten. Das trifft auch auf die kalifornischen Entwickler von Pixar zu – deren letzte Filmwerke wie Cars 2 (2011) und Die Monster Uni (2013) waren zwei familientaugliche, aber inhaltlich eher mediokre Fortsetzungen, die großen und kleinen Zuschauerinnen und Zuschauern über ihre bekannten Protagonistinnen und Protagonisten hinaus keine übermäßig spannenden neuen Geschichten bieten konnten. Umso erstaunlicher, welch ausgefallenes und originelles Szenario sich Pixar nun in seinem 15. Spielfilm Alles steht Kopf ausgedacht hat: Ein Großteil der Handlung spielt sich ausschließlich im Kopf der zwölfjährigen Riley ab, ein leicht burschikos wirkendes Mädchen aus einer Kleinstadt in Minnesota. In der Tradition älterer Pixar-Hits wie Toy Story (1995) existiert dort eine von den Menschen abgekoppelte Parallelwelt – eine Art Schaltzentrale, in der die fünf Gefühle Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel Tag für Tag versuchen, Rileys seelisches Wohlbefinden aufrechtzuerhalten. Ihre ‚Währung‘ sind durch Rileys positive und negative Erfahrungen produzierte Murmeln, die fünf mit dem Hauptquartier verbundene ‚Persönlichkeitsinseln‘ aufrechterhalten: die Familieninsel, die Freundschaftsinsel, die Quatschmachinsel, die Ehrlichkeitsinsel und die Eishockeyinsel (Eishockey ist Rileys großes Hobby). Jede dieser Inseln sorgt auf ihre Weise dafür, dass Riley sich glücklich und ausgeglichen fühlt.
Kein Wunder, dass die optisch an eine kleine, gelbe Fee erinnernde Freude die heimliche Anführerin der Kommandozentrale ist. Da Riley in einem liebevollen Umfeld aufwächst und viele Freundinnen und Freunde hat, sind die meisten Erinnerungen ihr zugeteilt. Doch auch Ekel (ein grünfarbenes, etwas zickig wirkendes Mädchen), Wut (ein Männchen mit knallrotem Kopf und zu eng gebundener Krawatte) und Angst (eine dünne, blasslilafarbene Gestalt) sorgen dafür, dass Riley jede Gefahrsituation meistert. Nur die Funktion des blaufarbenen lethargischen Mauerblümchens Kummer gibt den anderen Gefühlen Rätsel auf. Rileys Leben scheint perfekt, doch als ihre Eltern beschließen ins unübersichtliche Los Angeles zu ziehen, gerät ihr Gemütslage gefährlich ins Schwanken: Rileys Eltern haben im Umzugsstress keine Zeit mehr für sie, sie bricht am ersten Schultag vor Heimweh vor der ganzen Klasse in Tränen aus und ihr erstes Eishockeytraining auf neuem Boden endet im Desaster. Die große Stunde von Kummer scheint gekommen: Wie im Zwang produziert sie nonstop traurige Erinnerungen und gerät so in eine Auseinandersetzung mit Freude, woraufhin beide versehentlich in Rileys Langzeitgedächtnis gesaugt werden. Zurück bleiben Ekel, Wut und Angst, die zu dritt bedenkliches Chaos stiften und eine Persönlichkeitsinsel nach der anderen zum Einsturz bringen. Von da an lebt die Handlung in erster Linie von den Interaktionen zwischen dem ungleichen Paar Freude und Kummer. Um zurück ins Hauptquartier zu gelangen und zu verhindern, dass Riley jeglichen Halt verliert, müssen Freude und Kummer durch den Verstand des Mädchens ziehen: ins Traumland, durch das abstrakte Denken bis hin zur Erinnerungsdeponie, wo auch Rileys imaginärer Freund Bing Bong lagert. Schließlich erreichen sie die Zentrale wieder. Es ist alles wieder in Ordnung, doch Freude stellt fest: Ein Lebensabschnitt geht zu Ende. Riley wird erwachsen. Von jetzt an ist Kummer eine genauso wichtige, unentbehrliche Emotion wie alle anderen auch.
Die metaphorische Idee vom kindlichen Gemüt als Schaltzentrale bzw. ‚Fabrik‘ und von Emotionen als die dort tätigen ‚Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter‘ läuft bei Alles steht Kopf nur auf den ersten Blick Gefahr, Kindern zu kompliziert zu werden. Tatsächlich werden abstrakte Konzepte wie Stimmungen, Emotionen und Erinnerungen vom Filmteam so plastisch, ‚menschlich‘ und farbenfroh in Szene gesetzt, dass sie auch für jüngere Zuschauende ab dem Grundschulalter fassbar sind. Und da das aktuelle Pixar-Werk zudem wie gewohnt optisch nur so vor Ideenreichtum und Detailverliebtheit strotzt und von hochgradig albern bis hintergründig schlagfertig die gesamte Palette an Gags und Witzen nutzt, dürfte in allen Altersstufen zu keiner Sekunde Langeweile aufkommen. Das ganz große emotionale Mitfiebern bricht bei aller Spannung und Spaß jedoch eher nicht aus: Um von den jungen Zuschauerinnen und Zuschauern als Identifikationsfigur wahrgenommen zu werden, mangelt es der Hauptprotagonistin Riley als typisch amerikanisches Durchschnittskind aus der Mittelklasse zu sehr an Ecken und Kanten sowie individuellen Eigenschaften.
Die ‚Stars‘ des Films sind die Gefühle, aber auch diese sind aufgrund ihrer Funktion für die Handlung − wie Freude als Daueroptimistin und Kummer als durchgehend depressives Wesen − zu eindimensional angelegt, um als Bezugspersonen zu fungieren, um deren Schicksal Kinder wirklich bangen. So ist die neue Arbeit aus dem Hause Pixar ein echter Familienfilm – denn es ist bemerkenswert, mit welcher Doppelbödigkeit das Werk zwei für Kinder und Erwachsene unterschiedliche Lesarten bereitstellt. Aus kindlicher Sicht ist Alles steht Kopf ein witziges und kurzweiliges Filmangebot, das Mut macht. Die Botschaft: Auch negative Gefühle haben ihre Daseinsberechtigung und es kann befreiend sein, sie zuzulassen und sich mit ihnen vertrauenswürdigen Personen (wie den Eltern) anzuvertrauen. Erwachsene hingegen werden, basierend auf ihren eigenen Erfahrungen, den Film als einen allegorischen Abgesang auf die unbeschwerte Kindheit auffassen und den Kinosaal mit Blick auf den eigenen größer werdenden Nachwuchs eventuell sogar mit einem Kloß im Hals verlassen.
Alles steht Kopf
USA 2014 , 94 MinutenRegie: Pete DocterVerleih: Walt DisneyFSK: ohne Altersbeschränkung
Filmstart: 1. Oktober 2015
Maximilian Niesyt: „Eigentlich mach‘ ich das gar nicht so freiwillig“
Der Schwindel von Newtopia
Als SAT.1 im Juli dieses Jahres die Tore von Newtopia schließen ließ, besiegelte der Münchener Privatsender nicht nur einen der größten kommerziellen Flops, sondern auch eine der aufsehenerregendsten Zuschauertäuschungen der deutschen TV-Geschichte. Mit immensem Aufwand hatte der Sender zuvor sein neues Reality TV-Format beworben, in der eine Gruppe aus 15 Kandidatinnen und Kandidaten, die sogenannten Pioniere, auf einem abgezäunten Landstrich in Brandenburg eine neue Gesellschaft mit eigenen Regeln und Normen aufbauen sollten. Natürlich begleitet von unzähligen Fernsehkameras, die Material für einen täglichen Zusammenschnitt der Ereignisse lieferten, mit dem die Zuschauerinnen und Zuschauer dauerhaft vor die Bildschirme gelockt werden sollten. Besonders betonte man bei Newtopia dabei stolz die vermeintliche Authentizität des Gezeigten: ‚echte‘ Protagonistinnen und Protagonisten fällen freie Entscheidungen, auf Eingriffe von Seiten der Produzierenden und des Senders wird komplett verzichtet – quasi ‚Unscripted Reality‘. Die ungefilterte Realität ohne Drehbuch. Eine glatte Lüge, wie sich Monate später herausstellte: Über den Internet-Stream von Newtopia konnten die Zuschauerinnen bzw. Zuschauer eines Nachts plötzlich verfolgen, wie die Kandidatinnen und Kandidaten seitens der Produktionsebene Regieanweisungen erhielten. Ein großer Schwindel, der ein vernichtendes Medienecho nach sich zog und die Einschaltquoten so in den Keller fallen ließ, dass SAT.1 nach nur 101 Tagen vorzeitig den Stecker zog und das Format absetzte.
Narratives und performatives Reality TV: Fragwürdige Zerrbilder von Welt
Der Fall Newtopia zeigt, dass speziell diese performative Gattung des sogenannten Reality TV, bei dem dramaturgisch in die tatsächlich stattfindende Wirklichkeit von Menschen eingegriffen wird, aus medienpädagogischer Sicht mehr denn je kritisch beäugt und bewertet werden muss. Ihr gegenüber stehen innerhalb des Genres Vertreter der narrativen Scripted Reality-Formate wie Mein dunkles Geheimnis (SAT.1), Schicksale (SAT.1) oder Verdachtsfälle (RTL), in denen Laiendarstellerinnen und -darsteller in fiktive Rollen schlüpfen und frei erfundene Geschichten inszenieren. Schon diese Sendungen entpuppen sich für Kinder und Jugendliche als nicht unproblematisch. Durch die dramatische Aufbereitung werden Konflikte stark überspitzt dargestellt, die Akteurinnen und Akteure streng in Gut und Böse eingeteilt und auf wenige Stereotype heruntergebrochen. Durch filmische Mittel wie eine bewusst dilettantische Kameraführung und eine pseudo-dokumentarische Erzählweise glauben nicht wenige jüngere Zuschauerinnen und Zuschauer, dass die gestellten Szenen echt seien und orientieren sich unter Umständen an den fragwürdigen Vorbildern der Sendungen. Zumindest im Abspann solcher Formate wird der ‚Fake‘ jedoch stets kenntlich gemacht (meist durch die Texteinblendung „Die Fälle und handelnden Personen sind frei erfunden“), so dass sich für Eltern und pädagogische Fachkräfte abseits der oftmals übertriebenen Machart ein Anknüpfungspunkt zur Aufklärung bietet.
Wenn der ‚Fake‘ als echt verkauft wird
Doch auch mit Wissen um die Inszenierung bleiben Scripted Reality-Sendungen bei jungen Zuschauenden hoch im Kurs. Die ‚Währungen‘, die dabei hohe Einschaltquoten garantieren, sind zum einen Realitätsnähe und Glaubwürdigkeit, zum anderen spannende und emotional packende Geschichten. Mit dem Bestreben, beide Erfolgsfaktoren miteinander zu kombinieren, haben performative Reality TV-Produktionen wie Newtopia oder das kürzlich zu Ende gegangene Promi Big Brother (SAT.1) eine zusätzliche problematische Ebene eröffnet – während Scripted Reality-Formate einen Hinweis auf die Inszenierung geben, liefern diese Produktionen keinerlei Einordnung. Stattdessen wird suggeriert: Hier agieren reale Menschen in Echtzeit unter ihrem Klarnamen. Das Gezeigte sei nichts anderes als das abgefilmte Leben. Inwiefern es produktionstechnischen Eingriffen unterliegt, bleibt offen. Dass diese tatsächlich existieren, das zeigen Berichte von ehemaligen Teilnehmenden an Sendungen wie Frauentausch (RTL II), Bauer sucht Frau (RTL) oder Schwiegertochter gesucht! (SAT.1). Aus dem offenen ‚Fake‘ wird so nicht selten eine undurchschaubare Täuschung.
„Eigentlich mach‘ ich das gar nicht so freiwillig“
Egal, ob eine deutsche Familie beim Auswandern gefilmt oder Daniela Katzenberger während ihrer Schwangerschaft mit der Kamera begleitet wird – grundsätzliche Skepsis über den Authentizitätsgehalt der Aufnahmen ist angebracht. Zu sehr haben Produzierende und Redakteurinnen sowie Redakteure bereits verinnerlicht, dass die handelnden Akteurinnen und Akteure bei aller Realitätsnähe auch spannende Geschichten abliefern müssen. Kinder und Jugendliche können deshalb nicht früh genug dafür sensibilisiert werden, dass auch in non-fiktionalen Inhalten im Fernsehen gerne mal ‚nachgeholfen‘ wird. Das kann schon im Kleinen beginnen, wie zum Beispiel bei einem Kandidaten der Castingshow Deutschland sucht den Superstar (RTL), der sich 2013 nach einem oberkörperfreien Gesangsauftritt vor laufenden Kameras ‚verplapperte‘, und gestand, die Produzierenden der Sendung hätten ihn zu der luftigen Kleiderwahl überredet („Eigentlich mach‘ ich das gar nicht so freiwillig“) – aber eben auch im großen Stil wie bei Newtopia stattfinden.
Big Brother is watching you again – der Kreis schließt sich
Denn das quotenträchtige Geschäft mit dem ‚wahren Leben‘ im Fernsehen ist noch lange nicht am Ende – im Gegenteil: es erlebt derzeit eine Renaissance. Seit Mitte September hat der Sender sixx mit Big Brother sogar wieder die ‚Mutter‘ aller Reality TV-Shows im Programm. Das Format aus den Niederlanden läutete im Jahr 2000 im deutschen Fernsehen die große Welle des Reality TV ein. Doch vor allem die Gewohnheiten der jüngeren Zuschauerinnen und Zuschauer haben sich inzwischen verändert. Beim kontrovers diskutierten Start der ersten Big Brother-Staffel standen noch ethische Fragen zur Debatte: Ist es menschenwürdig, mit Fernsehkameras derart kompromisslos in die Privatsund Intimsphäre des Einzelnen einzugreifen und zu unterhaltenden Zwecken zur Schau zu stellen? 15 Jahre später ist der öffentliche Diskurs diesbezüglich weitestgehend verstummt. Soziale Netzwerke im Internet haben Einzug in die Wohn- und Kinderzimmer gehalten und mit ihnen ist es für viele Kinder und Jugendliche selbstverständlich geworden, das eigene Privatleben einer (Teil-)Öffentlichkeit zu präsentieren und auch bewusst zu inszenieren. Dementsprechend seltener wird auch im Fernsehen der Authentizitätsgrad von dargestellter Realität überprüft. Das Comeback von Big Brother gibt Eltern und pädagogischen Fachkräften Gelegenheit, mit Heranwachsenden endlich mal wieder etwas genauer hinzuschauen.
Hans Nieswandt: plus minus acht. DJ Tage DJ Nächte
Man nannte ihn Medizinmann und Schamane, Priester, Kapitän oder Therapeut. Er allein kannte die Zutaten, war Meister der Ekstase und schickte sie nachtlang auf Reisen. Selbst blieb er im Hintergrund, war aber doch allgegenwärtig und knetete ihre Seelen. So nur einige der Klischees und Metaphern, die für ein paar Jahre alle denselben meinten. Vom DJ ist die Rede, schillernder Kulturheld der elektronischen 90er, der mit zwei Plattenspielern, Minimischpult, Plattenkiste und viel handwerklichem Geschick („skills“) Welten ganz neuer Tanz- und Körperlust erschloss und zugleich Diskurse im Gefolge modischer Philosophen wie Gilles Deleuze und Felix Guattari auslöste und das Feuilleton elektrisierte.Hans Nieswandt ist DJ und war schon damals dabei. Keiner der großen Technostars wie Marusha („Somewhere Over The Rainbow“) oder - bis heute - Sven Väth und Westbam, sondern im weniger spektakulären, dafür aber wohl nachhaltigeren Elektrofach House. Discosound der 70er unter Bedingungen der neuen DJ Culture, weniger geschwindigkeitsfixiert als der Bruder mit Love Parade und ravolutionistischem Verschwörungsraunen, in den Clubs dafür aber bis heute eine stabile Szene. Nieswandt ist dort eine reputierte Größe. 1996 landeten er, Justus Köhncke und Eric D. Clark mit ihrem Projekt „Whirlpool Productions“ und dem humorig pumpenden „From: Disco To: disco - by a click of a mouse“ sogar in den Charts einen Hit.„Unsere Erkennungsmelodie“ und zugleich Platte der Rubrik „Mist, das habe ich zu Hause vergessen“, wenn er heute loszieht und mal wieder damit rechnen muss, von ‚Hörerwünschen‘ belästigt zu werden. Darüber und weitere persönliche wie verallgemeinerbare „Ereignisse zwischen 33 und 45“ schreibt Nieswandt jetzt in „plus minus acht“.
Der Titel steht für die Pitchcontrol an Plattenspielern zur Regelung der Laufgeschwindigkeit. Ein DJ gleicht damit blitzschnell zwei ineinander zu mixende Platten an. Ähnlich arbeitet Nieswandt, einst Redakteur bei der poplinken Musikzeitschrift „Spex“, auch wenn er schreibt. Gewandt, materialsicher, am Funkensprung orientiert – der ihm gelingt und den Unterschied zu vielem macht, was seit Geburt des DJs in der Historie darüber veröffentlicht wurde.Ein Unterschied, den das gerade neu aufgelegte Heft 3 der intellektuellen Musikzeitschrift „testcard – beiträge zur popgeschichte“ (Ventil-Verlag) 1996 so erklärte: „Es gibt DJs und es gibt Plattenaufleger. Der DJ zeichnet sich dadurch aus, dass er die Kunst des Mischens beherrscht. Indem er die Stücke ineinander fließen lässt, ohne dabei den Beat fallen zu lassen, versetzt er sein Publikum in einen permanenten Tanzrausch.Der Plattenaufleger beherrscht das nicht.“ Die erste ’89er Love Parade mit 150 „Friede, Freude, Eierkuchen“-Tänzern hinter einem VW-Bus in Berlin war da bereits Legende und das „Beats per minute“- Lebensgefühl ein Volksfest mit Dosenbier in Aldi-Tüten. 1997 umdrängten eine Million Raver die DJ-Trucks und schwemmten neben 150 Millionen Mark auch geschätzte 750.000 Liter Urin in die Stadt. Der Aufbruch im Schallschatten der DJ-Magier vermatschte zur längsten Pissrinne der Welt. Vom Zauber der Elektroklänge infizierte DJs wie Nieswandt nehmen das wohl wahr, sind davon aber nur wenig irritiert. Sie lassen den Beat weiter nicht fallen, obwohl Trittbrettfahrer (Alleinunterhalter mit Keyboard, CD-Wechsler und schlüpfrigen Sprüchen nennen sich heute ebenfalls DJ, wenn sie auf Opas Fünfundsiebszigstem zu Polonaise und Klammerblues aufspielen) und Erfolg mittlerweile für manche Nivellierung sorgten. Markt hat längst auch die DJ-Szenerie erfasst, wo zuerst nur Lust an der ‚Abfahrt‘ und gleichgesinnter Spaß an Musik, Körperekstase und Dauertanz die magische Formel war. Aber schließlich gab es an den Plattentellern seit Mitte der 90er viel Geld zu verdienen, weil das neue Entertainmenthandwerk zur Trendmaschine geworden war. Konzerne und große Marken sponserten zuvor illegal in Abbruchzonen veranstaltete Partys, die man nun flächendeckend als Event bezeichnete.
DJs jetteten um die Welt, saßen kurz auf Bioleks Boulevard und versorgten Goethe-Institute (Techno gilt bis heute als genuin deutsch) oder Seminare von Weltkonzernen mit Flair der neuen Zeit.„Corporate Clubbing“, wie Hans Nieswandt das nennt und miterlebte. So erzählt er etwa von einem Engagement auf Sardinien, wo ein Fahrzeugkonzern Händlern die neue Limousine präsentierte und Nieswandt neben andern fürs stimmungsvoll gedachte Abendprogramm buchte. Der Job brachte gute Gage und einen Quasiurlaub, aber auch manche Einsicht zum Stand der Zunft. Ein kiffender Althippie, zugleich Chef der zuständigen Kreativagentur aus London, drückte es ihm gegenüber so aus: „Sie brauchen die Freaks. Ohne uns wären ihre Produkte nur blöde Blechkisten.“ Der DJ also bloß eine weitere Facette im neuerungssüchtigen Zeitgeistdesign? Jüngste Subkulturtype, die sich der Markt einverleibte? Ein gesellschaftsstabilisierender Aspekt, der bedingt sicher auch auf die nächtliche Triebabfuhr in den Clubs übertragbar ist.Nieswandt hat das alles mit wachem Auge und manchem Magendrücken miterlebt – und reflektiert. Bedauern oder Nostalgie sucht man in dem so storysatten wie nachdenklichen Bericht aber dennoch vergeblich. Staunendes „Je ne regrette“ überwiegt, trotz berufsbedingtem Ohrenpfeifen, Ausverkauf und manch nächtlicher Odyssee zu obskuren Partystätten oder aufdringlichem Gast, der das DJ-Pult belagerte.Im angenehmen Nebenher erklärt „plus minus acht“ auch, wie es rein technisch funktioniert, vor allem aber, wie und warum einer wie Nieswandt an den Tellern erhebende, teils nachtlange Momente gelungener Beatkommunion von DJ und den Clubbern auf der Tanzfläche erleben kann.
Zugleich erzählt er von verstörenden Erlebnissen seiner DJ-Karriere wie reizvollen Goethe-Institut-Reisen nach Brasilien, Mexiko und Süd-Afrika, wo der Abkömmling einer ausgelassenen, aber eben europäisch satten und sicheren Clubkultur nicht nur auf Gleichgesinnte („ganz im Sinne solcher Goethe-Projekte: das gezielte Aufeinandertreffen von Phänomenen, das bewusste Herstellen von Wahlverwandtschaften“), sondern auch auf sozial ungleich härtere und teils höchst gewalttätige Alltage traf.Irritationen, die er in anderer Gestalt auch bei Gigs im (deutschen) „Northern Osten“ erlebte, in der zeigefingerfernen Haltung eines DJs aus Überzeugung aber stets in jene Euphorie überführen konnte, die für sein DJing wie sein Selbstverständnis wichtig ist: „Eine Basis der Branche ist dieses eigentümliche Urvertrauen in das, was ich schlafwandlerisches Gleiten nenne.“ An einem vierstündigen Auftritt mit „Whirlpool Productions“ in Bilbao beschreibt er es so: „Ich mochte immer die Idee, unsere House Music live so intuitiv und traumwandlerisch mäandernd wie Grateful Dead aufzuführen. In dieser Nacht kamen wir dieser Idee so nahe wie selten.“ Ein Schauder, den er und viele Kollegen bis heute in den Clubs miterlebbar machen. „plus minus acht“ gibt dazu einen prägnanten Vor- wie Nachgeschmack.