Georg Maria Roers
Beiträge in merz
Georg Maria Roers: Wer war es, der meinen Mund zuschraubte?
Bei uns am Ort gab es kein Kaufhaus. In meiner Familie lernte ich eine Welt wahrzunehmen, die überschaubar war. Und jetzt? Wäre ich doch erst gar nicht in die Stadt gezogen, wie es im 20. Jahrhundert modern wurde. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein war es üblich, auf dem Land zu leben und im 21. Jahrhundert gilt plötzlich beides nicht mehr. Menschen von heute, die etwas auf sich halten, sind global vernetzt. Sie reisen durch die Welt und leben mal hier und mal dort. Wie sie leben, ist kaum auf einen Nenner zu bringen. Eine einzige mögliche Form des Familienlebens gibt es nicht mehr, denn die ideale traditionelle Familie - Eltern mit vier Kindern - hat mächtig Konkurrenz bekommen. Peter Neysters zählt in seinem Buch Heiraten - oder nicht? Chancen und Risiken einer Lebensentscheidung (München 2000) insgesamt 14 mögliche Lebensformen auf, die er in vier Gruppen zusammenfasst: die traditionelle Familie, die modernisierte Familie (Doppelverdiener-Familie, Wochenend-Familie, Familie mit Hausmann, Familie mit Tagesmutter), die neuen Eltern (alleinerziehende Mütter und Väter, homosexuelle Paare mit Kindern), die kinderlose Familie (Singles, kinderlose Ehe oder Partnerschaft, Wochenend-Beziehung, schwule und lesbische Partnerschaften), die zusammengesetzten Lebensformen (Stief- oder Fortsetzungsfamilien, freie Wohn- und Lebensgemeinschaften).Die ländliche-traditionelle Familie ist kein Ideal mehr. Der österreichische Literat Josef Winkler schreibt in seinem Roman Der Leibeigene Anfang der 90er über seine Kärntner Heimat: „Wer war es, der, als ich ein Kind war, meinen Mund zuschraubte und die blutigen Löcher mit Schraubenmuttern belegte? Wer war es, der Heiligenbilder, so groß wie Lesezeichen, auf meine Lippen klebte? An den Geruch der Hände, die von hinten kamen und mir die Augen zuhielten, kann ich mich noch erinnern. Einmal schlug mir jemand mit einer zusammengefalteten Zeitung auf den Mund. Ich suchte die Buchstaben, die von der Wucht des Schlages aus der Zeitung auf den Boden gefallen sein mussten, fand sie aber nicht.“
Dieses Stück österreichische Gegenwartsliteratur setzt mit dem Jahr 1897 ein. Seitdem hat es riesig viel Fortschritt gegeben. Aber in der Erziehung scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Kinder werden heute mehr denn je geschlagen!Ich hatte schon als Kind viele „Fragen“. So heißt auch ein autobiographisches Gedicht aus meinem Band Gestern war es Schnee (München 2000): „Der Dreizehnjährige rechnete / jeden Tag hieb- und stichfest / mit den Schlägen des Vaters // in der Hand seine / Gürtelschnalle im Gesicht / nichts als Hass und Schweiß // im Kopf die Rippen zu brechen / zerquetschen Fragen dem Jungen / seine gequälte Lunge // damals fühlte er nur / wie jemand das Blut / aus seinem Kopf wusch.“Je weniger Kinder der Gewalt ihrer Eltern ausgesetzt sind, je weniger sie nur auf ihre eigene traditionelle Familie fixiert sind, desto mehr können sie sich entfalten. Andererseits: Je vielfältiger die Formen des familiären Zusammenlebens in unserer Gesellschaft sind, desto wichtiger wird für das Kind die Geborgenheit in der Familie. Um welche Form von Familie es sich dabei handelt ist sekundär. Wie Frauen und Männer harmonisch miteinander zusammenleben, können Eltern, Geschwister, Verwandte, Freunde, Bekannte, Lehrer und Erzieher vorleben.Unsere Wahrnehmung wird durch unsere Umgebung und durch menschliche Beziehungen geprägt und verändert. Formenvielfalt trägt solange zur Lebensfreude bei, wie wir lernen, damit umzugehen.
Die Umgestaltung unserer Lebensumstände wird um so mehr gelingen, wie sich das soziale Netz nicht in ein undefinierbares, globales Netz verliert. Ausdruck von Leben kann nur anhand konkreter Formen gelingen.Wer nur Schönes erlebt, der wird kaum lernen über seinen Tellerrand hinauszuschauen. Wer dagegen nur Hässliches erlebt, der wird äußerlich und innerlich verkümmern. Um sich in der Welt zurechtzufinden, bleibt es wichtig, Schritt für Schritt zu lernen, was zu tun und was zu lassen ist. Das gilt auch und gerade, um in einer Informationsgesellschaft zu überleben.Kinder haben einen anderen Horizont als wir Erwachsene. Deshalb sind Formen keine Stilfrage, sondern lebenswichtig. Nur bei grüner Ampel über die Straße zu gehen, ist für ein Kind wichtiger, als zu wissen, wie eine Ampelanlage überhaupt funktioniert. Darüber können Mädchen und Jungen zukünftig noch genügend nachdenken, wenn es dann überhaupt noch Ampeln geben wird!
Georg Maria Roers SJ:
Seit kurzem bin ich der stolze Besitzer einer Zutrittskarte für das Café in der Glyptothek in München. Sie ist für ein Jahr gültig und kostet 2, 50 €. Man betritt den Tempel der griechischen Heroen und geht schnöde an Ihnen vorbei, um eine Latte Macchiato zu sich zu nehmen. Kunst und Mythos, ein Hochgenuss! Lassen wir die heidnischen Götter einmal links liegen. Plötzlich dringt eine ganze Schulklasse in meine friedliche Oase ein, von der ich dachte, sie sei ein Geheimtipp. Bevor Gefühle von Ärger aufkommen, spüre ich, die Kinder sind nicht die tobende Meute aus Astrid Lindgren´s Buch „Pippi Langstrumpf“, vor denen sich jeder Museumswärter fürchtet. Die Schulklasse ist anders. Die Schüler sind erstaunlich leise. Warum? Jedes Kind ist auf die eine oder andere Weise gehandicapt. Sie entsprechen nicht dem Schönheitsideal der Griechen. Dennoch erstarre ich in Ehrfurcht. Ich konnte miterleben wie die Kinder und Erzieher aufs herzlichste unkompliziert miteinander umgingen.
Es ging ein Charme von Ihnen aus, der wider Erwarten ganz gut in meine Oase passte.Tippen Sie einmal die Worte handicapt people in ihre Suchmaschine. Das erste was sie lesen können ist folgendes: „You are handicapt? No problem, in the Berchtesgaden region there is a company specialized for handicapt people too.“ Bei aller Liebe zur PR. Wie soll ein körperlich behinderter Mensch den Watzmann besteigen? Das ist eben doch ein Problem! Niemand kann über seinen eigenen Schatten springen. Davor können wir die Augen nicht verschließen. Es wird in Deutschland sehr viel für Menschen mit Behinderrungen getan. In Japan z.B. achtet man peinlich genau darauf, dass sie im Stadtbild gar nicht auftauchen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Dennoch gilt momentan, um uns herum geschehen Dinge, die dunkel sind wie die Nacht. Das Völker- und Menschenrecht gibt es nicht deshalb, um sich zwischen zwei Buchdeckeln zu verstecken. Die Vereinten Nationen setzen sich weltweit vor allem für die Rechte der Menschen ein, deren Stimme sonst niemand hört. Es gibt sie noch die guten Menschen, könnte man in Anlehnung an den Slogan einer bekannten Einrichtungsfirma sagen. Oder haben uns so sehr an die schönen Dinge gewöhnt, dass wir die Realität der Menschen in Armut gar nicht mehr wahrnehmen? Dabei können wir uns gegenseitig bereichern! Das gilt ohne Unterschied von Ansehen, Herkunft und Wissensstand der jeweiligen Person.
Vor einiger Zeit fuhr ich mit einem Sehbehinderten Musiker durch die Stadt. Irgendwie hatte ich mich verfahren. Plötzlich leitet mich mein fast blinder Beifahrer durch die Straßen. Wir erreichten unser Ziel pünktlich. Ich war verblüfft. Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass das Wort handicapt nicht immer zutrifft. Kann es sich unser Staat wirklich leisten, die finanzielle Unterstützung für behinderte Menschen drastisch zu kürzen? Kann unsere Gesellschaft, die von sich behauptet sozial ausgerichtet zu sein, wirklich so blind sein für die Not der Schwächsten? Wie heißt es in einer Erzählung von Franz Englert: „Es herrschte einmal vor alter Zeit im Berchtesgadener Lande ein König namens Watzmann. Derselbe liebte weder Menschen noch Tiere und süße Lust war es seinem grausamen Herzen, die Menschen zu quälen und die Tiere zu martern. Darum war auch die wilde Jagd seine höchste Freude. Als der König einmal nach Sonnenuntergang von der Jagd zurückkehrte, sah er ein Mütterlein mit Enkelin auf ihrem Schoß vor ihrer Hütte sitzen. Weil aber der König so böse war, zerstampften Ross und Reiter die Beiden und als der Bauersmann und sein Weib zur Hilfe eilten, hetzte der König seine schnaubenden Rüden auf sie. Da erhob das Mütterlein mit gebrochenem Blick die zerfleischte Rechte und verfluchte im Sterben den König, die Königin und ihre sieben Kindern. Und die Erde erbebte, Feuer sprühte aus dem Schoße der Erde und verwandelte Vater, Gattin und Kinder in riesige Felsen. So steht bis auf den heutigen Tag der Watzmann mit Gattin und sieben Kindern in riesige Felsen verwandelt, als ewiges Wahrzeichen im Berchtesgadener Land.“ Stellen Sie sich einmal vor, Deutschland wäre eine einzige Alpenkette von Oberstdorf bis Berlin.