Eva-Maria Rüdiger
Beiträge in merz
Eva-Maria Rüdiger: Kinderfernsehen mit dem "beeb"
Zwei große Trends bestimmen in zunehmendem Maße das Kinderfernsehen: Die Internationalisierung und die sparten- und zielgruppenspezifische Ausdifferenzierung durch spezielle Kinderkanäle. An den neuen digitalen Kindersendern der BBC lassen sich diese und andere Trends – auch im Vergleich mit dem deutschen Kinderfernsehen – beispielhaft aufzeigen .Was waren das für Zeiten, als Kinder ihre ersten Lesefähigkeiten intensiv an der Programmzeitschrift üben mussten, um zu erfahren, wann ihre liebsten Fernsehhelden zu sehen sein würden! Das, was für die jetzige Elterngeneration noch klaglose Selbstverständlichkeit war, ist für ihre Kinder heute der Schnee auf den Bildschirmen von gestern. Auf zahlreichen Kanälen finden sie jederzeit eine Vielzahl von Angeboten, die es ihnen ermöglicht, ihre Lieblingsfiguren täglich zur selben Zeit am angestammten Ort – sprich Programm – zu treffen. Und das sogar rund um den Globus: Große Sendernetzwerke, internationale Kooperationen und der allgegenwärtige Budgetdruck sorgen dafür, dass erfolgreiche Programme weltweit gehandelt werden und somit gleichzeitig den Kindern in Deutschland, Frankreich, Amerika und Australien zur Verfügung stehen. Kinderfernsehen muss deshalb immer stärker im Kontext zweier Trends gesehen werden, und zwar einerseits der Internationalisierung und andererseits der Ausdifferenzierung im Rahmen von Sparten- und Zielgruppenkanälen. Diese sorgen ihrerseits für einen immer größeren Bedarf an Programmen, der wiederum international gedeckt wird. Deshalb lohnt der vergleichende Blick über die Grenzen, der hier beispielhaft für das Kinderfernsehen in Deutschland und Großbritannien geleistet werden soll
. Vorreiter bei der Gründung der zielgruppenorientierten Kinderkanäle waren vor allem die kommerziellen Anbieter, insbesondere die großen „global player“ Disney / Fox, Nickelodeon und Cartoon Network, die erstmals das Interesse sowohl der jungen Zuschauer als auch der Werbekundschaft auf die Möglichkeiten der speziell auf die Bedürfnisse definierter Altersgruppen zugeschnittenen Angebote lenkten. Diese Kinderkanäle sind in zahlreichen Ländern, jedoch in der Regel nur als (digitales) Pay-TV zu empfangen. In den letzten Jahren zogen dann die nationalen Sender allmählich mit entsprechenden eigenen Angeboten nach, und zurzeit ist geradezu ein Boom an entsprechenden Ausgründungen und Umstrukturierungen zu verzeichnen: In Deutschland hat der KI.KA gerade seinen fünften Geburtstag gefeiert und nimmt als bislang einziger frei empfangbarer (und noch dazu werbefreier) Kinderkanal zurzeit noch eine Sonderstellung ein – die private Konkurrenz bietet z.T. zwar überwiegend, aber eben nicht ausschließlich speziell für Kinder produzierte Programme an. Ab 2003 nun „darf der KI.KA abends länger aufbleiben“, wie die clevere Jubiläums-Werbebotschaft aus Erfurt lautete: Nach der erfolgreichen Etablierung des Senders, aber auch angesichts der privaten Konkurrenz nach dem „Sandmännchen“, weitet der Sender sein Programmangebot nun auch auf die Abendschiene aus – ein logischer Schritt, trotz der vorhersehbar zunehmenden Konflikte um die Vorherrschaft an der Fernbedienung in Haushalten mit nur einem Fernsehgerät…
Dagegen will RTL II ab 2004 mit einem speziellen „Manga“-Sender punkten, der ausschließlich japanische bzw. asiatische Animationen wie „Pokémon“ und „Dragonball“ senden wird, sich dabei aber auch an junge Erwachsene richten soll .In Großbritannien hat sich vor einer Weile auch die altehrwürdige BBC zur Ausgründung spezieller Angebote entschlossen, um den zurzeit existierenden 14 kommerziellen reinen Kindersendern – die zumeist von den o.g. Networks getragen werden - die Stirn zu bieten. Während anfangs wie in Deutschland lediglich ein Sender für Kinder aller Altersgruppen geplant war, wurde schließlich eine Ausdifferenzierung nach dem Alter der Zielgruppe als notwendig erachtet . So gingen im Frühjahr 2002 neben mehreren digitalen Sender-Neustarts bzw. –Umstrukturierungen gleich zwei digitale BBC-Kinderkanäle „on air“, die ihre Zuschauerschaft nahtlos aneinander weiterreichen können: Während CBeebies Kinder im Vorschulalter, also bis 6 Jahre, bedient, richtet sich CBBC an die 6- bis 13-Jährigen. CITV, die Kinderabteilung des Privatsendersystems ITV, plante einen ähnlichen Schritt zur Verstärkung seiner Aktivitäten im Kinderprogrammbereich als Teil eines neuen, genrebasierten Netzwerks, doch wurden diese Pläne aufgrund von Budgetkürzungen nach einem drastischen Rückgang der Werbeeinnahmen zunächst zurückgestellt. Dies wurde von zahlreichen Akteuren der britischen Kinderfernsehszene - darunter „Teletubbies“-Erfinderin Anne Wood und BBC-Kinderprogrammchef Nigel Pickard - öffentlich bedauert, da der Wettbewerb mit der ITC als privater, aber ebenfalls qualitätsbewusster und von außen regulierter Konkurrenz zur BBC eine der wichtigsten treibenden Marktkräfte sei.
Dafür könnte demnächst im Pay-TV-Bereich ein neues Angebot für Vorschulkinder zu sehen sein: Disney plant für 2003 eine Ausgliederung und Erweiterung seines in die bisherigen Network-Sender integrierten Vorschulprogrammangebots „Disney Playhouse“ im Rahmen eines eigenen, zielgruppenorientierten Vorschulsenders .Doch zurück zu den aktuellen Neustarts der BBC, die dem leicht angestaubten Image des Mutterhauses bei den britischen Zuschauern aufhelfen sollen. Bei CBBC und CBeebies finden sich zahlreiche Parallelen zum deutschen KI.KA: Die neuen Sender sind gebührenfinanziert, werbefrei, den öffentlich-rechtlichen Qualitätsansprüchen ihres Mutterhauses verpflichtet und teilen sich ab 19 Uhr den Kanal mit einem Programm für Erwachsene, Ceebies z.B. mit dem Kulturkanal BBC 4. Zumeist verfügen sie über das Erstausstrahlungsrecht für neue Programme, die im Rahmen der Senderfamilie produziert oder angekauft wurden, und reichen einen Teil der bei ihnen ausgestrahlten Produktionen in die Kinderprogrammschienen der Vollprogramme BBC 1 und BBC 2 weiter. Ein Großteil des Programms wird jedoch, ebenfalls wie beim KI.KA, mit Wiederholungen der öffentlich-rechtlichen Kinderprogramm-Klassiker bestritten, die nun in neuem Rahmen von jungen, unverbrauchten Moderatoren präsentiert werden.
Die Präsentation fällt allerdings gemäß den Vorlieben der jeweiligen Zielgruppen unterschiedlich aus: CBBC darf sich bunter, frecher und flotter präsentieren als CBeebies, das in pastelligerem und weniger hektischem Gewand daherkommt und hauptsächlich animierte Puppencharaktere mit realen Moderatoren kombiniert. Inhaltlich betont CBeebies nach eigenen Angaben das spielerische Lernen durch Unterhaltung, während CBBC den bereits gewohnten Mix aus Fiktion, Nachrichten, Unterhaltung, Mitmachtipps, Allgemeinwissen und Cartoons aus dem bisherigen Kinderprogrammangebot der BBC übernehmen und ausbauen soll. Gegenüber dem expliziten Bildungsauftrag der BBC geht die Kinderabteilung jedoch vorsichtig auf Distanz – ihr Ziel scheint weniger „education“ als vielmehr „edutainment“ zu sein .Zwar verlief der Start der beiden Sender recht schleppend, doch gibt sich die BBC zuversichtlich: Nach den Plänen der Verantwortlichen sollen die beiden Sender bis zum Jahresende gemeinsam die Marktführerschaft bei den britischen Kinderkanälen übernehmen und innerhalb von fünf Jahren die größten Unterhaltungsmarken unter ihrem Dach vereinen.
Der digitale Zugang zu den beiden Programmen ist zwar teilweise umstritten (die gebührenfinanzierten Programme sind ohne zusätzliche Monatsbeiträge o.ä. empfangbar, doch müssen die Zuschauer ihr Gerät technisch aufrüsten oder Kunden bei Kabel- oder Satellitendiensten werden, was einmalige bzw. regelmäßige Extrakosten verursacht), doch bringt er zusätzliche Möglichkeiten mit sich, von denen die Interaktivität sicherlich die interessanteste ist: Bei CBBC bietet z.B. die Show „Xchange“ die Möglichkeit, über die Zugangstechnik zum digitalen Programm (sogenannte set-top-Boxen oder alternativ Satellitenanlagen), per e-mail oder auch verstärkt über SMS mit ihrem Programm zu interagieren. Damit liegt die BBC voll im Trend: Alle britischen Kinderprogrammanbieter scheinen etwa zur gleichen Zeit die Vorliebe der Jugendlichen für die Kommunikation per SMS entdeckt zu haben und integrieren allmählich entsprechende Kommunikationsmöglichkeiten in ihre Formate – zur Freude der Zuschauer, die sich auf Anhieb stark beteiligt haben, aber auch zum Unbehagen all derer, die Bedenken wegen der Kosten oder der Strahlenbelastung durch allzu häufigen Gebrauch des Handys hegen . Doch selbst CBeebies will nicht hinter dem Schwestersender zurückstehen und bietet seiner älteren Zielgruppe ebenfalls Interaktionsmöglichkeiten via SMS oder e-mail an, während die Angebote für die Jüngsten über die Fernbedienung auszuführen sind.
Letztere nutzen die beliebtesten Figuren des Programms und beziehen teilweise auch die Eltern mit ein, z.B. zum Vorlesen von Geschichten, über deren Fortgang der Nachwuchs dann per Knopfdruck entscheiden kann – ein pfiffiger Schritt, da ein solches Angebot bei weniger technologiefreundlichen Eltern sicherlich zunächst mit Stirnrunzeln aufgenommen wird… A propos Stirnrunzeln: Es liegt wohl in der Natur der Sache, dass ein so plötzliches Wachstum des Kinderprogrammangebots gegenüber einem Teil der Eltern und Pädagogen der Rechtfertigung bedarf: Auf die Frage, ob denn Kinder dadurch noch zu zusätzlichem Fernsehkonsum ermuntert werden sollen (über die drei Stunden hinaus, die britische Kinder täglich im Schnitt vor dem Fernseher verbringen ) , finden CBBC und CBeebies eine ähnliche Antwort wie der deutsche KI.KA, die in Kürze lautet: Kinder schauen sowieso fern, wenn ihnen der Sinn danach steht, da der von Eltern strikt reglementierte Fernsehkonsum eher selbstbestimmten Sehgewohnheiten gewichen ist. Also sollten sie zumindest auf ein qualitativ hochwertiges Programmangebot zurückgreifen können. Die BBC bemüht sogar den Begriff des „neuen Goldenen Zeitalters“ im Kinderfernsehen .Doch lässt sich die Fragestellung auch durchaus mit Blick auf die Gesamtheit der Zielgruppen- und Spartenkanäle inklusive der kommerziellen Anbieter erweitern: Welche Vorteile bringt die permanente Ausdifferenzierung und Erweiterung des Kinderfernsehmarktes, insbesondere durch die Spartenkanäle? Darauf gibt es mehrere Antworten: Da ist zum einen die Ausweitung der Programmflächen, die Kindern mehr Auswahl bietet.
Während in Großbritannien die täglichen Kinderprogrammflächen der BBC durch die beiden neuen Sender sprunghaft von 5 Stunden in 2 Sendern auf 30 Stunden in 4 Sendern angewachsen sind , ist in Deutschland eine etwas gegenläufige Tendenz zu erkennen: Zwar bietet der KI.KA auch hier tagtäglich eine breite Programmschiene ausschließlich fürs Kinderprogramm, doch ist festzustellen, dass dafür die Kinderprogrammstrecken in den Vollprogrammen bereits seit Jahren allmählich rückläufig sind; es findet also eine schleichende Umschichtung zwischen den Sendern statt. International wird dies auch von den gleichen Produzenten bestätigt, die die gestiegenen Auswahlmöglichkeiten für Kinder loben: Spätestens, wenn die Reichweite der neuen Dienste einen gewissen Prozentsatz übersteigt (manche gehen von einem Schwellenwert von rund 70 Prozent aus), würden sich sowohl die Kinderfernsehproduzenten als auch die Zuschauer ausschließlich den Kinderkanälen zu- und von den Vollprogrammen abwenden, wird prophezeit . Zum anderen bieten die großzügigen Programmflächen jedoch auch mehr Durchsetzungschancen für viele ungewöhnliche oder „riskantere“ Produktionen, da die Sender über die Möglichkeit verfügen, Produktionen zu verschiedenen Tageszeiten zu erproben, bis sie ihr Zielpublikum gefunden haben. Deshalb können die Kinderkanäle bzw. –networks auch Produktionen ausstrahlen, die von den konventionellen Sendern abgelehnt werden, weil sie nicht in ihre Programmstrukturen zu passen scheinen. Z.B. haben die „Pokémons“, mittlerweile einer der größten kommerziellen Erfolge der letzten Jahre, erst dadurch ihren internationalen Durchbruch geschafft .
Zudem kann das Programmangebot insgesamt ebenfalls wie auch die einzelnen Produktionen besser auf spezifische Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe zugeschnitten werden (zurzeit beginnt z.B. gerade eine weitere Ausdifferenzierung des Vorschulprogrammmarktes in die beiden Altersgruppen der 16-Monatigen bis Dreijährigen und der Drei- bis Siebenjährigen, wenngleich Programme für Kinder unter zwei Jahren noch eher sporadisch zu finden sind ). Und nicht zuletzt haben die beiden Sender mit dem „beeb“ (dem Spitznamen der BBC) im Namen die Kinderprogrammabteilung des Senders nach Jahren der Vernachlässigung wieder erstarken lassen: Mit verdoppeltem Budget und rund 90 neuen Mitarbeitern sollen rund 1000 zusätzliche neue Programmstunden produziert werden . Während beispielsweise der deutsche KI.KA sich bei Eigenproduktionen bemüht, nationale Standortförderung zu betreiben, darüber hinaus aber auch ausländische Produktionen ankauft und ausstrahlt, stützt die BBC mit ihrer neu gebündelten Produktions- und Finanzkraft vor allem den inländischen Markt: Aufgrund der starken Regulierung des britischen Fernsehmarktes sind die neuen Sender bereits mit der Maßgabe an den Start gegangen, zu mindestens 90 Prozent (CBeebies) bzw. 70 Prozent (CBBC) britische (oder zumindest europäische) Produktionen auszustrahlen, wobei auch ein recht hoher Anteil von Neuproduktionen festgelegt wurde .
So ging Cbeebies im Frühjahr tatsächlich mit einem rein nationalen Programm ohne jegliche amerikanische Animation an den Start . Im Gegensatz zur Strategie der internationalen Networks, die mehr auf hauseigene Produzenten setzen, bieten die neuen Sender damit auch kleineren und unabhängigen Produzenten zusätzliche Chancen . Gleichzeitig leiten sie aber auch einen neuen Trend zur Exklusivität ein: Die großen Networks verkaufen ihre Produktionen nach der Erstausstrahlung häufig an unterschiedliche Anbieter weiter, um eine möglichst breite Merchandising-Plattform zu erzielen; d.h. über die Monate bzw. Jahre kann die gleiche Serie auf unterschiedlichen Sendern zu sehen sein. Demgegenüber will die BBC alle Rechte an ihren Produktionen behalten, so dass mittelfristig auch ein deutlicheres Programmprofil erkennbar werden wird . Womit ein Stückchen der alten Kinderfernseh-Welt zurückkehrt – dass der Zuschauer an seinen Lieblingsfiguren zuverlässig erkennt, bei welchem Sender er sich gerade befindet…
Eva-Maria Rüdiger: Wer hat Angst vor einer Fünfjährigen?
Kommt sie, oder kommt sie nicht ? Diese Frage beschäftigte vor wenigen Wochen die USA. Die Rede war nicht von einer Politikerin, auch nicht von einem Filmstar, sondern von einem kleinen Mädchen: Landauf, landab erhitzten sich die Gemüter über der Frage, ob es als neue Bewohnerin in die „Sesamstraße“ einziehen darf – denn es ist HIV positiv.Ihr Steckbrief sieht etwa so aus: Alter 5 Jahre, vermutlich Vollwaise, Herkunft Südafrika. Besonderes Kennzeichen: Das Mädchen soll eine Puppe sein, genauer gesagt eine „Monsterpuppe“ wie z.B. Oskar oder das Krümelmonster, Name und Aussehen aber noch unbekannt. Charakter: Heiter, selbstbewusst, agil, gesund anstatt kränklich. Insgesamt kein Charakter, vor dem sich Eltern, Politiker und Fernsehmacher fürchten müssten. Was also war passiert?Bei der 14. Welt-AIDS-Konferenz in Barcelona hatte Joel Schneider, der Vizepräsident des „Sesame-Workshops“, der die amerikanische Muttersendung produziert, bekannt gegeben, dass im Rahmen einer Anfang 2002 begonnenen Kooperation des „Sesame Workshops“ mit dem Center for Communication Programs der Johns Hopkins Universität zur Verbesserung der Gesundheits- und Lebensumstände von Kindern und Familien in Entwicklungsländern sowie in Zusammenarbeit mit dem südafrikanischen Bildungsministerium und USAID die Idee für die Integration der neuen Figur in die südafrikanische Ausgabe der „Sesamstraße“ entwickelt worden sei.
Da Südafrika den weltweit größten Anteil an HIV-Infizierten aufweist, sollte die neue Figur ab 30. September dieses Jahres in der „Takalami Sesame“ genannten Produktion des Senders SABC dazu beitragen, Kinder bereits früh auf den Umgang mit HIV-positiven Mitmenschen vorzubereiten und der vorherrschenden Stigmatisierung entgegenzuwirken. Behandelt werden sollen Fragen des Kinderalltags, wie z.B. das richtige Verhalten bei kleinen Verletzungen, gemeinsames Spielen oder das Teilen von Speisen und Getränken. Über eine spätere Einführung des HIV-positiven Mädchens in anderen nationalen Ausgaben der „Sesame Street“ werde diskutiert . Schneiders Ankündigung wurde zunächst positiv aufgenommen und international in den Medien verbreitet, doch kurz darauf begann ein merkwürdiges Kesseltreiben: Eltern schrieben besorgte Leserbriefe, was nun aus ihrer guten, alten, sauberen Bildungssendung werden solle, und in zahlreichen Fernseh- und Radiotalkshows wurde das Thema ausgiebig und plakativ behandelt. Widersprüchliche Berichte wechselten sich ab, ob mit der neuen Figur auch Themen wie Sexualität, Drogenkonsum und Tod thematisiert werden sollten.
Eine Gruppe von Kongressabgeordneten ließ es sich schließlich nicht nehmen, mittels einer schriftlichen Anfrage den Dingen auf den Grund zu gehen, ihre Besorgnis darüber auszudrücken, dass ein solcher Schritt für amerikanische Zuschauer der Sendung nicht altersangemessen sei, und gleichzeitig nach den finanziellen Aufwendungen des ausstrahlenden, mit öffentlichen Mitteln finanzierten Senders PBS für die „Sesame Street“ im Allgemeinen und die neue Figur im Besonderen zu fragen – nach eigenem Bekunden eine reine Routinefrage... Was folgte, war ein klares Dementi: Gegenüber den Politikern wie auch z.B. in Online-Foren für Eltern ließ der „Sesame Workshop“ wissen, dass die neue Figur ausschließlich für Südafrika entwickelt werde und in keiner der 19 anderen nationalen Versionen eingesetzt werden solle . „Die Story hat sich wohl verselbständigt“, so der lapidare Kommentar des „Sesame-Workshops“-Vizepräsidenten Robert Knezevic . Und auch die Kinderprogrammredaktion des NDR, zuständig für die „Sesamstraße“ als deutschen Ableger der Sendung, gab auf Anfrage bekannt, dass die HIV-positive Figur lediglich als Bestandteil des nationalen Rahmenprogramms der südafrikanischen Sendung zu verstehen sei und nirgendwo sonst eingesetzt werden solle.Also alles nur eine Zeitungsente, verursacht von schlampigen oder sensationsgierigen Redakteuren? – Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, wirft diese Geschichte doch immerhin die Frage auf, warum die bloße Ankündigung einer neuen Facette eines etablierten Bildungsprogramms für solch eine geradezu hysterische Reaktion sorgen konnte. Die Gründe hierfür sind vielschichtig: Einerseits illustriert das Beispiel der „Sesame Street“, dass die HIV / AIDS-Problematik gerade in den wohlhabenden Ländern nach wie vor gerne heruntergespielt wird.
So setzten die besagten amerikanischen Kongressabgeordneten die Erkrankung mit Körperbehinderungen gleich und forderten, diese ebenfalls gleich stark zu thematisieren, um einen reinen Fokus auf HIV zu verhindern (wohl in Unkenntnis der Tatsache, dass die „Sesame Street“ bereits von mehreren körperbehinderten Figuren bewohnt worden war) . Andererseits macht es unterschiedliche (Erwachsenen-)Perspektiven auf Kindheit und die Rolle der Medien für Kinder deutlich. Eine erneute Diskussion, ob Kinderfernsehen in erster Linie unterhaltend oder informativ sein solle, war unvermeidlich. Diesmal wurde sie an die Kritik gekoppelt, dass soziales Lernen wichtig sei und früh beginnen müsse, dass AIDS bzw. HIV jedoch ein so ernsthaftes und bedrückendes Problem darstelle, dass man es Kindern im Alter der „Sesame Street“-Zuschauer noch nicht zumuten könne: „Lasst den Kindern ihre Kindheit, wenigstens für eine Weile“, war die Botschaft von etlichen Politikern, Eltern und Pädagogen. Manche Eltern, die in den Absichten der Produzenten einen Verfall der Werte des Kinderfernsehens zu sehen glaubten, drohten gar in Leserbriefen und Online-Foren, ihren Kindern die einstmals so „wohltuende“ und „gesunde“ Sendung zu verbieten, wenn die HIV-Thematik aufgegriffen werde.
Zur selben Zeit empfahlen die Gegner dieses behütenden Ansatzes gerade Sendungen wie die „Sesame Street“, die bereits auf eine lange pädagogische Tradition zurückblicken kann, zur Vermittlung solch schwieriger Aspekte des sozialen Alltags: Ihre bunten, kindlichen Puppen-Bewohner – aber auch die erwachsenen Figuren – sind emotional ansprechend und können, ohne Angst einzuflößen, zu Vermittlern werden. Häufig zitierten sie dabei eigene, frühere Medienerfahrungen mit der Magazinsendung, die ihnen selbst nicht nur das Lesen und Rechnen, sondern z.B. auch das Miteinander-Teilen nahe gebracht hat. So sprachen sich beispielsweise. bei einer Online-Umfrage der Universität von Toledo immerhin 58 % der Abstimmenden für und 42 % gegen eine Thematisierung von Themen wie HIV / AIDS in Kinderfernsehprogrammen aus . Wieder andere befürworteten den mutigen Ansatz, aber nur dort, wo das AIDS-Problem sehr gravierend ist – also sollten südafrikanische Kinder mit der neuen Mädchenfigur Freundschaft schließen können, die US-amerikanischen Kinder jedoch lieber nicht .Interessant erscheint, dass der unter Druck geratene Sender letzteren Standpunkt zur Lösung des Dilemmas gewählt hat: Wiederum nur wenige Tage nach dem vollständigen Dementi eventueller Absichten zur Einführung der HIV-Problematik in andere nationale Ausgaben der „Sesame Street“ (das wiederum einige Fernsehkritiker erbost hatte ) gab die PBS-Vorsitzende Pat Mitchell bekannt, dass ein späteres Erscheinen der Figur in anderen Ländern nicht völlig ausgeschlossen werden könne: „Falls der Virus zukünftig auch für US-amerikanische Kinder ein größeres Problem darstellen sollte, würde Sesame Street darauf genau so reagieren wie auf andere aktuelle Themen“, wurde Mitchell in der Presse zitiert .Ein interessanter Impuls bleibt die Diskussion allemal, selbst wenn sie aus einer Falschmeldung entstanden sein sollte.
Immerhin hat die „gute alte Tante des Kinderfernsehens“ in den USA bereits eine 33-jährige und in Deutschland eine 29-jährige Geschichte hinter sich gebracht, in der sie zur medialen Speerspitze sehr unterschiedlicher pädagogischer Konzepte gemacht wurde. In der deutschen Version ging es dabei bereits sehr früh nicht nur um kognitive Förderung, sondern auch um soziales Lernen , während in anderen Ländern die dortigen aktuellen Probleme aufgegriffen werden (z.B. in der ägyptischen Variante die Notwendigkeit, Mädchen Bildung zu ermöglichen, oder in Israel und den palästinensischen Gebieten der gegenseitige Respekt zwischen den Bevölkerungsgruppen ). Über die Jahre erhielt die Sendung viel Lob, geriet aber auch immer wieder in die Kritik, ob wegen fehlender oder falscher Identifikationsangebote, der Divergenz zwischen amerikanischen und eigenproduzierten Bestandteilen, oder wegen der zunehmenden Unterhaltungsorientierung. Vor Jahren wurde ihr sogar bescheinigt, „in der pädagogischen Substanz überholt und als mediales Ereignis betulich geworden“ zu sein, so dass sich eine Auseinandersetzung mit ihr kaum lohne . Nach einigen vielversprechenden Änderungen in den letzten Jahren könnte nun auch die südafrikanische Figur für frischen Wind sorgen und die „Sesamstraße“ wieder zum mutigen Spitzenreiter und internationalen Trendsetter im Kinderfernsehen machen. Je reaktionsfreudiger und wandlungsfähiger sie sich dabei zeigt, ohne dabei auf ihre bewährten Traditionen und den eigenen Anspruch zu verzichten, desto weniger verzichtbar wird sie sein – aus Sicht der Erwachsenen, und bei ihren kleinen Zuschauern sowieso.